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Zum Phänomen der Geschichtlichkeit des Verstehens in Gadamers „Analyse des wirkungsgeschichtlichen

Im Dokument Hans-Georg Gadamer. Wahrheit und Methode (Seite 139-146)

Schenkung, Entzug und die Kunst schöpferischen Fragens

10.1 Zum Phänomen der Geschichtlichkeit des Verstehens in Gadamers „Analyse des wirkungsgeschichtlichen

Bewußtseins“ (GW 1, 346 – 386)

Die Analyse des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins stellt ein systematisch entschei-dendes Schlüsselglied im Aufbau vonWahrheit und Methodedar. Im Rahmen des zweiten Teiles bildet der dem wirkungsgeschichtlichen Verstehen und Erfahren gewidmete Abschnitt (II 3) zum einen den Abschluß der Grundzüge einer Theorie der genuin hermeneutischen Erfahrung der Geschichtlichkeit. Zum anderen bereitet die Analyse, weil das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein seinen Vollzug stets im Sprachlichen hat, den Übergang zur hermeneutischen Sprachontologie des dritten Teils vor. Die Leitthese des gesamten Zusammenhangs ergibt sich aus dem hermeneutischen Prinzip der Wirkungs-Geschichtlichkeit des Verstehens, das das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein wesentlich ausmacht. Die Verstehensmöglichkeit aus der Geschichtlichkeit verunmöglicht für Gadamer einen ref lexiv erreichbaren außergeschichtlichen Stand-punkt und markiert so die Grenze der Ref lexionsphilosophie. Die diesbezüglichen Erfahrungen der Geschichtlichkeit sind Erfahrungen spezifischer Endlichkeit, die sich aus einer ganz bestimmten Vollzugsstruktur ergeben. Sie münden Gadamer zufolge in die hermeneutische Grundhaltung der Offenheit, aus welcher heraus sich eigentliches Fragen im Gespräch mit der Überlieferung vollzieht. Entsprechend werde ich in den folgenden drei Schritten 1. der Selbstbezüglichkeits-, 2. der Erfahrungs- und 3. der Fragevollzugsstruktur des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins nachgehen. Zugleich möchte ich von der Sache der besonderen Verf lechtungsstruktur von Wirkungsge-schichte und Verstehen her auf die Nähe zur Figur des Chiasmus und den damit verbundenen Implikationen aus dem Spätwerk Merleau-Pontys aufmerksam machen.

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10.2 Selbstbezüglichkeiten wirkungsgeschichtlichen Verstehens und die Grenze der Ref lexionsphilosophie

Die Geschichtlichkeit des Verstehens, die für Gadamer in Form der Wirkungsge-schichte das hermeneutische Prinzip1 ist, vermag diesen leitenden Arché-Charakter zu haben, weil mit ihm eine selbstbezügliche Struktur gegeben ist, die auch das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein auszeichnet. Sein Verstehen ist ebenso eine Weise von Wirkung wie es zugleich um sich als eine derartige Wirkung weiß.2Nicht immer hat Gadamer freilich die damit verbundenen Formen von Selbstbezüglichkeit sowie die entsprechenden Möglichkeiten und die Reichweite der Ref lexion ausreichend syste-matisch differenziert. Eine Folge davon ist der von Habermas’ Kritik an unbestimmte methodische Status hermeneutischer Ref lexion sowie der schwebende Theoriestatus der Hermeneutik selbst. Will man hier im Kontext des Versuches, die Grenze der Ref lexionsphilosophie zu markieren, weiter kommen und das Verhältnis von Wirken und Wissen insgesamt besser verstehen, muß noch einmal an die Komponente des Wirkens im Verstehen angeknüpft werden.

