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Die Analogie zwischen phronesis und Hermeneutik

Im Dokument Hans-Georg Gadamer. Wahrheit und Methode (Seite 123-132)

9.2.1 Anwendung des Allgemeinen auf das Besondere im Handeln und im Verstehen Im Handeln wie auch im Verstehen erfolgt eine Anwendung eines Allgemeinen auf ein Besonderes. Jedoch ist mit dem Allgemeinen und dem Besonderen in beiden Fällen etwas anderes gemeint. Im Handeln bezieht diephronesisdie allgemeinen Ziele des Han-delnden auf die besondere Situation, um zu ermitteln, worin das richtige Verhalten in dieser Situation besteht. Das heißt: Die praktische Vernünftigkeit sieht die Handlungs-situation daraufhin an, welche Ziele des Handelnden sich in ihr verwirklichen lassen. Auf diese Weise gelangt sie zu einem „richtigen Urteil“ (orthos logos), welches die Entschei-dung (prohairesis) des Handelnden informiert und ihm so ein Vorziehen (prohairein) des Richtigen in der jeweiligen Situation ermöglicht.5Im Verstehen hingegen bezieht der Interpret eines Textes diesen Text als einen allgemeinen auf seine besondere Situation des Verstehens. Das heißt: Der Interpret teilt den Text mit vielen anderen Interpreten;

insofern ist der Text allgemein. Was die einzelnen Interpreten voneinander unterschei-det, ist der Zeitpunkt, zu dem sie den Text lesen und ihre vorausgegangenen Lektüren sowie ihre jeweils individuelle Lebensgeschichte. All die zuletzt genannten Faktoren tragen jedoch dazu bei, daß der Verstehenshorizont eines Interpreten individuell ist, obgleich diese Individualität in Gadamers Ansatz eingeschränkt ist, wie wir noch sehen werden. Um den Text zu verstehen, muß der Interpret eine Vermittlung des Allgemei-nen mit dem Besonderen leisten. Denn nur dann, wenn er die Aussagen über eine Sache, die ihm im Text begegnen, auf seine bisherigen Annahmen hinsichtlich der in Frage stehenden Sache bezieht – die im Text gefundenen Aussagen also auf seine bisherigen Vorurteile anwendet –, führt seine Auseinandersetzung mit dem Text zu einem anderen Verständnis der Sache. Und nur in diesem Fall kann man von dem Interpreten behaup-ten, er hätte den Text verstanden.

Gadamer betont jedoch, daß weder das Einzelne noch das Allgemeine vor der Begeg-nung mit einer Handlungssituation oder vor der Lektüre eines Textes gegeben wären.

Erst in dem Aufeinandertreffen von Handelndem und Handlungssituation sowie von Interpretem und Text zeige sich das Allgemeine, als etwas in dieser Situation Erstrebens-wertes. Der Handelnde sei aufgefordert, „der konkreten Situation gleichsam anzusehen,

5 Zum Verhältnis vonphronesisund richtigem Urteil vgl. Rese 2003, 125 – 130, zum Verhältnis von Urteil und Entscheidung vgl. Rese 2003, 178 – 189.

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was sie von ihm verlangt“ (GW 1, 318). So gibt es das Gute – in Gadamers Deutung – für den Handelnden erst, wenn er mit einer Handlungssituation konfrontiert ist. Ebenso verhalte es sich mit dem Interpreten: Auch der Interpret findet den Sinn eines Textes nicht als ein Allgemeines vor, das unabhängig von ihm gegeben wäre. Vielmehr muß er den Text auf sein bisheriges Verständnis der Sache und seine konkrete Situation bezie-hen, wenn er überhaupt einen Zugang zu dem Sinn des Textes haben will (vgl. GW 1, 329). Auch der Sinn eines Textes ist also nicht unabhängig von der individuellen Situa-tion des Verstehens gegeben.

So weit ist Gadamers Darstellung nachvollziehbar. Daß das Allgemeine, sei es nun ein Handlungsziel oder der Sinn eines Textes, sich nur unter den konkreten Umständen einer Handlungssituation oder in der konkreten Situation des Verstehens eines Textes richtig fassen läßt, bedeutet meines Erachtens jedoch nicht, daß es nicht auch jenseits von dieser Situation gegeben sein kann. Für Aristoteles ist der Handelnde aufgrund sei-nes Charakters auf bestimmte Handlungsziele ausgerichtet, dieper segut oder schlecht sind.6Aristoteles bringt sie in Form eines Kanons von Charaktertugenden und Charak-terschwächen zum Ausdruck. Die diesem Kanon zugrundeliegende Idee ist: Je nachdem, welche Tugenden oder Schwächen den Charakter eines Handelnden prägen, wird dieser Handelnde anderes für gut halten und in einer konkreten Situation dazu neigen, dieses anderem vorzuziehen. Jemand, der mutig ist, wird sich auch in einer konkreten Situation eher mutig verhalten; jemand, der gerecht ist, wird sich auch in einer konkreten Situa-tion eher gerecht verhalten, usw. Der Charakter disposiSitua-tioniert den Handelnden also zu einem bestimmten Verhalten, und dies geschieht bereits vor der Begegnung mit der konkreten Handlungssituation. Diesen Umstand blendet Gadamer jedoch ab, indem er das Gute als etwas Erstrebenswertes ganz in die Handlungssituation verlagert. Auf der den Interpreten und sein Verhältnis zum Text betreffenden Seite der Analogie hat dies zur Folge, daß es auch für den Interpreten keinen außerhalb des Textes gelegenen Maß-stab gibt, an dem er das im Text Gesagte messen könnte. Deshalb besteht die Absicht des Interpreten in Gadamers Beschreibung nur darin, das in einem Text Gesagte mit seinem bisherigen Verständnis der Sache zu vermitteln, das heißt: es zu verstehen, nicht aber es zu kritisieren.

