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Die historische Schule

Fragwürdigkeit der romantischen Hermeneutik und ihrer Anwendung

6.4 Die historische Schule

Ob diese Kritik legitim ist oder nicht, bleibe dahingestellt.1Wichtiger ist es, hier auf ihre Folgen in Gadamers Darstellung der geschichtlichen Entwicklung des hermeneuti-schen Denkens hinzuweisen. Diese Folgen werden gleich in den der historihermeneuti-schen Schule gewidmeten Paragraphen offenbar. Hier zeigt Gadamer die Rolle, welche Schleierma-chers Auffassung der Individualität für die Problematisierung des Ideals einer Univer-salgeschichte im 19. Jahrhundert spielte. Es handelt sich für Gadamer darum, sowohl systematisch als auch historisch die Entwicklung des historischen Denkens als ein von der Hermeneutik Schleiermachers beeinf lußtes darzustellen. Aber es handelt sich auch darum, die Transformation zu beleuchten, welche die „Übertragung der Hermeneutik auf die Historik“ (GW 1, 202) in der Geschichte des hermeneutischen Denkens dar-stellt. Diese Transformation zeigt sich im Übergang von der theologisch orientierten Hermeneutik Schleiermachers (der seine Theorie des Verstehens in Hinsicht auf das Verständnis der biblischen Überlieferung erarbeitet hatte) zur Auffassung der „Histo-rik“ als „methodologisches Organon“ der „Geisteswissenschaften“ (GW 1, 201). Ein

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Übergang, der sich schon früh bei den Theoretikern der historischen Schule vorberei-tet und den Dilthey konsequent weiterdenkt.

Dieser Übergang wird nur dann möglich, wenn die alten teleologischen und aprio-rischen Konstruktionen der Universalgeschichte verabschiedet werden und ein neues Bewußtsein der Individualität in der Geschichte entsteht. Zweifellos ist die Entstehung dieses Bewußtseins ab Herder zu datieren und geht mit der Anerkennung des eigenen Daseinsrechts und der Vollkommenheit jeder einzelnen Epoche der Weltgeschichte ein-her. Erst im 19. Jahrhundert werden aber die Historiker mit dem Problem konfrontiert, das aus dieser Anschauung entsteht. Die Frage ist nun, wie das Ganze einer Universalge-schichte zu denken sei, wenn kein außerhalb der GeUniversalge-schichte liegender Maßstab denkbar ist. Und weiter: Wie ist, angesichts einer solchen Fülle von einzelnen Erscheinungen, die Einheit der Weltgeschichte zu denken und die Erkenntnis derselben zu rechtferti-gen (vgl. GW 1, 206)? Um eine solche Frage zu beantworten, ist die historische Schule verpf lichtet, auf das alte hermeneutische Schema vom wechselseitigen Erklären von Ganzem und Teil zurückzugreifen und das bedeutet, die Historik auf der Grundlage der Hermeneutik zu fundieren. Gadamer nimmt zu den Folgen, welche diese Frage-stellung in den Werken Rankes und Droysens hat, ausführlich Stellung. Zwei Punkte sind in diesem Zusammenhang besonders hervorzuheben.

Der erste findet sich bei Ranke, der in der Kontinuität das Wesen der Geschichte zu erkennen glaubt, „weil Geschichte im Unterschied zur Natur das Moment der Zeit ein-schließt“ (GW 1, 213). Kontinuität kann es also nur in der Zeit geben und zwar in Form eines ständigen Sich-Wissens, denn es gilt schon für Ranke, was Droysen von der Ge-schichte schreibt: „‚Das Wissen von ihr ist sie selbst‘“ (GW 1, 213). Gadamer sieht darin

„die hermeneutische Selbstauffassung der historischen Schule“ (GW 1, 214), für welche sich die einzelnen Erscheinungen der Geschichte im Kontinuum der Überlieferung er-klären. Bei Ranke ist dieses Bewußtsein theologisch-idealistisch konnotiert (vgl. GW 1, 214f.). Bei Droysen aber führt es zu einer klaren Überwindung des Schleiermacherschen Ansatzes. Denn Droysens Theorie des Verstehens als Verstehen von Ausdrücken weist jenseits des Ausdrucks selbst auf das in ihm unmittelbar gegebene „‚innerliche Wesen‘“, das die „erste und eigentliche Realität ist“ (GW 1, 216). Dazu kommentiert Gadamer:

„Das einzelne Ich ist wie ein einsamer Punkt in der Welt der Erscheinungen. Aber in seinen Äußerungen, vor allem in der Sprache, grundsätzlich in allen Formen, in de-nen es sich Ausdruck zu geben vermag, ist es kein einsamer Punkt mehr. Es gehört der Welt des Verständlichen an. Historisches Verstehen ist mithin nicht von grundsätzlich anderer Art als sprachliches Verstehen“ (GW 1, 216).