Eine Weise von Wirkung ist das Verstehen des wirkungsgeschichtlichen Bewußt-seins, insofern Autorität, Tradition und das Klassische als Vorurteile wirken und so daran mitwirken, wie „ihre“ Sachgegenstände, ja sogar wie sie selbst gesehen werden wollen. Ein Nullpunkt-Verstehen wird damit von Grund auf ausgeschlossen, weil alles inhaltlich konkrete Verstehen stets eine bestimmte geschichtliche Vermitteltheit hat und einer entsprechenden Geschichte zugehörig ist. Unterschieden von der literaturwis-senschaftlich aufgefaßten Wirkungsgeschichte als enumerierende Rezeptionsgeschichte eines Werkes im Wandel der Zeiten ist die Wirkungsgeschichte nach Gadamer zunächst der Substanz Hegels vergleichbar und insofern Prinzip, als sie das von ihr abgeleitete Verstehen „trägt“, „vorzeichnet“, „begrenzt“ (GW 1, 307) oder auch (im indirekt auf Kant, Scheler und Heidegger anspielenden Ausdruck) „schematisiert“ (GW 2, 228).

Der historische Objektivismus, der meint, kraft seiner neuzeitlich kritischen Methode ein überliefertes Werk oder eine geschichtliche Erscheinung unmittelbar haben zu kön-nen, täuscht sich sowohl über die Sache als auch über sich selbst, sind doch die Sache selbst und das historische Bewußtsein wesentlich wirkungsgeschichtlich vermittelt. Daß

„die Geschichte nicht uns [gehört], sondern wir […] ihr“ (GW 1, 281), das wirkungs-geschichtliche Bewußtsein deshalb „mehr Sein als Bewußtsein“ (GW 2, 247) sei, bringt das pointiert zum Ausdruck.

Aber selbst wenn das Verstehen nicht in der Hand der Subjektivität liegt, so vollzieht es sich eben auch nicht ohne sie, bildet mit ihr recht verstanden eine

Substanz-Subjekt-1 Zum hermeneutischen Prinzipcharakter der Geschichtlichkeit des Verstehens vgl. allein die Abschnitt-Titel GW 1, 270 u. GW 1, 305.

2 Vgl. besonders GW 1, 346 u. GW 2, 444.

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Einheit im Sinne Hegels. Gadamers Kritik an der Verselbständigung des neuzeitlichen Subjekts und seiner Methodik läßt einerseitsdie Bedeutung der Aktivität des Verste-henden bisweilen in den Hintergrund treten. Ebenso ist überhaupt die Terminologie der „Wirkung“ und entsprechender kultureller „Formung“ durch die Überlieferung durchaus mißverständlich und irreführend. Denn sie unterstellt eine eindeutige und klare Rollenverteilung: Da ist eine Instanz, die wirkt und formt (Autorität, Tradition, die Klassiker), und eine Instanz, die rein rezeptiv der Wirkung und Formung unterliegt (das Subjekt, das seiner kritischen Ref lexionskraft beraubt zu werden scheint).3Über Rilkes Leitmotiv hinaus bezeugenandererseitsschon die das geschichtliche Verstehen vorbereitenden Beispielfelder des Spieles und der Kunst, überdies Gadamers Auffas-sung des Überlieferungsgeschehens, daß für ihn die Subjekte zwar mit Sicherheit nicht autonome Urheber der Wirkungszusammenhänge sind, daß sie aber dennoch mit ihren Aktivitäts- und Ref lexionspotentialen als ihrerseits die Wirkungsgeschichte mitbestim-mende Mitspieler unverzichtbar sind.

Man kann diese reziproke Struktur mit einem Ausdruck aus dem Spätwerk Maurice Merleau-Pontys als eine „chiasmische“ Struktur auffassen (vgl. Merleau-Ponty 1986).

