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Erhebung der Geschichtlichkeit des Verstehens zum hermeneutischen

Prinzip (GW 1, 270 – 311)

In memoriam Walter von Kempski

8.1

Gadamer entwickelt seine hermeneutische Konzeption, indem er aus einem produkti-ven Spannungsverhältnis zur Überlieferung dieses Verhältnis vor dem Hintergrund der Geschichtlichkeit des menschlichen Verstehens auf eine originelle Weise neu bestimmt und sich hierfür gleichermaßen von Hegel wie von Heidegger kritisch absetzt. Sein terminologisches Stichwort findet dieses neue Verständnis von Geschichtlichkeit und Geschichte in den Begriffen „Wirkungsgeschichte“ und „wirkungsgeschichtliches Bewußtsein“. Sie zählen zum Kernbestand der Gadamerschen Theorie der hermeneu-tischen Erfahrung. Ihren Einsatz findet sie, indem Gadamer die Geschichtlichkeit des Verstehens zum hermeneutischen Prinzip erhebt. Denn erst damit gelingt die Ablösung vom geisteswissenschaftlichen Szientismus, in den sich die Hermeneutik im Verlauf des 19. Jahrhunderts verstrickte. Den Ansatz zur Überwindung der szientistischen Engführung bietet Heideggers Aufdeckung der Vorstruktur des Verstehens und seine Neuinterpretation des hermeneutischen Zirkels. Während Dilthey die Verwiesenheit des Geisteswissenschaftlers auf sein geschichtlich bedingtes Vorwissen als unauf lösliche Aporie der historischen Erkenntnis begreift, ist in Heideggers existenzialontologischem Ansatz diese Vollzugsstruktur alles Verstehens Ausdruck der existenzialen Vorstruktur des menschlichen Seins überhaupt (Heidegger 1979, §32).

Im Anschluß an den von Heidegger aufgewiesenen „ontologisch positiven Sinn“ (GW 1, 271) der Zirkularität der menschlichen Verstehensleistungen entwickelt Gadamer an dem von ihm präferiertenTextmodellseine Bestimmung des hermeneutischen Zirkels, mit der die geisteswissenschaftliche Hermeneutik zugleich eine neue Fundierung er-hält. Motiviert ist diese Entscheidung für das Textmodell durch den Umstand, daß auch dann, wenn der Text als Gebilde in der Gestalt eines intendierten Sinnganzen vorliegt, er gleichwohl in ein Gef lecht von vor- und außertextlichen Voraussetzungen eingewo-ben ist, die im Text selbst zumeist gar nicht mehr sichtbar werden. Was dasteht, hat mit

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anderen Worten immer schon eine Art Vorgeschichte. Da dies keineswegs nur ein spezi-fisches Problem bzw. Merkmal von Texten ist, sondern etwas, was für alles innerhalb der Grenzen der dem Menschen möglichen Erfahrung gleichermaßen zutrifft, sind damit Texte selbst als Teil der menschlichen Erfahrungswelt ausgewiesen. Sie lassen sich, in Anlehnung an Dilthey gesprochen, als „Objektivationen des geschichtlichen Lebens“

(vgl. Dilthey 1958, 146 – 152) begreifen und können daher – durch die Geschlossen-heit ihrer Gestalt sogar mit besonderer Eignung – als Exempel herangezogen werden, um an ihnen die allgemeinen Grundbestimmungen der hermeneutischen Erfahrung herauszupräparieren. So betrachtet läuft der Vorwurf, wonach Gadamer die existen-zialapriorische Weite des Heideggerschen Ansatzes auf eine eher traditionell gefärbte Texthermeneutik reduziert habe, ins Leere. Denn der Text bietet im genannten Sinne der Objektivation des geschichtlichen Lebens das Modell, mittels dessen Gadamer Hei-deggers formal-anzeigenden Aufweis der Vorstruktur des Verstehens einer konkreten Analyse unterwirft.

Als zentralen Gedanken dieser Analyse formuliert Gadamer: „Wer einen Text verste-hen will, vollzieht immer ein Entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest.

Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem her revi-diert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was dasteht“ (GW 1, 271). Das Vorverständnis als Ausgangspunkt der Verste-hensleistung grundiert jede konkrete Interpretation, die in ihrem Vollzug erst über die Stichhaltigkeit aller an den Text qua Sinnerwartung herangetragenen Vormeinungen entscheidet. Stichhaltigkeit bezeichnet jene Form von Objektivität, die als Bewährung der Vormeinung zu fassen ist. Das heißt, das Verständnis für eine wissenschaftlich-me-thodisch sauber durchgeführte Verstehensleistung hängt für Gadamer amKriterium der Bewährung, das mit Blick auf die geforderte Sinnadäquatheit des Verstehens darin ei-ner Prüfung der Legitimität der Vormeinungen gleichkommt. Es reicht folglich nicht zu konstatieren, daß Menschen als verstehende Wesen nur unter Rückbezug auf ein Vorverständnis verstehen können. Die hermeneutische Aufgabe besteht vielmehr im Herausarbeiten dessen, was es mit diesen Vormeinungen auf sich hat. Indem mit ande-ren Worten auf das Vorverständnis des Interpreten ref lektiert wird, gelingt es Gadamer, Abstand bzw. Differenz zwischen Text und Interpret so zu bestimmen, daß auf beiden Seiten, also Text wie Leser, die jeweiligen Vormeinungen als konstitutive Strukturmo-mente für ein sinnadäquates Verstehen sichtbar werden.

Mit Blick auf die Bedingung der Möglichkeit für eine methodisch saubere sinnad-äquate Verstehensleistung hebt Gadamer in bezug auf die Vormeinungenzwei Merkmale heraus. Zum einen meint Vormeinung in diesem Kontext Vormeinung des jeweiligen

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Sprachgebrauchs, und zwar in der Unterscheidung von Text und Interpret.1 Anderer-seits sind es die „inhaltlichen Vormeinungen, mit denen wir Texte lesen und die unser Vorverständnis ausmachen“ (GW 1, 272f.) und die ihrerseits unterschieden werden müssen von der inhaltlichen Vormeinung des Textes respektive seines Verfassers, die im Text selbst „ausgesprochen wird und die ich zur Kenntnis zu nehmen habe, ohne daß ich dieselbe zu teilen brauche“ (GW 1, 273).

Das Entscheidende ist nach Gadamer, daß im Aufweis der zwischen Text und Inter-pret zu markierenden Differenzpunkte Sprachgebrauchundinhaltliche Vormeinung die Bedingungen festgeschrieben sind, unter denen sich ein Interpret mit der Intention auf adäquates Sinnverstehen einem auszulegenden Sachverhalt zuwendet. Da der in beiden Aspekten artikulierte phänomenale Sachverhalt unhintergehbar ist, können Vor-meinungen nicht eliminiert werden. In bezug auf diesen hermeneutisch grundlegenden Strukturverhalt ist es für Gadamer im Sinne der in den Vormeinungen konkretisierten Vor-Struktur des Verstehens notwendig, auf Seiten des Interpreten dessen Eigendisposi-tionentransparent werden zu lassen. Ein erster Schritt hierzu ist getan, wenn man die

„andere Meinung zu dem Ganzen der eigenen Meinung in ein Verhältnis setzt oder sich zu ihr“ (GW 1, 273). Die darin angezeigte „Offenheit für die Meinung des ande-ren oder des Textes“ (GW 1, 273) formuliert so etwas wie den Minimalstandard der hermeneutischen Erfahrung.

Was sich in dieser Basisforderung ausspricht, ist die grundlegende hermeneutische Einsicht in dierelationale Bedingtheitallen Verstehens. Damit wird keiner Deutungsbe-liebigkeit im Sinne eines Geltungsrelativismus das Wort geredet. Denn in der „Vielfalt des ‚Meinbaren‘, d. h. dessen, was ein Leser sinnvoll finden und insofern erwarten kann, ist doch nicht alles möglich, und wer an dem vorbeihört, was der andere wirklich sagt, wird das Mißverstandene am Ende auch der eigenen vielfältigen Sinnerwartung nicht einordnen können“ (GW 1, 273). Mit anderen Worten trägt die Zuwendung zu so et-was wie einem Text durchaus die notwendige Tendenz in sich, das zu Verstehende so zu erfassen, wie es seiner Eigenintention nach verstanden werden will, und d. h. die Frage nach demMaßstabfür die Adäquatheit der Verstehensleistung bindet sich an den Sinngehalt des Textes, ohne sich deshalb vollständig vom Leser abkoppeln zu können.

