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Die Aussage, dass Kinder mit Förderbedarf im Lernen, die inklusiv geschult werden, ein nied-rigeres Selbstkonzept aufweisen als vergleichbare Lernende einer Förderschule, stimmt nach-denklich (vgl. Häsel-Weide et al., 2017, S. 13). In dieser Arbeit sind im Unterkapitel 5.4, S. 53, weitere Forschungsresultate erwähnt, die eine Sekundärsymptomatik beleuchten. Schneider et al. (2016, S. 240) nehmen sogar an, dass die Ausbildung einer Sekundärsymptomatik für das ungünstigere Abschneiden der Interventionsprogramme im Schulalter verantwortlich sind.

Dies im Gegensatz zu den besseren Ergebnissen der Interventionsprogramme in Mathematik im Kindergartenalter. All dies verdeutlicht den hohen Stellenwert einer präventiven Arbeit, da-mit sich eine Sekundärsymptomatik möglichst wenig oder gar nicht ausbildet. Entsprechend soll die Sekundärsymptomatik vertieft thematisiert werden. Einerseits wird die Möglichkeit ei-nes Aufbaus einer Fehlerkultur in Kombination mit und ohne Notengebung diskutiert, anderer-seits soll das Zutrauen in die Fähigkeiten der Kinder mit Förderbedarf in Mathematik beleuchtet werden.

Aufbau einer Fehlerkultur

Eine Möglichkeit, der Sekundärsymptomatik präventiv zu begegnen, besteht im Aufbau einer Fehlerkultur (siehe auch Unterkapitel 4.5.2, S. 45). Besonders in den Texten von Boaler (2016) wird diesem Aufbau eine zentrale Bedeutung eingeräumt. Für die Kinder mit Lernschwierigkei-ten in Mathematik ist eine solche Kultur besonders wichtig. Denn werden Fehler positiv bewer-tet, gibt es keinen Grund, sich wegen Fehlern zu schämen oder sich ‹abzuwerten› und sein Selbstkonzept wegen Fehlern in Frage zu stellen.

Doch so einfach scheint dieser Weg nicht zu sein. Was im Aufbau einer Fehlerkultur in den Texten des deutschsprachigen Raums nicht thematisiert ist, ist die Notengebung. Denn

spätestens mit der nächsten Prüfung werden dann Fehler mit schlechten Noten ‹bestraft›.

Dann sind die Fehler plötzlich wieder negativ bewertet. Jeder einzelne birgt dann erneut die Gefahr in sich, das Selbstkonzept in Mathematik abzuwerten. Zudem wird dann die positive Bewertung der Fehler im Aufbau der Fehlerkultur hinterfragt. Einmal sind Fehler positiv, dann negativ? Welche Folgen hat eine solch inkonstante Bewertung von Fehlern? Kann der Aufbau einer Fehlerkultur nebst Noten überhaupt glaubwürdig sein? Für die Praxis scheint es wichtig zu sein, die Wirkung von Notengebungen und Tests zu reflektieren.

Mir sind Kinder begegnet, die mir in Förderlektionen nach dem Erhalt von Mathetests gesagt haben: ‹Ich bin halt dumm, ich kann nicht rechnen!›. Welch Selbstkonzepte von Kindern in so jungen Jahren! Inwiefern haben solche Kinder schon ein einengendes, negatives Selbstkon-zept in Mathematik aufgebaut, das Hoffnungslosigkeit auf Verbesserung ausdrückt? Inwiefern können auf dieser Grundlage des Selbstkonzeptes in Mathematik Interventionsprogramme po-sitive Veränderungen mit sich bringen? Beobachtungen aus der Praxis lassen die Annahme von Schneider et al. (2016, S. 240) nachvollziehen, die die Ausbildung einer Sekundärsymp-tomatik für das ungünstigere Abschneiden der Interventionsprogramme im Schulalter verant-wortlich machen.