Damit wird im Ausgang von der mit dem griechischen Wortchiasma (Chiasmus) ge-meinten Gestalt des Überkreuzgehens im griechischen Buchstaben X (chi) das leibliche, wechselseitigeVerflochtensein von Mensch und Welt im elementhaft fleischlich-leiblichen Ver-flochtensein der „Teile der Welt“gemeint. Dieser Struktur zufolge greift nicht mehr primär das vermeintliche Subjekt auf die Welt über, sondern ebenso greifen „umgekehrt“ die

„Teile der Welt“ aufeinander über und damit auch auf das menschliche Empfinden, Wahrnehmen, Erfahren usw. Das aber ist „die Idee desChiasmus, das heißt: Jede Bezie-hung zum Sein istgleichzeitigErgreifen und Ergriffenwerden“.4Bezogen auf die quasi holistischeWechselseitigkeitsbezüglichkeit unserer selbst mit allem anderen Seienden bedeu-tet dies, daß Aktivität und Passivität nicht mehr eindeutig nach einer Subjektseite oder Weltseite (einschließlich ihrer geschichtlich-kulturellen Tiefendimension) aufschlüssel-bar sind. Die Dinge, die Anderen, das Milieu, die Sprach-, Lebensform, Kultur wie Geschichte usw. weben die Textur ihres wechselseitigen Wahrnehmens und Wahrge-nommenwerdens mit, bestimmen in unzähligen, Kontingenz wie Freiheit umfassenden Verstehenssituationen mit, wie sie genommen werden wollen, bestimmen also über ihr Erscheinen und Sichtbarwerden mit und artikulieren sich so jeweils in „meine“ Re-gelbildung und damit in „mein“ Verstehen mit hinein.

3 Habermas gehört bekanntlich zu denen, die Gadamer so einseitig verstanden haben (vgl. Habermas 1971, bes. 48ff.).

4 Merleau-Ponty 1986, 333. Vgl. auch ebd. 177f.: „ Im Augenblick genügt die Feststellung, daß der Sehende das Sichtbare nicht besitzen kann, / außer er ist von ihm besessen, außer er istvon ihmund ist […] grundsätzlich eines der sichtbaren Dinge, das diese – als eines von ihnen – durch eine eigenartige Umkehr zu sehen vermag.“

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Genau von dieser chiasmischen Struktur sind meiner These nach schon Gadamers Beispiele des Spieles und der Kunst zu begreifen. Sie sollen vorbereitend zeigen, daß und wie der Verstehende jeweils in ein ihn übergreifendes Geschehen verf lochten ist, paradox gesagt: also sein Tun nicht nur sein Tun ist, mithin alles intentionale Ver-halten von deintentionalen Momenten durchgriffen ist. Ein Spiel wirklich zu spielen bedeutet, sich ganz auf es einzulassen und zum Teil des chiasmisch auf alle Spieler über-greifenden Spielgeschehens zu werden.5Ein Kunstwerk zu verstehen, es zu ergreifen, heißt, sich seiner Wirkung auszusetzen und sich chiasmisch von ihm ergreifen zu las-sen.6Ähnlich chiasmisch verhält es sich auch hinsichtlich der Überlieferung. Autorität und Tradition wirken und formen mich ja nicht im Sinne einer blanken Konditionie-rung oder Anpassung, sondern nur, indem ich sie zugleich ergreife,7 und zwar unter Einbeziehung der Ref lexion.8 Insbesondere jedoch gilt die chiasmische Struktur für das wirkungsgeschichtliche Verstehen. Eine Sache, wie sie etwa in den überlieferten Texten zum Ausdruck kommt, wird doch nur unter der Bedingung verstanden, daß ich unter Einbringung meiner (wirkungsgeschichtlich durch die Sache selbst je schon vor-bestimmten) Vorurteile wiederholt und neu mich auf sie einlasse, mir in veränderter Situation etwas von ihr sagen lasse bzw. ihr neue Seiten abgewinne. Insofern ist mein Verstehen einer Sache, mein Be- und Ergreifen im Zuge hermeneutischer Verstehens-bemühung und geschichtlich-kultureller Auseinandersetzung immer auch schon vorweg ein chiasmisches Ergriffenwordensein und weiteres Ergriffenwerden von dem zu Ver-stehenden, je mehr ich es zugleich zu ergreifen versuche. Auf diese Weise ist „das Tun der Sache selbst“ (vgl. Figal 2002, 102 – 125) ebenso eine – zuletzt sprachlich vermittelte – Verstehensaktivität des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins wie umgekehrt, ohne daß bei diesem Verstehensgeschehen in der Zusammengehörigkeit von Verstehensge-genstand und Verstehendem eine Seite ausschließlich führte.9Mit anderen Worten: Die

