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Politisierung und struktureller Wandel: Ölkrise,

Die Kernkraft war nach der Atomeuphorie Mitte der 1950er-Jahre äußerst zöger-lich in westzöger-lichen Energieversorgungssystemen angekommen. Einerseits sträub-ten sich Energieversorger und Finanziers, das Risiko großer Demonstrations-anlagen zu tragen, während es weder in Wirtschaft noch in Politik übermäßigen Problemdruck in der Energieversorgung gab. Einen unmittelbar drängenden Grund zur riskanten Einführung neuer Kraftwerkstypen gab es nicht. Das RWE hatte seit den 1950er-Jahren die Braunkohleförderung ausgebaut und kaufte sich Ende der 1960er-Jahre in die Ölindustrie ein (Radkau 2008: 470). Der Energiemix der Bundesrepublik verschob sich allgemein von der Steinkohle auf einen zunehmenden Anteil an Mineralöl (insbesondere in der Industrie in

Süd-SERI-Bibliografie zum sanften Pfad bei James M. Ohi et al., 1980: Decentralized Energy Studies:

Bibliography. RR-744-448. Golden, CO: Solar Energy Research Institute.

43 Mit einem weitgehend ähnlichen Argument versucht Walter Isaacson, die Entstehung des technischen Leitbilds des Personal Computers historisch nachzuzeichnen. In einer Zeit, in der Computer Großrechenanlagen in Firmen, Universitäten und Militäreinrichtungen, Mainframes, waren – und auch wenige einen Sinn darin sahen, dies zu ändern –, schöpfte das Milieu, das die ersten Entwürfe persönlicher Kleincomputer hervorbrachte, seine Motivation aus eben jenen gesellschaftskritischen Anstößen, die Lovins antrieben. Der PC wird in diesen Milieus zum Leitbild einer technikzentrischen Spielart progressiv-libertärer Gesellschaftsreform. Siehe Walter Isaacson, 2013: The Culture that Gave Birth to the Personal Computer. Prereleased Book Chapter. https://medium.com/medium-long/e50f65132b55. Diese technizistisch-jeffersoni-schen Leitbilder haben sich nach der Kommerzialisierung des PCs – abseits noch immer ver-breiteter libertärer Rhetorik aus dem Silicon Valley – vor allem in der Open-Source-Bewegung erhalten. Vgl. exemplarisch die Geschichte des Debian-Projekts von Coleman (2013).

deutschland, im Heizungsbereich und durch die Motorisierung) und über die 1960er-Jahre an Erdgas. Auch in den USA, Japan und der Mehrzahl von Indus-trieländern setzte sich bis zum ersten Ölpreisschock eine schon in den 1950er-Jahren angelaufene langsame relative Substitutionsbewegung von der Kohle hin zu Gas und Mineralöl fort (siehe Abbildungen 4-2 bis 4-4; Yergin 1991: 544).

Ferner verblieb man in den USA bis in das Jahr 1973 bei dem schon unter Eisen-hower verfestigten reaktiven Politikstil in der Energiepolitik. Konflikte vor der ersten Ölkrise, und im Fall der Administrationen Nixons und Fords darüber hi-naus, drehten sich um Abwägungen zwischen Marktkräften und regulatorischen Eingriffen im Energiesektor, um Fragen der Organisation der Energieforschung und um den alten Zielkonflikt zwischen wirtschaftspolitisch erwünschten nied-rigen Preisen importierten Öls und sicherheits-, regional- und strukturpolitisch erwünschten »fairen Preis- und Importniveaus«, die die weitere Rohstoffförde-rung in den USA motivieren sollten (De Marchi 1981a: 398–409, 413–416).

Nixon und seine wissenschaftlichen Berater hatten zwar schon um das Jahr 1971

Anteil in Prozent

Quelle: Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen.

Abbildung 4-2 Prozentuale jährliche Anteile verschiedener Energieträger am Primärenergieverbrauch in Deutschland, 1950–1990

Mineralöl Steinkohle

Wasserkraft Braunkohle

Kernenergie Erdgas

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1950 1952 1954 1956 1958 1960 1962 1964 1966 1968 1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 0

angedacht, die Grundlagen einer zukunftsgerichteten Energiepolitik zu formu-lieren. Nixon sprach etwa 1971 vor dem Kongress über Energie und betonte die mittelfristige Bedeutung der Kernkraft und der Erforschung synthetischer Kraftstoffe,44 ohne den entsprechenden Problemdruck verliefen diese Initiativen jedoch im Sand (ebd.: 411).45 In den meisten Hinsichten bis in das Jahr 1973 – und in vielen Hinsichten darüber hinaus – misslang das zögerliche

44 Bei der synthetischen Kraftstoffforschung geht es um verschiedene Techniken, zumeist um aus Kohle Flüssigkraftstoffe herzustellen. Politiker von Matthöfer bis Carter haben für diese Verfahren Unsummen ausgegeben, weil sie nach den Ölkrisen Treibstoff unabhängigkeit und Konjunkturprogramme für die jeweilige heimische Kohleindustrie bedeuteten.