Denn der als Objektivation des geschichtlichen Lebens gefaßte Text erschließt sich nur in der Relation auf den Wirkungsbezug, den der Text auf Seiten des Interpreten entfaltet (Gander 2006, bes. Teil 1).

In einer Art von hermeneutischem Postulat formuliert Gadamer: „Wer einen Text verstehen will, ist […] bereit, sich von ihm etwas sagen zu lassen. Daher muß ein

1 „Wir erkennen […] die Aufgabe an, aus dem Sprachgebrauch der Zeit bzw. des Autors unser Verständnis des Textes erst zu gewinnen […] [wobei] es im allgemeinen erst die Erfahrung des Anstoßes ist, den wir an einem Text nehmen – sei es, daß er keinen Sinn ergibt, sei es, daß sein Sinn mit unserer Erwartung unvereinbar ist –, die uns einhalten und auf das mögliche Anderssein des Sprachgebrauchs achten läßt“ (GW 1, 272).

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hermeneutisch geschultes Bewußtsein für die Andersheit des Textes von vornherein empfänglich sein. Solche Empfänglichkeit setzt aber weder sachliche ‚Neutralität‘

noch gar Selbstauslöschung voraus, sondern schließt die abhebende Aneignung der eigenen Vormeinungen und Vorurteile ein“ (GW 1, 273f.). Bei sich selbst anzusetzen ist für Gadamer demnach unumgänglich, sofern der Verstehende sich einem Text niemals neutral zuwendet. Neutralität, die zugunsten einer vorgeblichen Objektivität den Anschein eines von sich selbst distanzierten Unbeteiligtseins des Subjekts mit sich führt, gehört, wenn es um das sinnadäquate Verstehen der in Texten uns erreichenden Überlieferung geht, in das Reich der Fiktion. Demgegenüber gilt es, „der eigenen Voreingenommenheit innezusein, damit sich der Text selbst in seiner Andersheit darstellt und damit in die Möglichkeit kommt, seine sachliche Wahrheit gegen die eigene Vormeinung auszuspielen“ (GW 1, 274).

Der Wahrheitsanspruch eines Textes, also die adäquate Sinnerschließung seines Ge-haltes entfaltet sich einzig für und in einemkritisch reflektierten Verstehen. So gesehen besteht die hermeneutische Aufgabe eines mit methodischem Bewußtsein geführten Verstehens für Gadamer darin, „seine Antizipationen [d. i. die Sinnerwartungen, die als Vormeinungen die Zuwendung zum Text motivieren] nicht einfach zu vollziehen, sondern sie selber bewußt zu machen, um sie zu kontrollieren und dadurch von den Sachen her das rechte Verständnis zu gewinnen“ (GW 1, 274). Aus dieser Selbstverge-wisserung heraus kann der Interpret in expliziter Weise zu den im auszulegenden Text vertretenen Sinnmeinungen begründet Stellung nehmen. Allerdings bleibt dabei offen, ob aufgrund dieser Selbstkontrolle der Interpret hinsichtlich der Sinnmeinungen des Textes sich affirmativ oder kritisch absetzend verhält. Beschreibt die konstitutive Diffe-renz der Vormeinungen von Text und Interpret in diesem Sinne die Ausgangsposition des hermeneutisch geisteswissenschaftlichen Interpretationsansatzes, so gewinnt diese Position ihre Dignität in der sie tragenden und auf entscheidende Weise prägenden

„Anerkennung der wesenhaften Vorurteilshaftigkeit alles Verstehens“ (GW 1, 274).

Gadamer unterscheidet zwei Arten von Vorurteilen. Zum einen gibt espersönliche Vor-urteile. Sie sind für andere wie für mich in der Regel ohne weiteres zu durchschauen.

Das heißt, man kann in einer persönlich aktiv beteiligten Weise mit ihnen umgehen, also auf ihnen bestehen oder sie gegebenenfalls korrigieren. Daneben gibt es die her-meneutisch eigentlich relevanten und das sind die „undurchschauten Vorurteile“ (GW 1, 274, Hervorhebung vom Autor), nämlich die geschichtlich in uns wirksamen Vor-meinungen, die uns nicht mehr in ihrem Ursprung unmittelbar zugänglich sind.2 Sie werden nach Gadamer nur in einer Analyse offenkundig, die sich der Frage der positiv

2 So haben u. a. metaphysische Ideen sich längst außerhalb der philosophischen Spekulationen so sehr in kultu-relle, also politische, ästhetische, ethische usw. Selbstüberzeugungen umgemünzt, daß ihnen in dem Maße, wie z. B. Vorstellungen von Glück, Freiheit, Gerechtigkeit individuelle wie gesellschaftliche Ziele prägen, mindes-tens im Blick auf den europäisch geprägten Kulturraum eine universelle Bedeutsamkeit zugesprochen werden kann.