Im Alltag stützen die Aussagen von Kindern, die sagen, dass sie dumm sind, einen Zusam-menhang zwischen ‹schlechten› Noten und Selbstkonzept in Mathematik. Die Attributionsthe-orie von Weiner kann einen Zusammenhang herleiten (Edelmann, 2000, S. 242). Werden nach Weiner Misserfolge internal begründet, das heisst, die eigene Fähigkeit wird für schlechte No-ten verantwortlich gemacht, ist dies stark motivationshemmend. Dies, weil die Fähigkeit als stabil erlebt wird. Wenn Noten unbefriedigend ausfallen, haben diese nichts Konstruktives an sich. Aus diesen Informationen kann das Kind nicht erkennen, was es für ein erfolgreiches Lernen noch braucht. Ein Lernen aus diesen Fehlern findet so nicht statt.

So kommt es, dass Boaler (2016, S. 147) eine Schule ohne Noten befürwortet. Sie schreibt, dass die Heranwachsenden nichts mit den Noten anfangen können ausser dem Vergleichen dieser mit denen von anderen. Dieses Feedback demotiviert die Schülerinnen und Schüler mehr, als dass es sie motiviert, sodass künftig eher schlechtere Leistungen folgen. Denn die Heranwachsenden ziehen aus den Noten Informationen, wer sie als Person sind. Sie identifi-zieren sich mit Noten. Somit beschränkt sich die Information nicht nur auf die Leistung (ebd.).

Boaler (2016, S. 149) will statt Noten Feedback für die Lernenden, das aufzeigt, wo das Kind im Lernprozess steht, wie die nächsten Schritte im Lernprozess konkret aussehen. Das Kind übernimmt dabei die Verantwortung für das Lernen. Werden jedoch Noten nicht abgeschafft, sondern einfach mit einer Rückmeldung ergänzt, wo sich das Kind im Lernprozess befindet und was es noch lernen soll, konzentrieren sich die Kinder ausschliesslich auf die Noten. Erst wenn die Noten ganz verschwinden und durch eine diagnostische Rückmeldung ersetzt wer-den, zeigt dies positive Auswirkungen. Boaler (ebd.) verweist auf Studien aus den USA, die aufzeigen, dass Klassen, die detaillierte, konstruktivere Leistungsrückmeldungen bekommen, leistungsstärker sind als solche mit Notengebung.

Als entlastend wird die Arbeit an individuellen Lernzielen in meinem Arbeitsalltag erlebt. Ein Bezug auf individuelle Fortschritte und individuelle Zielerreichung wird möglich. Dies ermög-licht ein Erleben von Erfolgen. Die subjektiv eingeschätzte Hoffnung auf Erfolg kann sich ent-sprechend vergrössern (vgl. Edelmann, 2000, S. 254).

Dies, auch wenn eine ‹Stigmatisierung› der Kinder mit individuellen Lernzielen in der Klasse leicht mitschwingt. Stigma wird in Anlehnung an Goffman (1975, S. 13) verwendet. Er bezeich-net damit Personen, die unerwünscht anders sind, als wir es antizipieren. Diese Stigmatisie-rung könnte stattfinden, weil individuelle Lernziele ohne Notengebung eine Sonderbehandlung mit einer Sonderstellung des Kindes innerhalb der Klasse beinhaltet. Denn die leistungsstär-keren Kinder der Klasse bekommen Noten. Das Resultat, dass Kinder mit Förderbedarf deut-lich häufiger zu den abgelehnten Kindern oder unbeliebten Kindern in der Klasse zählen, ver-weist auf einen möglichen Zusammenhang (Häsel-Weide et al., 2017, S. 14).

Somit sollen alle Kinder ausschliesslich individuelle Lernziele erhalten? Dies entspricht einem Denken, wie Kinder weniger Sekundärsymptomatik entwickeln könnten. Nicht nur die Kinder, die einen ausgewiesenen Förderbedarf in Mathematik haben, hätten dann individuelle Lern-ziele, sondern alle Kinder. Somit würden sich alle Kinder darauf konzentrieren, persönliche Fortschritte zu erreichen und ein demotivierender sozialer Vergleich wäre weniger stark als mit einer Notengebung.

Offen ist, ob diese Praxis ohne Noten, die in den USA teilweise vielversprechend umgesetzt ist (Boaler, 2016, S. 149), auch Einflüsse hat auf unseren Alltag. Der Fachbereichslehrplan Mathematik begründet die Selektion mit Leistungsmessungen in Mathematik, weil diese prä-zise erscheinen (D-EDK, 2016, S. 1). Eine vorrangige Rolle spielen dabei empirische Unter-suchungen und Standardtests (ebd.). Zudem schreibt das D-EDK (2013): «Dabei tritt der An-spruch, in Tests erfolgreich abzuschneiden, immer wieder in Konkurrenz zu verständnisorien-tiertem Lernen» (S. 2). Daraus ist zu schliessen, dass unterschiedliche Interessen registriert sind. Deren Bedeutung für die künftige Praxis bleibt jedoch offen.