45 Einen sehr guten Hintergrund zur langsamen Entdeckung der Energieproblematik in der Re-gierung seit 1969, inklusive der Kritik an den Importquoten, der Problematisierung nationaler Energiesicherheit und der inkrementellen Verfestigung der Diagnose der »Energiekrise«, gibt die Quellensammlung: US Department of State, 2011: Foreign Relations of the United States, 1969–1976, Vol. XXXVI, Energy Crisis, 1969–1974. Washington, DC.

Abbildung 4-3 Prozentuale jährliche Anteile verschiedener Energieträger am Primärenergieverbrauch in den USA, 1950–1990

Anteil in Prozent

Quelle: US Energy Information Administration.

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1950 1952 1954 1956 1958 1962 1964 1966 1968 1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 Erdgas

Kohle Mineralöl

Wasserkraft

1960

Kernenergie

nische state building im Energiesektor schon in der Planungsphase (siehe auch Ikenberry 1988b).

Andererseits entstand um die Nutzung der Kerntechnik zur Energieversor-gung zu Beginn der 1960er-Jahre eine Situation wie später wiederkehrend um die Photovoltaik: In der Erwartung, dass kleine Reaktoren in einer natürlichen technischen Evolution von großen und Brutreaktoren abgelöst werden würden, hielten sich große Versorger zurück, überstürzt in die technische »Generation«

zu investieren, die schon verfügbar war (Radkau 1983: 70, 115–123). Ein ernst-hafter Aufschwung in der Errichtung privatwirtschaftlich betriebener Kernreak-toren begann in den USA zaghaft in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre und in Deutschland erst gegen Ende des Jahrzehnts, mit beschleunigter Planung und erhöhten Investitionen in beiden Ländern in den frühen 1970er-Jahren. Die Zuspitzung der Energiekrise seit Oktober 1973, dem Beginn der ersten Ölkrise, hatte die politischen und ökonomischen Grundlagen der Energieregime der Nachkriegszeit grundlegend verschoben.

Abbildung 4-4 Prozentuale jährliche Anteile verschiedener Energieträger am Primärenergieverbrauch in Japan, 1953–1990

Quelle: Statistics Bureau, Ministry of Internal Affairs and Communications, Japan.

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Wasserkraft Erdgas

Mineralöl

Kohle

Kernenergie

1953 1955 1957 1959 1961 1963 1965 1967 1969 1971 1973 1975 1977 1979 1981 1983 1985 1987 1989 Anteil in Prozent

Die Energiekrisen der 1970er-Jahre kamen nicht unvermittelt. Alle Anzei-chen für schwerere Verwerfungen wurden allerdings vor der tatsächlich eintre-tenden Ölkrise 1973 und 1974 beiseitegeschoben. Die Ölindustrie hatte ihre eigenen zyklisch auftauchenden Ressourcendebatten, die schon kurz nach dem Ersten Weltkrieg wieder aufflammten. Mitte der 1950er-Jahre stieß ein Papier des Shell-Geologen King Hubbert die Sorge vor den Konsequenzen der Ver-langsamung neuer Ölfunde auf ein Neues an. Hubbert leitete sein Papier mit einer anschaulichen Analogie ein, die das Problem der seit der Nutzung fossiler Rohstoffe immer wieder auftauchenden Peak-Production-Debatten klarmacht:

The evolution of our knowledge of petroleum since Colonel Drake’s discovery of oil in Titus-ville, Pennsylvania, nearly a century ago, resembles in many striking respects the evolution of knowledge of world geography which occurred during the century following Columbus’

discovery of America. During that period several continents, a number of large islands, and numerous smaller islands were discovered, but how many more might there be?46

