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IV.1 bSanh 4a: Die Orthographie der Qarnot

IV.1.3  Die Lesarten zu bSanh 4a

Im Verlauf dieser Untersuchung zu den Lesarten der Reihung תונרק-תנרק-תנרק in Lev 4,25–34 ist nun noch der offensichtliche Widerspruch zwischen der Reihung des Beit Hillel תנרק-תנרק-תונרק in den gedruckten Ausgaben des Talmud (Wilna 1880–86) und der von Raschi vorausgesetzten Reihung תונרק-תנרק-תנרק aufzulösen. Die Lösung für dieses Problem ist so einfach wie naheliegend, dass sie bisher nicht in Betracht gezogen wurde. So wie die frühesten Druck-Ausgaben der hebräischen Bibel verschiedenste Bibelhandschriften zugrunde legten und den tradierten Text der asch-kenasischen Tradition zugunsten der vermeintlich besseren orientalischen Manu-skripte veränderten, so wurden auch die gedruckten Talmud-Ausgaben an die jeweils aktuellen gedruckten Ausgaben des hebräischen Bibeltextes angepasst. Bereits die früheste Druck-Ausgabe des Traktats Sanhedrin, die Edition Soncino, Barco 1497, ver-dreht die Phrase des Beit Hillel und liest תנרק-תנרק-תונרק. Diese verkehrte Reihung der Phrase des Beit Hillel setzte sich über die bedeutenden Drucke des Talmud im frühen 16. Jh. (Edition Bomberg, Venedig 1520) in Westeuropa durch. Ganz anders hingegen lasen die Manuskripte der Gemara zu bSanh 4a diese Phrase. Sie bezeugen die alte und für den Kulturraum Aschkenas maßgebliche Reihung: תונרק-תנרק-תנרק in Lev 4,25–34, wie sie von Raschi und dem Respondent im Responsums Salomon ben Adrets vorausgesetzt wird (vgl. u.a. Mss München hebr. 95; Florenz ebr. II-I-9; Vat.

ebr. 120–121). In den neuesten Druck-Ausgaben des babylonischen Talmud, der Edition Steinsaltz (vgl. Massekhet Sanhedrin, Jerusalem 1983), wird nun offensichtlich absichtsvoll die Phrase des Beit Shammai in bSanh 4a von dreifach plene –תונרק תונרק-תונרק zu dreifach defektiv תנרק-תנרק-תנרק umgedeutet, um sie an die tiberien-sische Lesart im masoretischen Text der hebräischen Bibelausgaben in Lev 4,25–34

anzupassen.393 Wie absurd dieses Unterfangen ist, zeigt eine Übersicht, aus der nicht nur die mit Raschi übereinstimmenden handschriftlichen Lesarten hervorgehen, sondern auch die Umkehrung der Reihung und mithin die Manipulation des talmudi-schen Diskurses in bSanh 4a aufgrund der gedruckten Talmud-Ausgaben.

Handschriften Varianten in bSanh 4a

Ms München hebr. 95 ׳עט יאמ ׳וה בר ׳או

בכעל ‘יתשו הוצמל עברא שש ןאכ ירה ‘ונרק ‘ונרק ‘ונרק ש׳׳בד בכעל ‘חאו ‘וצמל שלש עברא ןאכ ירה תונרק תנרק תנרק ה׳׳בו

Ms Florenz ebr. II-I-9 והימעט יאמ אנוה בר ׳מאו

בכעל םיתשו הוצמל עברא שש ןאכ ירה ‘ונרק תונרק תונרק יאמש תיבד בכעל תחאו הוצמל שלש עברא ןאכ ירה תונרק תנרק תנרק לליה תיבו

Ms Yad Rav Herzog1 והימעט יאמ אנוה בר רמאו

בכעל םיתשו הוצמל עברא שש ןאכ ירה תונרק תונרק תונרק יאמש תיבד הוצמל שלש עברא ןאכ ירה תונרק תנרק תנרק והימעט >..<לה תיבו

Ms Vat. ebr. 120–121 ׳עט יאמ אנוה בר ׳מאו

בכעל םיתשו הוצמל עברא שש ןאכ ירה ׳ונרק תונרק תונרק >..< יאמש תיבד בכעל תחאו הוצמל שלש עברא ןאכ ירה תונרק תנרק תנרק לליה תיבו

Drucke Varianten in bSanh 4a

Ed. Soncino, Barco 1497

מעט יאמ אנוה בר ׳מאו בכעל םיתשו הוצמל עברא שש ןאכ ירה תונרק תונרק תונרק יאמש תיבד בכעל תחאו הוצמל שלש עברא ןאכ ירה תנרק תנרק תונרק ‘מוא לליה תיבו Ed. Bomberg,

Venedig 1520

׳מעט יאמ אנוה בר רמאו בכעל םיתשו הוצמל עברא שש ןאכ ירה תונרק תונרק ׳ונרק יאמש תיבד בכעל תחאו הוצמל שלש עברא ןאכ ירה ‘נרק תנרק ‘ונרק ‘רמוא לליה תיבו Ed. Romm,

Vilna 1880–86

ט׳׳מ אנוה בר רמאו בכעל םיתשו הוצמל עברא שש ןאכ ירה תונרק תונרק תונרק ש׳׳בד בכעל תחאו הוצמל ‘ג עברא ןאכ ירה תנרק תנרק תונרק םירמוא ללה תיבו Ed. Steinsaltz,