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verstandenenVorurteilshaftigkeit allen Verstehensals eines – und das ist wichtig – selbst geschichtlich erwirkten Prozesses nähert. Mit diesem Analyseansatz verbindet Gadamer drei programmatisch in sich verwobene Ziele: erstens Anerkennung der Vorurteile als Bedingungen des Verstehens; zweitens Rehabilitierung des Autoritätsbegriffes, womit sich drittens eine Rehabilitierung der Tradition vollzieht.

Die Analyse der strukturell positiv gefaßten ontologischen Vorurteilshaftigkeit alles Verstehens setzt ein, indem sie nach dem gegenwärtigen Stellenwert des Vorurteils für den Begriff des wissenschaftlich-methodischen Erkennens fragt. Dabei erweist sich deskriptiv, daß das Vorurteil heute gewöhnlich negativ konnotiert wird. Aus dieser Zustandserfassung heraus erfolgt die hermeneutische Aufgabe, den bedeutungsverschiebenden Prozeß zu untersuchen, der begriffsgeschichtlich zur Ausbildung der gegenwärtig negativen Einschätzung des Vorurteils geführt hat.3 Die Ursache für die Bedeutungsverschiebung liegt für Gadamer historisch wie sachlich in der, wie er es nennt, „Pauschalforderung der Aufklärung“ (GW 1, 280), alle Vorurteile zu überwinden. Befördert wird dieser Prozeß nach Gadamer durch ein selbst darin undurchschautes Vorurteil, das am Grunde dieser Entwicklung diesseits ihrer Selbstauffassungen ihr Wesen bestimmt. In Gadamers Worten: „Dies grundlegende Vorurteil der Aufklärung ist das Vorurteil gegen die Vorurteile überhaupt und damit die Entmachtung der Überlieferung“ (GW 1, 275).

Daß sich mit der angenommenen Bedeutungsverschiebung eine Entmachtung der Überlieferung verbindet, macht die eigentliche Stoßrichtung seiner Aufklärungskritik sichtbar, die sich inhaltlich in erster Linie an der philosophisch wie wissenschaftlich motivierten Religionskritik der Aufklärung festmacht. Die Instanz, die über die theolo-gischen Geltungsansprüche befindet, ist die Vernunft, da sie im Sinne der Aufklärung

„die letzte Quelle aller Autorität“ (GW 1, 277) darstellt. Vor ihrem Richterstuhl müssen sich alle Urteile in ihrem Wahrheitsgehalt durch Begründung bewähren. In diesem Sinne erscheint das auf dem Boden dogmatischer Auslegung in Glaubensfragen fixierte religiöse Urteil im Verhältnis zur wissenschaftlichen Kritik als ein Vorurteil, das seinerseits bestimmt ist durch einen eklatanten Mangel an Begründung. „Das Fehlen der Begründung läßt in den Augen der Aufklärung nicht anderen Weisen der Gültigkeit Raum, sondern bedeutet, daß das Urteil keinen in der Sache liegenden Grund hat, ‚ungegründet‘ ist“ (GW 1, 275). Zu Recht erkennt Gadamer darin das Grundmuster des Rationalismus wieder. Seinen Gewährsmann hierfür benennt er selbst, wenn er darauf verweist, daß unter dem Anspruch wissenschaftlicher Erkenntnis Vorurteile ausschalten zu wollen, heißt, Descartes’ Prinzip des methodischen Zweifels zu folgen, also nichts gelten zu lassen, was sich nicht als gewiß annehmen läßt.

3 Vgl. dazu die in Psychologie und Soziologie als empirische Wissenschaft etablierte Vorurteilsforschung („at-titude research“), in der es um die Analyse von sozial verursachten Einstellungen und psychischen Haltungen geht, die sich in diskriminierenden Werturteilen artikulieren.