Hubbert schätzte Kurven, die abbilden sollten, ab wann damit zu rechnen sei, dass Brennstofffunde sich verlangsamen würden. Sein Ausblick klang angesichts der Zahlen im Ganzen verhalten optimistisch. Hubbert stellte sich die Entwick-lung vorherrschender Energieträger als einen wellenförmigen Prozess vor: Die Abnahme im Mineralölkonsum würde langsam von der Zunahme der Kern-kraftnutzung aufgefangen, wie zuvor der Mineralölkonsum die Kohlenutzung verdrängt hatte. Auch die Produktion von Kohle könnte nach Hubberts Berech-nungen bis weit ins 22. Jahrhundert zunehmen. Die Ölproduktion, so berech-nete er, müsste sich aber schon in den nächsten zwanzig bis fünfzig Jahren ver-langsamen – und zwar in sehr naher Zukunft in den klassischen amerikanischen Fördergebieten. »[Even] if we are less than half through in our exploration for petroleum, the period of declining rates of discovery has almost arrived«, fasste er seine Ergebnisse zusammen.47 Hubberts Papier verursachte einige Turbulen-zen in der Ölindustrie. Ölkonzerne, Verbände und industrienahe Forschungs-institute replizierten seine Studien, schulten ihre Managementabteilungen und diskutierten mögliche Diversifikationsstrategien. Auf der anderen Seite stießen

46 M. King Hubbert, 1956: Nuclear Energy and the Fossil Fuels. Research Publication 95. Houston, TX: Shell Development Company. Exploration und Production Research Division, hier: 1.

47 Ebd.: 23. Seit Hubberts Papier wird bis heute versucht, peak oil zu berechnen. Diese Voraussa-gen haben zwei wesentliche Probleme. Erstens unterlieVoraussa-gen sie fundamentaler Unsicherheit über zukünftiges geologisches Wissen, tatsächliche geologische Gegebenheiten und technologische Entwicklungen. Zweitens reagiert die Förderindustrie auf die jeweiligen Vorhersagen nicht sel-ten mit der Veröffentlichung neuer Funde. Siehe etwa Hubberts scherzhafte Bemerkung, dass sein Papier effektiver als jede neue Fördertechnologie darin war, Ölfunde zu beschleunigen:

Ronald Doel, 1989: Interview with Dr. M. King Hubbert, Bethesda, MD, January 27, 1989.

Transkript. College Park MD: Niels Bohr Library und Archives with the Center for History of Physics, American Institute of Physics, Session 7.

Hubberts konkrete Voraussagen auf eine Welle kritischer Stimmen und Anfein-dungen, vor allem aus der amerikanischen Ölindustrie und dem National Geo-logical Survey.

Zusätzlich zur langsam aufgekommenen Peak-Oil-Debatte bot die zweite Hälfte der 1960er-Jahre den Industriestaaten erneut Anschauungsmaterial dafür, dass ihre seit den 1950er-Jahren aufgebaute weitreichende Abhängigkeit von Ölimporten sie verletzlich für politische Krisen und Verwerfungen in Weltmärk-ten gemacht hatte. Während des Sechstagekrieges testeWeltmärk-ten die ölexportierenden Länder des Mittleren Ostens zum ersten Mal praktisch, inwieweit sie die oft sogenannte »Ölwaffe« in ihren Auseinandersetzungen mit Israel einsetzen konn-ten (vgl. zur Einordnung Hohensee 1996: Kap. 1.1). Am 8. Juni, dem Tag, an dem die ägyptischen Streitkräfte an Israels Grenze schon weitgehend geschlagen waren, erließen Algerien, der Irak, Kuwait, Lybien und Saudi Arabien ein Ölem-bargo gegen die Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien und die USA.

Wie schon während der Suez-Krise geschehen, organisierten allen voran die USA konsortienartige Zusammenschlüsse großer Ölkonzerne, um Transportstruktu-ren kurzfristig umzuarbeiten und die Förderung amerikanischen Öls hochzu-fahren, wiederum mit dem vorrangigen Ziel, die Ölversorgung Westeuropas zu sichern (Yergin 1991: 556–557). Das Embargo hielt formell für drei Monate.