5 GW 1, 107 – 116, dazu auch prägnant im Rückblick GW 1, 493.

6 Siehe die Abschnitte GW 1, 116ff. Von „Schenkung“ spreche ich, weil ich stärker noch als Gadamer das wirkungsgeschichtliche Moment nicht im Sinne unchiasmisch-einseitiger Quasi-Determination, Formung, Prägung und dergleichen verstanden wissen möchte. Mit „Schenkung“ sei vor allem das im Chiasmus liegende deintentionale Moment betont, das in niemandes Hand liegt und in eins mit der Wirkung der Verstehensge-genstände literarischer und philosophischer Texte in der Auseinandersetzung mit ihnen sich auftut und eben jeweils von der behandelten Sache her ihr Verstehenkönnen eröffnet, ermöglicht, einsetzt, gibt, eben gleichsam schenkt.

7 Vgl. GW 1, 286, wonach „Tradition stets ein Moment der Freiheit und der Geschichte selber [ist]“, „Beja-hung“, „Ergreifung“, „Pf lege“ konstitutiv zu ihr gehören, das aber als fortbildende „Bewahrung“ eine „Tat der Vernunft“ ist.

8 Vgl. Gadamer, für den die Ref lexion als Bewußtmachung nicht nur zwangsläufig Geltendes auf löst, sondern

„auch wissend das übernehmen kann, was die Tradition de facto entgegenbringt“ (Gadamer 1971a, 74). Gada-mers hermeneutische Ref lexion strebt selbst, wie es später in der Replik zu Hermeneutik und Ideologiekritik heißt, ein „kritisches Ref lexionswissen“ an (Gadamer 1971b, 287f.).

9 Siehe dazu insbes. Eberhard 2004.

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Sache selbst in ihrer Wirkungsgeschichte und das um sie und sich als erwirktes wis-sende Bewußtsein sind chiasmisch verschränkt. Gadamer denkt selbst in der Figur des Chiasmus, wenn er von der „wirkungsgeschichtlichen Verflechtung, in der das historische Bewußtsein selber steht“ (GW 1, 306 – Hervorhebung R. E.) spricht.

Zugleich weist der wirkungsgeschichtliche Chiasmus eine offen zirkuläre, selbstbe-züglicheStruktureinheit von Schenkung und Entzugauf. Der wirkungsgeschichtliche Chi-asmus ergibt sich zunächst unter dem Aspekt der Schenkung daraus, daß es von einer jeweiligen Sache, wie sie mitunter paradigmatisch in den klassischen Texten der Über-lieferung gefaßt wird, eine Rückbeziehung auf sie selbst gibt. Denn in eins mit dem dann sich wirkungsgeschichtlich erweisenden Verstehen gibt die jeweilige Sache eben Vorga-ben mit auf den Weg, bildet sie die Bedingungen und den Horizont mit, durch die sie uns das Sehen und Verstehen ihrer selbst ermöglicht. In der Auseinandersetzung mit ihr läßt die Sache mich sehen und sie läßt sich sehen in diesem Mich-sehen-lassen. Über die gleichsam einen kulturellen Überlieferungsleib darstellende Wirkungsgeschichte