 H-H G

Gadamers Hinweis auf das cartesianische Prinzip ist interpretatorisch insofern von Bedeutung, als er geeignet ist, sein Aufklärungsverständnis näher zu erhellen. Denn dieser Hinweis zeigt, daß die Vorurteilskritik, um die es ihm vorrangig zu tun ist, sich auf den erkenntniskritischen Geltungsanspruch von Wissenschaft und Philosophie konzentriert. Mehr noch als im Feld der Religionskritik haben im Plan einer von Descartes her inspiriertenmathesis universalis Vorurteile den Charakter von falschen und d. h. von Fehlurteilen.

Für den Bereich der wissenschaftlichen Erkenntnis wird man Gadamers Diagnose einer der Aufklärung zuzuschreibenden radikalen Vorurteilskritik im Namen einer ahis-torisch auf allgemeine Gesetzmäßigkeit hin argumentierenden Vernunft durchaus als zutreffend anerkennen können. Denn ein rationalistischer Erkenntnisbegriff, der nicht mit der geschichtlichen Bedingtheit seines eigenen Ansatzes rechnet, ist in der Tat blind für die hermeneutische Forderung, die Vor-Struktur als ontologisch positiven Befund der menschlichen Erkenntnis anzuerkennen. Nun suggeriert Gadamer allerdings, daß dieser Befund eine Gesamteinschätzung der Tendenzen der Aufklärung erlaube, die für ihn als ganze das Programm einer „Diskreditierung des Vorurteiles“ (GW 1, 276) verfolgt. Hier aber ist Vorsicht geboten. Denn indem Gadamer das, was er am ra-tionalistischen Erkenntnisbegriff als Fehleinstellung aufdeckt und im Verhältnis zum Vorurteilsbegriff in der Aufklärung wiederfindet,pars pro totonimmt, schiebt er beiseite, daß die Aufklärung mit Blick auf den nichtwissenschaftlichen Bereich der menschli-chen Lebenspraxis, die in ihrem geschichtlimenschli-chen Erfahrungsreichtum ihrerseits zum Gegenstandsbereich der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik zählt, eine Vielfalt von Vorurteilstheorien entfaltet hat, die sich nicht auf die rationalistische Vorurteilskritik verrechnen lassen. Natürlich weiß auch Gadamer um diesen historischen Tatbestand.

So verweist er, wenn auch recht vage, auf die in der deutschen Aufklärung anerkannten

„,wahren Vorurteile‘ der christlichen Religion“ (GW 1, 277) und nennt in diesem Kon-text Georg Friedrich MeiersBeyträge zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts, ohne allerdings aus diesem Hinweis die naheliegende Konsequenz zu zie-hen. Denn Meier formuliert hier eine virulente Kritik an der Forderung nach radikaler Vorurteilslosigkeit, die er zu den „Uebereilungssünden des menschlichen Verstandes“

(Meier 1776, 6) zählt, und betont gegen sie die natürliche Unvermeidbarkeit der Vor-urteilshaftigkeit unserer Erkenntnis.4

4 Vor Meier haben auch andere Autoren wie Christian Thomasius oder Thomas Abbt im Diskurs der Aufklä-rung auf die Virulenz der Vorurteilsfrage verwiesen. Mit seiner Herleitung des Vorurteils aus der subjektiven Sinnlichkeit steckt auch Kant den Rahmen ab, innerhalb dessen Vorurteile sich als legitime Gegenstände der psychologischen bzw. anthropologischen Betrachtung ausnehmen: „Vorurtheile sind eigentlich gar nicht für die Logic. Denn sie hat mit den objectiven Gründen des Verstandes, und nicht mit den subjectiven Ursachen deßselben zu thun. […] Es gehört also eigentlich für die anthropologie. […] Vorurtheil ist eine bloße Gegeben-heit. Alle explication der Gegebenheit gehört zur psychologie“ (Kant 1966, 879). Vgl. zu den Vorurteilstheorien der Aufklärung: Schneiders 1983; mit Bezug auf Gadamer vgl. Teichert 1991, bes. 93 – 97.

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Wenn folglich im Rahmen der Aufklärung die theoretische Ref lexion in sorgfältiger Erwägung der Anwendungsbereiche die rationalistische Tendenz auf eine Ausweitung ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisstandards hinsichtlich der alltäglichen Lebenspraxis gerade mittels elaborierter Vorurteilstheorien einzuschränken sucht, was ja ganz in Ga-damers Sinne ist, so wirkt dessen extrem kritische und vereinfachende Sicht erstaunlich.