Statt allerdings ein Anstoß zur Besorgnis zu sein, erwies es sich als tendenziell be-schwichtigend. Falls das Embargo von 1967 tatsächlich einen Test der Ölwaffe darstellte, war der gescheitert. Die arabischen Länder erhöhten ihre Fördermen-gen noch während des Embargos, erlaFördermen-gen den üblichen kollektiven Handlungs-problemen mangelhaft integrierter Kartelle und wiederholten das Schicksal etli-cher vorangegangener Versuche der Kartellbildung unter rohstoffexportierenden Entwicklungsländern (siehe Krasner 1974; Spar 1994). Die konzertierte Neuor-ganisation von Lieferwegen schien zwar einige Zeit Krisenwahrnehmungen zu befeuern, funktionierte jedoch relativ gut, und schon nach drei Monaten waren die arabischen Exporteure derart ernüchtert, dass sie ihr Interesse wieder darin sahen, die Lieferbeschränkungen aufzuheben. Schon Ende 1967 sprach man in der Ölindustrie wieder vom altbekannten Überkapazitätsproblem anstatt von Engpässen (Yergin 1991: 558). Noch im April 1973 berichtete Akins, ein früher, aber weitgehend vereinzelter Warner vor einer politisch bedingten Ölkrise in der Administration Nixons, über die Sorge, die arabischen Regierungen könn-ten ihre zahllosen Drohungen, die Ölwaffe erneut einzusetzen, tatsächlich wahr machen: »[T]he common response among Americans has been: ›They need us as much as we need them‹; or ›They can’t drink the oil‹; or ›Boycotts never work‹.«48

48 James E. Akins, 1973: The Oil Crisis: This Time the Wolf Is Here. In: Foreign Affairs 51(3), 462–490, hier: 467.

Derartige beschwichtigende Stimmen hatten mehrere schleichende Entwick-lungen seit dem Jahr 1967 unterschätzt, die beide Randbedingungen der Wir-kungslosigkeit früherer Embargos ausräumten: den lückenhaften Zusammen-halt im kollektiven Handeln ölfördernder Länder und die Möglichkeiten westlicher Versorgungssysteme, unerwartete Einschnitte in Öllieferungen aus dem Nahen Osten abzufedern. Die ölexportierenden Länder hatten über die Jahre zunehmend gelernt, sich in Preis- und Steuerverhandlungen gegen Ölkon-zerne durchzusetzen – und oft bedeutete dies, Wege zu finden, OECD-Regie-rungen und westliche Ölkonzerne in Verhandlungen auseinanderzudividieren.

Akins erinnerte in seiner Warnschrift an eine paradigmatische Wende in der po-litischen Ökonomie arabischen Öls nach der Machtergreifung Muammar al-Gaddafis in Libyen. Anfang 1970 hatte die libysche Regierung, deren Vorgänger im Amt 1967 noch unter den wesentlichen »Embargobrechern« waren, Engpäs-se im Transportsystem arabischen Öls für die DurchEngpäs-setzung von Steuererhöhun-gen für Ölkonzerne zu nutzen versucht. »After an arduous round of discussions«, fasste Akins das überraschende Resultat zusammen, »the international compa-nies operating in Libya yielded one by one.«49 Was sich im Vergleich zu vorheri-gen Verhandlunvorheri-gen verändert hatte – und was in den folvorheri-genden Jahren immer wieder zum Vorschein kommen würde –, war, dass die libysche Regierung den Ölkonzernen glaubhaft androhen konnte, dass sich europäische Nachfrager eher auf direkte Versorgungsbeziehungen einlassen würden, als einen temporären Einbruch in die arabischen Lieferungen zu riskieren. OECD-Staaten waren während der 1960er-Jahre zu einem solchen Grad von kontinuierlichen nahöst-lichen Öllieferungen abhängig geworden, dass sich die koalitionären Stützen des über Jahrzehnte eingespielten Käufermarktes, richtiger wäre: semi-kolonialen Öl-regimes, aufzulösen begannen (vgl. ebd.: 577–580, 606). Dasselbe galt für seine ökonomischen Randbedingungen. In früheren Konfliktsituationen zwischen arabischen Förderländern, Ölkonzernen und OECD-Staaten waren gravierende Preissteigerungen einerseits ausgeblieben, weil der Markt – offensichtlich – nicht unter Aufwärtspreisdruck stand. Wenn es einen längerfristig säkularen Druck auf Mineralölpreise gab, wies der seit den späten 1950er-Jahren real nach unten.

Das machte es sowohl für ölfördernde Länder, die wie typischerweise Landwirte eher Umsätze konstant hielten, als Profite zu maximieren, schmerzhaft, Export-beschränkungen konzertiert durchzuhalten als auch verhältnismäßig wenig be-drohlich für Konsumenten, kurzfristige Mengenbeschränkungen auszusitzen.