„schenkt“ sie mir ihr Verstehenkönnen (doch niemals vollständig, wie wir unten noch sehen werden, weil ich als Teil der Wirkungsgeschichte diese samt ihrem Sachverste-hen niemals zur Gänze vor mich bringen kann, ohne meine Partizipation an ihr und dem durch sie ermöglichten Sachverstehen aufzugeben).Wirkungsgeschichtliches Verste-hen ist von der Struktur der ScVerste-henkung.10Und von diesem „Beschenktsein“ weiß auch das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein. Denn aufgrund der Verschränkung mit der Sache selbst gibt es stets auch eine immanente Rückbezüglichkeit auf Seiten des wirkungsge-schichtlichen Bewußtseins, weiß dieses doch um sein Erwirkt- und Bestimmtsein, ohne dieses eigens zum thematischen Gegenstand erhoben haben zu müssen.11

Mit der ihm immanenten Ref lexivität steht nun aber offensichtlich auch das wir-kungsgeschichtliche Bewußtseinals Bewußtseinin der Möglichkeit, das, wovon es Be-wußtsein ist, ref lexiv auf Distanz, vor sich zu bringen, sich also darüber zu „erheben“

(vgl. GW 1, 347ff.). Diese methodische Indienstnahme der Ref lexion war geradezu das Markenzeichen der Ref lexionsphilosophie, sowohl in ihrer subjektivistischen Va-riante Jacobis, Kants und Fichtes als auch in der Ref lexionsphilosophie der Vernunft im Sinne Hegels. Eine solche Philosophie scheint aber den wirkungsgeschichtlichen

10 Von „Schenkung“ spreche ich, weil ich stärker noch als Gadamer das wirkungsgeschichtliche Moment nicht im Sinne unchiasmisch-einseitiger Quasi-Determination, Formung, Prägung und dergleichen verstanden wis-sen möchte. Mit „Schenkung“ sei vor allem das im Chiasmus liegende deintentionale Moment betont, das in niemandes Hand liegt und in eins mit der Wirkung der Verstehensgegenstände literarischer und philosophi-scher Texte in der Auseinandersetzung mit ihnen sich auftut und eben jeweils von der behandelten Sache her ihr Verstehenkönnen eröffnet, ermöglicht, einsetzt, gibt, eben gleichsam schenkt.

11 Vgl. GW 2, 444 mit GW 2, 245; siehe auch GW 2, 500 sowie Gadamer 1987, 18. Gadamer greift an diesen Stellen auf Brentanos Auffassung der Ref lexion als „innere Rückwendung“, als „ref lexives Innesein“, als „mit-gehendes Bewußtsein“ zurück und grenzt sie nachdrücklich von den objektivierenden Formen der Ref lexion als dem Erbe des deutschen Idealismus ab. Zu den Bezügen zu Aristoteles, aber auch zu den dadurch entstehenden Problemen transzendentaler bzw. geltungstheoretischer Ref lexionen siehe Hofer 2003.

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Einf luß durchschauen zu können, indem sie mit methodisch geregelter Ref lexion „alle unmittelbare Betroffenheit, wie wir sie mit Wirkung meinen, auf löst“. Weil es Gadamer demgegenüber darum geht, „wirkungsgeschichtliches Bewußtsein so zu denken, daß sich im Bewußtsein der Wirkung die Unmittelbarkeit und Überlegenheit des Werkes nicht wieder zu einer bloßen Ref lexionswirklichkeit auf löst, mithin eine Wirklichkeit zu denken, an der sich die Allmacht der Ref lexion begrenzt“ (GW 1, 348), wird Hegels Philosophie zur zentralen Provokation.

Hegel hatte amLeitfaden der Geschichtedie Ref lexivität gleichsam durchmethodisiert.