Fazit für die Praxis: Bei der Umsetzung einer Fehlerkultur in den Schulklassen sind die Aus-wirkungen auf das Selbstkonzept bei negativen Rückmeldungen aus Noten mitzudenken.

Meine Erfahrung aus der Praxis legt nahe, dass diese viel Aufbauarbeit einer Fehlerkultur in kurzer Zeit zerstören können. Erlebe ich die Kinder nach Erhalt von «ungenügenden» Noten doch sehr bedrückt.

Auswirkungen von mangelndem Zutrauen in die Fähigkeiten von Kindern mit Förder-bedarf

Während bisher vertieft wurde, inwiefern das Selbstkonzept von schriftlichen Rückmeldungen beeinflusst ist, soll an dieser Stelle die Möglichkeit angeschaut werden, inwiefern sich das Zutrauen von Fortschritten der Lehrpersonen auf ein Selbstkonzept der Kinder mit Förderbe-darf auswirken könnte. Diese Idee wird verfolgt, weil Situationen aus dem Alltag einen mögli-chen Zusammenhang nachvollziehen lassen. Natürlich betrifft dies nicht nur die Sichtweise, was die Lehrperson dem Kind zutraut, sondern auch die Sichtweise anderer wichtiger Bezugs-personen wie die Eltern. Jedenfalls ist mir aufgefallen, dass Kindern mit Förderbedarf von El-tern und von Lehrpersonen oftmals «wenig» Fortschritte zugetraut werden.

Häsel-Weide et al. (2017, S. 22) schreiben entsprechend, dass den Kindern mit Lernschwie-rigkeiten in bedenkenswerter Form geholfen wird. Dies auch von Lehrpersonen, die andere Kinder in der Eigentätigkeit fördern (Häsel-Weide et al., 2017, S. 21). Erwähnt ist, dass zu viel geholfen wird und Anforderungen eher vermieden werden (Häsel-Weide et al., 2017, S. 22).

Lernschwächeren Kindern wird unterstellt, dass sie ein aktiv-entdeckendes Lernen überfordert und dass sie vorbestimmte Lernhilfen benötigen. Häsel-Weide et al. (ebd.) erwähnen, dass dies negative Konsequenzen mit sich bringt.

Scherer und Moser Opitz (2012, S. 53) schreiben, dass Kindern mit Lernschwierigkeiten ein kleinschrittiges Vorgehen auferlegt wird und sie feste, vorgegebene Lösungswege anwenden müssen. Ein solches Vorgehen soll aufgrund der Erkenntnisse aus Unterkapitel 4.2.1, S. 29, kurz reflektiert werden. Anhand der häufig auftretenden Auffälligkeiten im Arbeitsspeicher ist für Kinder das Speichern von abstrakten Lernwegen besonders herausfordernd. Dies, weil es auf einer «Schwäche» aufbaut. Um fixe Lösungswege auswendig anzuwenden, braucht das Kind genau diese «Schwachstelle». Ohne Vernetzungsmöglichkeiten mit Verstandenem wden diese Kinder somit «überfordert». Werwden darum Aufgaben nicht erwartungsgemäss er-füllt, bestätigt dies die Sichtweise der Lehrperson über die Fähigkeiten des Kindes in Mathe-matik. Die Wahrscheinlichkeit wird erhöht, die Lösungswege noch kleinschrittiger vorzugeben.

Dies aus dem Bedürfnis, noch mehr zu «helfen». Ein Teufelskreis kann sich dadurch ergeben, weil Verhalten verstärkt wird, das erneut zu negativen Ergebnissen führt. Das Zutrauen in die Fähigkeiten des Kindes wird noch kleiner. Das Kind erhält weitere negative Rückmeldungen, die auf sein Selbstkonzept hinsichtlich seiner mathematischen Fähigkeiten einwirken. Doch angenommen, das Kind kann diese ganz einfachen Aufgaben mit Hilfestellung lösen. Welche Möglichkeit bietet diese Ausgangslage, dass das Kind Stolz auf seine Leistungen erleben

kann? Wie kann so der Selbstwert, der oft bei Kindern mit Förderbedarf tiefer liegt als bei andern, aufgebaut werden?