Jerusalem 1983

אמעט יאמ אנוה בר רמאו .בכעל םיתשו הוצמל עברא שש ןאכ ירה תנרק תנרק תנרק יאמש תיבד בכעל תחאו הוצמל שלש עברא ןאכ ירה תנרק תנרק תונרק םירמוא ללה תיבו

Ganz anders stellt sich die Situation bzgl. der Reihung der Phrase des Beit Hillel:

תנרק-תנרק-תונרק im Traktat bZev 37b in den Handschriften und gedruckten Ausgaben des Talmud dar. Auch hier kam ein Übergang von den Handschriften in die typogra-phische Ära beobachtet werden. Doch anders als in bSanh 4a behalten die Drucke die ursprüngliche Reihung der Talmud-Handschriften (mit Ausnahme von Ms München hebr. 95) entsprechend der Voraussetzung des Raschi-Kommentars. Es ist völlig

393 Vgl. Steinsaltz, Jerusalem 1967–1991.

unklar, wieso der identische Diskurs in Traktat bZev 37b anders als in bSanh 4a abge-druckt wurde. Insbesondere die Edition Steinsaltz (Jerusalem 1983) sticht hier hervor.

Während Steinsaltz in Traktat bZev 37b die Reihung identisch mit der Edition Wilna 1880–86 und entsprechend der rabbinischen Tradition abdruckt, verändert sie in Traktat bSanh 4a den Abschnitt absichtsvoll.

Handschriften Varianten in bZev 37b

Der Befund zu den Reihen der תנרק in bSanh 4a ist eindeutig. Die frühen handschrift-lichen Zeugen des Talmud setzen im Diskurs der Gemara in den Traktaten bSanh 4a und bZev 37b die Reihung der Lemmata תנרק für das Beit Hillel in der Weise voraus, wie sie auch im Raschi-Kommentar und in den aschkenasischen Bibelhandschriften

bezeugt wird: תונרק-תנרק-תנרק, nämlich plene in Lev 4,34. Diese Reihe bezieht sich eindeutig auf die drei תנרק in Lev 4,25–34. Es kann mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass Raschi (wie auch den Autoren der Gemara) das Lemma תונרק im Vers Lev 4,34 in Plene-Schreibung vorlag. Diese ursprüngliche Kon-gruenz der aschkenasischen Lesarten mit der talmudischen Tradition ist mit dem Einsickern orientalischer Handschriften mit tiberiensischer Masora in den europäi-schen Kulturraum nachhaltig zerstört worden. Die defektiven Lesarten der drei תנרק in Lev 4,25–34 in den tiberiensischen Kodizes setzte sich zunächst über die sekundär hinzugefügte Masora, später vollständig in den veränderten Lesarten des Obertextes durch und erzeugte einen Konflikt mit den talmudischen Lesarten im Traktat bSanh 4a und mit dem Raschi-Kommentar. Dieser Widerspruch wurde mit den Druckausga-ben des Talmud verstärkt und durch einen Kommentar in der Ausgabe Romm Wilna bestätigt. Die Autoren der Wilna-Ausgabe 1880–86 ergänzten nun den Traktat bSanh 4a um eine masoretischen Randapparat ס״שהתרוסמ und stellen darin überrascht fest ביתכרסחתנרקהרוסמבםגםינוקיתו׳ישמוחהלכב, dass „in allen Pentateuch-Ausga-ben, in den Tikkunim und in der Masora das תנרק in Lev 4,34 defektiv geschrieben ist“.

In einem weiteren Schritt verändert die die moderne Steinsaltz-Ausgabe des Talmud die dreifach Plene-Schreibung der תונרק in der Phrase des Beit Shammai in dreifach defektiv und passt sie darin an die Orthographie des modernen tiberiensischen MT an. Damit verändern die Herausgeber der Steinsaltz-Ausgabe nicht nur den Sinn der Gemara bezüglich der Halacha der priesterlichen Blutapplikations-Arithmetik, sondern sie geben die ursprünglich rabbinische (Talmud Bavli) und die traditionell aschkenasische (Raschi) Tradition zugunsten der Konsistenz mit dem gedruckten Text der modernen hebräischen Bibel preis. Der einzig stabile Textzeuge in diesem Kulturkampf um die Hegemonie über die Orthographie des Gesetzes ist der Raschi-Kommentar. Seine eindeutige Festlegung auf die Plene-Schreibung der תונרק beim Ḥaṭat des Laien mit Lamm (אלמתונרקםשביתכדיחידהשבכבו) in Lev 4,34 konnte in den Druckausgaben nicht einfach verändert werden, die Reihung der Plene-Schrei-bung in der Phrase des Beit Hillel jedoch schon. Die für den aschkenasischen Kultur-raum sekundäre tiberiensische Masora bildete für die europäischen Textzeugen des Talmud und die Plene-Schreibung der תונרק in Lev 4 nicht als ‚textstabilisierendes Element‘, denn zunächst destabilisierte sie die lokale Texttradition, sondern wurde den aschkenasischen Kodizes im Laufe des 12. und 13. Jh.s sekundär hinzugefügt, deren Lesarten des Obertextes sie in vielen Fällen offensichtlich widersprach. Mit zunehmender Kontamination der Handschriften wurde die Plene-Schreibung der תונרק in Lev 4 in den europäischen Bibel-Kodizes an die orientalische Tradition ange-passt und zuletzt die Zitation der biblischen Lesarten in der Gemara modifiziert (Steinsaltz).