So verbindet die Geschichte in seiner Phänomenologie des Geistes (Hegel 1970) die transzendentale Bewußtseinsgeschichte mit der transzendentalen Geistesgeschichte als Geschichte des Absoluten, indem sie in ihrem sich begreifenden Werden die reale und in der „Form der Zufälligkeit“ bereits geschehene Geschichte in begriffssystematisch organisierender Weise rekonstruierbar macht, damit selbst zu einer „begriffenen Geschichte“ wird und so Sichwissen des Absoluten ist.12– Schon die transzendentale Bewußtseinsgeschichte ist ein in bestimmter Weise methodisch-geschichtlicher Durchgang durch spezifische Erfahrungen des Bewußtseins, die es mit sich und seinem Gegenstand macht. Es selbst ist der „Motor“ des Geschehens, weil ihm eine Doppelnatur zu eigen ist, die sich als Gegenstandsbewußtsein (Intentionalität) und Bewußtsein seiner selbst (Ref lexivität) zeigt. Das Bewußtsein unterscheidet etwas von sich, worauf es gleichzeitig bezogen ist (vgl. Hegel 1970, 76). Für diePhänomenologie des Geistes ist genau diese Tatsache, „daß ihm“, dem Bewußtsein, „etwas das Ansich, ein anderes Moment aber das Wissen“ ist (Hegel 1970, 78 – Hervorhebung R. E.), der Grund der Defizienz einer jeden Bewußtseinsgestalt. Denn solange die Ref lexion sich mißversteht und die Entgegensetzung des Gegenstandes und des Wissens von ihm nicht zur vollkommenen Einheit des Wissens und Gewußten aufzuheben vermag, wird das Bewußtsein über seine jeweilige Gestalt hinausgetrieben, wodurch sich für den Phänomenologen überhaupt erst ein Zusammenhang zwischen den Erfahrungen bzw. Bewußtseinsgestalten ergibt, der dann die transzendentale (Bildungs-)Geschichte des Bewußtseins ausmacht. Diese Bildungsgeschichte für sich genommen bliebe für Hegel unverständlich, sähe man nicht, daß das Denken des Bewußtseins und seine ihm verborgene Ref lexivität zugleich die Vollzugsweise des Geistes als dem sich über die Begriffsnatur des Bewußtseins vermittelnden „Selbst“ ist. Dahinter steht Hegels Kernthese, daß das Wahre nicht nur als Substanz, sondern ebenso sehr als Subjekt

12 Vgl. die Schlußpassage derPhänomenologie des Geistes(Hegel 1970, 591): „Das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist hat zu seinem Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reichs vollbringen. Ihre Aufbewahrung nach der Seite ihres freien, in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins ist die Geschichte, nach der Seite ihrer begriffenen Organisation aber dieWissenschaft des erscheinenden Wissens; beide zusammen, die begriffene Geschichte, bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewißheit seines Throns, ohne den er das leblose Einsame wäre.“

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aufgefaßt und ausgedrückt werden muß (vgl. Hegel 1970, 22f.). Das Wahre ist für Hegel das Ganze, das Absolute, das nichts „außerhalb“ seiner selbst haben kann, da es sonst bedingt wäre. Das wahre Absolute ist dabei aber erst das, was es ist, zusammen mit seinem Werden. Das Absolute ist nichts, solange es nicht etwasfür sichist. Es kann seine Substanz begründen, weil es als diese immer schon Ref lexion, Entzweiung und Werden, d. h. Subjekt ist! Das erweist sich für Hegel eben als das Seiner-selbst-bewußt-werden des Geistes über seine Erscheinungsweisen im Medium der Geschichte. Für Gadamer ergeben sich aus diesem Ansatz mindestens drei Herausforderungen.