Möglichkeiten zu schaffen, damit speziell Kinder mit Förderbedarf, Stolz erleben können, ist aus der Sicht der Theorie und meiner Erfahrung aus der Praxis von zentraler Wichtigkeit. Das Erleben von Stolz bekommt eine Schlüsselfunktion. Dies, weil die Motivation damit verknüpft ist. Edelmann (2000, S. 253) schreibt, dass ob eine Person eine Leistung in Angriff nimmt oder ihr aus dem Wege geht, abhängig ist von der Stärke von «Hoffnung auf Erfolg», mit dem nach-folgenden Gefühl des Stolzes.

Weil einige Hinweise zusammengekommen sind, die aufzeigen, dass sich Selbstkonzepte in Mathematik direkt auf die Leistungen in Mathematik auswirken können, passen Boalers (2016, S. 35) Gedanken, um dieses Unterkapitel abzurunden. Sie (ebd.) schreibt, wie wichtig es ist, dass Fehler wertgeschätzt werden, weil dadurch unser Gehirn wächst. Dieses Resultat sei hoch signifikant (ebd.). Somit bestätigt uns dies nochmals, wie wichtig es ist, dass alle Schü-lerinnen und Schüler an sich selbst glauben – und wie wichtig es für uns alle ist – an uns zu glauben. Dies besonders, wenn wir uns Herausforderungen stellen (ebd.).

If we believe that we can learn, and that mistakes are valuable, our brains grow to a greater extent when we make a mistake. This result is highly significant, telling us again how important it is that all students believe in themselves—and how important it is for all of us to believe in ourselves, particularly when we approach something challenging.

(Boaler, 2016, S. 35)

Fazit für die Praxis: Da Kinder mit Lernschwierigkeiten über ein tieferes Selbstkonzept verfü-gen als andere, leitet dies besondere Bedürfnisse in diesem Bereich ab. Besonders Kinder mit Förderbedarf brauchen Zutrauen in ihre Fähigkeiten. (Inwiefern dieser Förderbedarf aus einem Mangel an Zutrauen aus ihrem Umfeld entstanden ist, bleibt an dieser Stelle offen). Dabei geht es darum, Kindern mit Lernschwierigkeiten in Mathematik Aufgabenstellungen anzubieten, bei denen sie Zusammenhänge nutzen können, Entdeckungen machen können, eigene Lösungs-wege finden können. Eine Lernbegleitung ist dabei wichtig, die dem Kind ein Maximum an eigenständigem Lernen ermöglicht und zutraut. Zusammengefasst geht es darum, Situationen zu schaffen, in denen Kinder Stolz erleben können, um sich motiviert neue Wege im Rechnen zuzutrauen.

Den Kindern Zutrauen in ihre Kompetenzen zu schenken, eine Fehlerkultur in der Klasse und ressourcenorientierte Lernwege anbieten, könnten die Schlüssel dazu sein, dass weniger Se-kundärsymptome ausgebildet werden.

Fazit für die Forschung: Wenige Forschungsresultate weisen auf einen möglicherweise sehr hohen Einfluss von Sekundärsymptomen auf den Erfolg von Fördermassnahmen hin. Hier be-steht Bedarf, mehr Klarheit zu schaffen. Es geht darum, nicht nur Fördermassnahmen im en-geren Sinn anhand von geeigneten Übungen zusammenzustellen, sondern um die Gestaltung eines Rahmens, der in den Texten wenig thematisiert wurde.

Beispiele von offenen Fragen: Inwiefern bedürfen Kinder mit Lernschwierigkeiten einer Förderung, die sie dabei unterstützt, ihr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten auf- und auszu-bauen? Inwiefern verändert sich das Selbstkonzept der Kinder mit Förderbedarf, wenn ihre Lehrpersonen ihnen etwas zutrauen? Inwiefern erleben die Kinder mit Förderbedarf eine Fehlerkultur in der Klasse nebst einer Notengebung als ‹echt› (Fehler werden in Tests nega-tiv bewertet)?