Seit dem Jahr 1969 zeigten sich jedoch verstärkt Anzeichen, dass die Epoche real fallender Mineralölpreise sich ihrem Ende zuneigte, eine Talsohle unterschritten wurde. Seit 1969 hatten sich Probleme in der Ölversorgung wiederholt auf

49 Ebd.: 467.

kundenpreise durchgeschlagen. Verstärkt seit 1970 gab es in der Bundes republik, Japan und in den USA Diskussionen um Engpässe in der Rohstoffversorgung für die Elektrizitätsproduktion und im Heizungsbereich (De Marchi 1981a: 406;

Yergin 1991: 598–599). Der amerikanische Konsum von Erdgas war seit 1968 ungefähr doppelt so hoch wie die jährlichen Entdeckungen neuer Reserven (De Marchi 1981b: 476). Gleichzeitig zeigte die amerikanische Ölförderung, die über Jahrzehnte als praktische Krisenreserve der OECD-Welt funktioniert hatte, zunehmend Erschöpfung. Die amerikanische Ölförderung erreichte ihren vor-läufigen Höhepunkt mit 11,3 Millionen Barrel im Jahr 1970, die allerdings im Unterschied zu vorherigen Jahren unter Bedingungen stetig anziehender Nach-frage zu großen Teilen inländisch verfeuert wurden (Yergin 1991: 567–568). Auf einem Treffen zwischen Vertretern von Ölkonzernen und OPEC-Vertretern im Oktober 1973, das mit der erzwungenen Steigerung der Ölpreise um 70 Prozent langsam die erste Ölkrise einleiten sollte, wird Yamani, der saudi-arabische Öl-minister, mit den triumphierenden Worten zitiert: »The moment has come. We are masters of our own commodity« (ebd.: 606).

Mit den Embargos in Reaktion auf die US-Unterstützungslieferungen im Zuge des Jom-Kippur-Krieges stellte sich heraus, wie recht man mit dieser Einschätzung hatte. Die arabischen Exportländer verhängten mehrere gezielte Lieferstopps und vereinbarten eine Drosselung der gesamten Ölexportmenge (anfänglich formell um 25 Prozent). Und diesmal schienen sie sich entgegen ökonomischen Theorien der natürlichen Instabilität von Kartellen weitgehend daran zu halten.50 Spätere Schätzungen gehen davon aus, dass das Embargo von 1973 Japan circa 17 Prozent, die USA circa 18 Prozent und Westeuropa cir-ca 16 Prozent an Einschnitten in ihre Ölimporte gekostet hat (ebd.: 624). Ein bloßer Blick auf diese Zahlen unterschätzt allerdings die chaotischen Vorgänge, die das Embargo in der Weltwirtschaft, in der internationalen Diplomatie und in den ölimportabhängigen Gesellschaften des Westens auslöste. Importeure, Raffinerien, industrielle Konsumenten und später auch Staaten selbst begannen einen Bieterwettkampf um verfügbare Kapazitäten, was die Preise für Rohöl auf Auktionen innerhalb eines Monats vervierfachte. Regierungen implemen-tierten die verschiedensten Aufsichts-, Allokations- und Rationierungssysteme.

Die Ölverknappung brach in den meisten westlichen Ländern in eine ohnehin

50 Retrospektiv meint Frank Zarb, der spätere Leiter der Federal Energy Administration: »[T]he economists all predicted [OPEC] was going to come apart on its own, because these antitrust type combinations always fell apart on their own. Well, they didn’t figure on the fact that the Arabs had a different view of the world, and had their own economic books that they worked with.« Siehe Timothy J. Naftali, 2007: An Oral History Interview with Frank G. Zarb. 04 Octo-ber 2007, New York. Richard Nixon Oral History Project. Richard Nixon Presidential Library und Museum, 15.

kritische wirtschaftliche Lage ein. Das Jahr 1973 war in vielen Gesellschaften schon Krisenjahr, bevor die Ölkrise einsetzte. Und in der verarbeitenden In-dustrie machte sich Verunsicherung über zukünftige Versorgungsengpässe und Kostensteigerungen breit. Über den Umfang der Exportbeschränkungen, ihre Verteilung auf verschiedene Länder und Industrien, ihre Dauer und die Risiken der Zuspitzung herrschte fundamentale Unsicherheit, was in allen westlichen Gesellschaften tief greifende Irritationen auslöste. Am Ölproblem sollte sich bis in die frühen 1980er-Jahre nicht viel ändern. Noch im Dezember 1973 zog die OPEC den panischen Marktreaktionen nach und verdoppelte den Preis von Rohöl ein weiteres Mal (ebd.: 625–626). Die Ära billigen Öls war vorerst vorbei (siehe Abbildung 4-5).