Hegel läßt nämlich erstens keine von dem Bewußtsein gesetzte Grenze (zumvon ihm unterschiedenen Ansichsein) wirklich gelten, weil es diese im Prinzip mit dem Setzen des Anderen seiner selbst bereits überschritten hat. Zweitens erscheinen die Kritiken an Hegel, die gegen seine These umgreifender Ref lexion etwa die Unmittelbarkeit und Wirklichkeit der leiblichen Natur oder des fremden Du betonen, letztlich seiner Re-f lexionsphilosophie unterlegen, hatte Hegel diese Positionen in seinerPhänomenologie doch ebenso konstitutiv durchdacht wie in ihrem ausschließlichen Wahrheitsanspruch als unzulänglich erwiesen. Drittens kommt hinzu, daß Hegel über dieDestruktion un-wahrer (sich lediglich wahr dünkender) Bewußtseinsstandpunkte nicht nur die Konstitu-tionabsolut wahren Wissens vornehmen möchte; vielmehr soll mit der Durchref lexion aller möglichen Wissensweisen und Wahrheitsmomente der Bewußtseinsgestalten und des geschichtlichen Geistes in der Notwendigkeit und Vollständigkeit ihrer einander folgenden Formen (vgl. Hegel 1970, 73f.) im selben Zuge dieLegitimationdieses ab-soluten Wissens13bzw. dieser „absoluten Vermittlung von Geschichte und Wahrheit“

bzw. von „Geschichte und Gegenwart“ (GW 1, 347 u. 351) gegeben werden.

Kann es vor diesem Hintergrund aber überhaupt eine „Grenze der Ref lexionsphi-losophie“ geben? Sie kann allem Anschein zum Trotz nicht in der selbstbezüglichen Struktur der Ref lexion als solcher liegen. Denn die Zusammengehörigkeit von Ver-stehensgegenstand und Verstehendem waltet in der Wirkungsgeschichte selbst in einer gewissen Selbstbezüglichkeitsstruktur. Zudem ist nach Auffassung Gadamers Hegels Philosophie davor bewahrt, nur formal-argumentativer Schein ohne eigentlichen Inhalt zu sein, weil sie sich von der Durchref lexion der Geschichte selbst (als genitivus subjectivus und objectivus) her versteht, durch welche die Vernunft als Leben des Geistes konkret versöhnende Arbeit leistet und also von Erfahrungen her sich aufbaut.

Wenn dementsprechend aber der Inhalt des geschichtlichen Lebens des Geistes – oder, analog, des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins – kein anderer ist als das, was sich aus

13 Aus der Sicht derWissenschaft der Logikbedarf für Hegel der von derPhänomenologieerreichte „Begriff der Wissenschaft“ und ihres Wissens „keiner Rechtfertigung, weil er sie daselbst [sc. in derPhänomenologie R. E.] erhalten hat; und er ist keiner anderen Rechtfertigung fähig als nur dieser Hervorbringung desselben durch das Bewußtsein, dem sich seine eigenen Gestalten alle in denselben als in die Wahrheit auf lösen. […]

eine Definition der Wissenschaft oder näher der Logik hat ihrenBeweisallein in jener Notwendigkeit ihres Hervorgangs“ (Hegel 1969, 42).

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dem wirklichen Erfahren (und also darum Wissen) von Wirklichkeit (in ihrem Wirken) ergibt, dann muß die Grenze der Ref lexionsphilosophie sich aus dem unterschiedlichen Verständnis des Begriffes der Erfahrung ergeben. Gadamers diesbezügliche Analysen werden die ref lexionsphilosophische Grenze dort markieren, wo die Erfahrungen, sei es je für sich, sei es die Erfahrung im Ganzen, auf ein letztes Sichwissen überstiegen

dem wirklichen Erfahren (und also darum Wissen) von Wirklichkeit (in ihrem Wirken) ergibt, dann muß die Grenze der Ref lexionsphilosophie sich aus dem unterschiedlichen Verständnis des Begriffes der Erfahrung ergeben. Gadamers diesbezügliche Analysen werden die ref lexionsphilosophische Grenze dort markieren, wo die Erfahrungen, sei es je für sich, sei es die Erfahrung im Ganzen, auf ein letztes Sichwissen überstiegen

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