Somit wird klar, daß bei Droysen – wie Gadamer kurz danach bemerkt – „die Her-meneutik über die Historik Herr“ geworden ist (GW 1, 221). Auch für Droysen gilt die Formel: „‚Das Einzelne wird verstanden in dem Ganzen, und das Ganze aus dem Ein-zelnen‘“ (GW 1, 221). Bei ihm ist aber die Untersuchung der Individualität nicht auf

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das unbegreif liche Verfahren der Divination angewiesen. Und dies ist der zweite Punkt, den es hier hervorzuheben gilt.

Denn für den Historiker ist nach Droysen der handelnde Mensch erst dann ein „Mo-ment der Geschichte“ (GW 1, 218), wenn er sich zu Familie, Volk, Staat, Religion erhebt und an ihnen teilhat. Die Zusammengehörigkeit des sittlich handelnden Menschen und sittlicher Gemeinschaft zeigt in sich beispielhaft, wie die hermeneutische Formel der gegenseitigen Erklärung von Teil und Ganzem für die historische Forschung produk-tiv werden kann: „Die sittliche Kraft des einzelnen wird dadurch zur geschichtlichen Macht, daß sie in der Arbeit an den großen gemeinsamen Zwecken tätig ist“ (GW 1, 218). Anders gesagt: die historisch relevante Arbeit ist nur die, in welcher sich das Ver-hältnis zwischen der Freiheit des Einzelnen und der Notwendigkeit des Allgemeinen entfaltet. Dieses Verhältnis manifestiert sich in der „Fortbewegung der sittlichen Welt“

(GW 1, 219) und ist der Gegenstand der historischen Forschung.

Hinter dieser Bestimmung der historischen Forschung selbst steckt offensichtlich immer noch Schleiermachers Individualitätsbegriff, der hier als Ausdruck der Ver-f lechtung von sittlicher KraVer-ft des Einzelnen und sittlicher Macht der Gemeinsamkeit betrachtet werden soll. Die Umformung, welche der Begriff selbst im Rahmen der historischen Forschung erfährt, impliziert aber eine Transformation in der Methode der Erschließung der Individualität. Denn auch historisches Verstehen ist ein Verstehen des Anderen, doch ist dieser Andere nicht unmittelbar, intuitiv zu erfassen. Die divinatorische Methode versagt, weil „die psychologische Interpretation der einzelnen Individuen […] die Sinndeutung der geschichtlichen Ereignisse selbst nicht erreichen“ kann (GW 1, 217). Die innere Verf lechtung von Einzelheit und Gemeinsamkeit, welche die Individualität ist, läßt die psychologische Interpretation im historischen Verstehen als ein „untergeordnetes Moment“ (GW 1, 217) erscheinen.

Denn eine solche Interpretation kann den Einzelnen höchstens in seinem autonomen, freien sittlichen Handeln erfassen, nicht aber in seiner Zugehörigkeit zu einer sittlichen Gemeinsamkeit. Um die innere Verf lechtung von Einzelheit und Gemeinsamkeit zu fassen, welche sich in der Kontinuität der sittlichen Welt zeigt, ist das historische Verstehen auf die Vermittlung der Überlieferung angewiesen: „Die historische For-schung“, so Gadamer, „befragt, um zu erkennen, immer nur andere, die Überlieferung, immer neue und immer aufs neue“ (GW 1, 220). Eben diese Erforschung der Überlie-ferung tritt nun bei Droysen an jene Stelle, welche bei Schleiermacher die Divination innehatte. Und darin ist die relevante hermeneutische Leistung der historischen Schule zu erkennen. Denn zum ersten Mal wird das Verstehen nicht als Resultat eines dunklen Sich-Hineinversetzens in den Anderen, sondern als Prozeß einer rationalen Befragung betrachtet. Die Bedeutung dieser von der historischen Schule hervorgerufenen entscheidenden Wende wird bereits von Dilthey deutlich erkannt. Ihre letzten Folgen hingegen werden von Gadamer im Kapitel über die Geschichtlichkeit des Verstehens gezogen. Denn hier wird endlich die von der Romantik besonders verteidigte Autorität

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der Überlieferung als Tradition definiert. Und diese wird als der Horizont erkannt, in dem die Deutung jedes Individuellen möglich wird.

Literatur

Frank, M. 1977: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und Textinterpretation nach Schleiermacher, Frankfurt a. M.

– 1990: Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur deutsch-französischen Hermeneutik und Texttheorie, erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a. M.

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