In den 1970er-Jahren kamen gewiss viele Verschiebungen der Nachkriegs-ordnungen demokratisch kapitalistischer Gesellschaften zusammen, die die ge-samtwirtschaftliche Entwicklung unter Druck setzten (siehe zusammenfassend Doering-Manteuffel 2008). Der Ölpreisschock 1973 führte allerdings zu einem

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Abbildung 4-5 Jährliche weltweite Ölpreise und Ölproduktion, 1950–1990

2012 US-Dollar pro Barrel

Produktion

Preis

Tägliche Produktion in Millionen Barrel

1950 1952 1954 1956 1958 1960 1962 1964 1966 1968 1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 Quellen: Preiszusammenstellung: BP Statistical Review of World Energy.

Zusammenstellung der Produktionsmengen: Earth Policy Institute.

Problemdruck neuer Art. Traditionelle makroökonomische Steuerungsinstru-mente – so die breite Wahrnehmung spätestens seit Anfang 1974 – würden im Licht eines durch Energieengpässe drohenden Wachstumseinbruchs nicht grei-fen.51 In einem Sondergutachten zur Ölkrise im Dezember 1973 revidierte der Sachverständigenrat seine Prognosen für das Jahr 1974 mit Zahlen, die auf eine drohende Stagflation hindeuteten – 2 Prozent Beschäftigungsrückgang, 7 bis 8 Prozent Inflation und bis zu 1 Prozent reales Wachstum prophezeite er nun, und sollte damit noch zu optimistisch gewesen sein.52 Bedeutender noch als die pes-simistischen Aussichten des Sondergutachtens war die weitgehende Ratlosigkeit der Experten, wie man den Energieproblemen zuvorkommen könnte. Ihre Empfehlungen beschränkten sich auf die selektive Rücknahme der erst im Mai zur Bekämpfung der Inflation wieder eingeführten Investitionssteuern, um den Kraftwerksbau und den Umbau öllastiger Wertschöpfungsketten zu beschleuni-gen, auf die öffentliche Nachfragestützung für die Bauindustrie, auf Forderun-gen nach Lohnmoderation und regional- und sektorpolitische Maßnahmen in der Automobil- und der Textilindustrie.53 Um es zusammenzufassen, auch die ökonomischen Experten wussten nicht, was mittelfristig zu tun war, und klan-gen in ihrem Fazit beinahe fatalistisch:

Mag der Weg zur billigen Kernenergie noch weit sein, auch vor Erreichen dieses Zieles wird man nicht aus Energiemangel auf wirtschaftliches Wachstum verzichten müssen. Erst einmal herausgefordert, haben Menschen immer wieder vollbracht, was zunächst unmöglich schien.

[…] Dringlicher scheint, dass man sich, mit oder ohne Hilfe des Staates, durch langfristige Verträge oder Beteiligungen Rohstoffquellen sichert […]. Wichtig ist ferner, sich an For-schungsprojekten zur Verbilligung der Energiegewinnung und zur Erschließung neuer und neuartiger Energiequellen zu beteiligen. So können die Risiken für die Zukunft erheblich gemindert werden.54

Allein durch die Rationierungs- und Verteilungsinitiativen wurden Regierun-gen dazu gebracht, sich intensiver und umfassender mit der Energieversorgung auseinanderzusetzen. Außerdem ist es der Ratlosigkeit geschuldet, die die Öl-krise in der OECD-Welt bewirkte, dass alle betroffenen Staaten in der folgenden Dekade versuchten, mit den verschiedensten Mitteln ihre Energieversorgung so

51 Siehe etwa die Stimmen in: Öl kann man nicht durch Geld ersetzen. In: Der Spiegel 48, 1973, 23–24.

52 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, [1973]1974:

Zu den gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der Ölkrise. Sondergutachten vom 17. Dezem-ber 1973. In: Vollbeschäftigung für Morgen. Jahresgutachten 1974/1975. Stuttgart: Kohlhammer,

Zu den gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der Ölkrise. Sondergutachten vom 17. Dezem-ber 1973. In: Vollbeschäftigung für Morgen. Jahresgutachten 1974/1975. Stuttgart: Kohlhammer,