Die Verwunderung darüber legt sich ein wenig, wenn man darauf achtet, daß es ihm inhaltlich gar nicht so sehr um die Vorurteilstheorien zu tun ist. Denn die von ihm pau-schalisierte Vorurteilskritik der Aufklärung, die er in ihrer Entwicklungslinie über die Romantik bis zum Historismus ausweitet, bildet nichts anderes als eine Kontrastfolie, vor der er sein eigenes Anliegen, die Vor-Struktur als ontologische Bedingung des Ver-stehens auszuweisen, zu profilieren sucht. Dies allerdings geschieht um den Preis nicht nur einer Verengung von historischen Sachverhalten, die geradezu als Kronzeugen in eigener Sache hätten fungieren können, sondern er verstellt sich zudem die Möglich-keit, auf innovative Weise das kritische Ref lexionspotential der Aufklärung für seinen hermeneutischen Ansatz produktiv werden zu lassen.

In seinem Versuch einer „grundsätzlichen Rehabilitierung des Begriffes des Vorur-teils“ (GW 1, 281) geht es Gadamer mit anderen Worten in Wahrheit nicht so sehr um die Aufklärung und deren Ziele als vielmehr um die Klärung der hermeneutischen Si-tuation, in der Vormeinungen bzw. Vorurteile unabweisbar mein verstehendes Sein in der Welt indizieren und auch strukturieren. Die für seine Konzeption von Hermeneutik zu stellendeerkenntnistheoretische Grundfragelautet daher: „Worin soll die Legitimation von Vorurteilen ihren Grund finden? Was unterscheidet legitime Vorurteile von all den unzähligen Vorurteilen, deren Überwindung das unbestreitbare Anliegen der kritischen Vernunft ist?“ (GW 1, 281f.).

8.2

InWahrheit und Methode verbindet Gadamer die Antwort auf die erkenntnistheoreti-sche Grundfrage mit derRehabilitierung des Autoritäts- und Traditionsbegriffs, was seiner Konzeption immer wieder den Ruf eines darin gepf legten Konservatismus eingehan-delt hat.5Um gegenüber solchen Rubrizierungen die philosophische Tragweite der von

5 Diese Passagen vor allem waren es, die in den späten 60er Jahren des 20. Jahrhunderts Vertreter der Ideo-logiekritik aus dem Kreis der Kritischen Theorie mit Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel an der Spitze dazu bewogen, Gadamers Hermeneutik in den Verdacht eines darin vertretenen Konservatismus zu stellen.

Den Ansatzpunkt fanden sie in Gadamers Versuch, die Rehabilitierung des Vorurteilsbegriffs mit einer ra-dikalen Aufklärungskritik zu verbinden, während die Ideologiekritik sich in der Erblinie der Aufklärung sah.

Die Debatte findet sich dokumentiert in: Apel, K.-O. (u. a.) 1971. Für eine angemessene Aufarbeitung dieser heute nurmehr zeithistorisch interessanten Debatte wäre diesseits der ordnungspolitischen Lagerzuschreibun-gen sowohl auf Gadamers Seite wie auch auf Seiten der Ideologiekritik vorab deren jeweilige Einstellung zur

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Gadamer formulierten TriasVorurteilshaftigkeit, Autorität, Traditionzu ermessen und zu-gleich für die in seiner erkenntnistheoretischen Grundfrage liegenden eigentümlichen Provokation zu sensibilisieren, erscheint es nötig, sich zuvor auf das ihr eingeschriebene Wahrheitsverständnisein Stück weit einzulassen (vgl. Grondin 1994). Denn für eine zu-reichende Bestimmung der Verstehensleistung im Blick auf das Vorverständnis als deren Möglichkeitsbedingung muß die Wahrheitsproblematik geklärt sein, da bei Gadamer das Wahrheitsverständnis ontologisch betrachtet jene Funktion besetzt, die für Hei-degger, an dessen existenzialen Verstehensbegriff er anschließt, das Seinsverständnis als das Unvordenkliche des menschlichen Existenzvollzugs besitzt.

Sofern sich traditionell die Wahrheit als Übereinstimmung von Vorstellung und Sache (adaequatio intellectus et rei) bestimmt findet, wird bekanntlich seit Aristoteles

Sofern sich traditionell die Wahrheit als Übereinstimmung von Vorstellung und Sache (adaequatio intellectus et rei) bestimmt findet, wird bekanntlich seit Aristoteles