Diese Begleiterscheinung von Gadamers Deutung von Applikation wird außerdem durch die Verteilung des Allgemeinen und des Einzelnen verstärkt. Während das Ein-zelne im Handeln der Handlungssituation zugeordnet ist, das Allgemeine hingegen den die Situation übergreifenden Zielen, ist das Einzelne im Verstehen der Person des Interpreten und seinem besonderen Verstehenshorizont zugeordnet, das Allgemeine hingegen dem Text, der von vielen Interpreten rezipiert werden kann. Da in beiden Fällen das Allgemeine auf das Einzelne angewandt wird, hat dies zur Folge, daß der

In-6 Zu Aristoteles’ Auffassung bezüglich der Gegebenheit der Handlungsziele durch den Charakter vgl. Rese 2003, 73 – 102, bes. 99 – 102.

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terpret sich und sein Verständnis der Sache, wenn er einen Text verstehen möchte, dem Verständnis der Sache, wie es ihm im Text begegnet, unterordnet (vgl. GW 1, 316).

Deshalb fehlt dem Interpreten in Gadamers Ansatz die Möglichkeit zur Kritik an dem im Text Gesagten.

Anstatt dies jedoch als einen Mangel in Gadamers Deutung des Verstehens zu werten, könnte man es auch als eine Beschreibung dessen begreifen, was im Verstehen tatsäch-lich geschieht. Im Verstehen eines Textes wird nicht ein bereits vorhandenes Wissen auf einen Text angewandt und das im Text Gemeinte derart auf das bereits Bekannte zurechtgestutzt. Vielmehr wendet der Interpret den Text auf seine bisherigeren Urteile bezüglich einer Sache an. Auf diese Weise wird sein Wissen modifiziert. Von der Ap-plikation des Allgemeinen auf das Besondere sind bei Gadamer also die Vorurteile des Interpreten über eine Sache und damit der Interpret selbst und sein bisheriges Wis-sen betroffen. Hat Johann Jacob Rambach bei der „praktischen Applikation“ vor allem die Zuhörer der Auslegung eines religiösen Textes vor Augen und ist damit die Absicht bezeichnet, einen religiösen Text unter den Bedingungen einer historischen Verstehens-situation gegenüber den Zuhörern zum Sprechen zu bringen, so steht bei Gadamer der Interpret selbst im Vordergrund. Die Applikation ist ein Moment seines Verstehens des Textes. Deshalb muß der Interpret das im Text Gesagte unter den Bedingungen einer historischen Situation nicht künstlich zu aktualisieren versuchen. Er muß sich nur dem Geschehen der Wirkung des Textes auf sein bisheriges Verständnis der Sache aussetzen.

Dann erhält jeder historische Text Aktualität.

9.2.2 Überlegung des Handelnden und des Interpreten Nachdem so deutlich geworden ist, wie Gadamer die Anwendung des Allgemeinen auf ein Besonderes im Rekurs auf Aristoteles im Falle des Handelnden begreift und sie auf den Fall des Interpreten überträgt, werde ich jetzt die Tätigkeit derphronesis ge-nauer betrachten. Die Tätigkeit der praktischen Vernünftigkeit besteht im Überlegen (bouleuesthai, vgl. EN VI 5, 1140a25 – 31). In der Überlegung wendet diephronesisdie allgemeinen Ziele des Handelnden auf die Umstände der besonderen Situation an. Auf diese Weise gelangt sie zu dem Urteil, das die Entscheidung und damit das Verhalten des Handelnden bestimmt. Das Verbbouleuesthaiist verwandt mit dem Nomenboule, das sich mit dem deutschen Wort „Rat“ übersetzen läßt, aber auch die Ratsversammlung bezeichnete, in der die politischen Angelegenheiten Athens beraten wurden (Menge-Güthling 1991, 138). Es bedeutet ursprünglich „jemanden in etwas beraten“; es kann aber auch „mit sich zu Rate gehen“ meinen und ist in diesem Fall auf die Überlegung bezogen, die eine Person für sich selbst anstellt (Menge-Güthling 1991, 138). In diesem Sinne verwendet es Aristoteles, wenn er davon spricht, daß ein Handelnder angesichts einer Handlungssituation mit sich zu Rate geht, das heißt: überlegt, was in dieser

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tion eine gute Handlung oder eine gute emotionale Reaktion wäre. In seinem frühen AufsatzPraktisches Wissenbetont Gadamer, daß die Fähigkeit, mit sich zu Rate zu gehen, auch aufgeschlossen für die Beratung anderer macht (vgl. Gadamer 1985, 245).7Nur weil wir überlegen können, können wir einen Rat annehmen. Hierzu ist zu bemerken:

Auch wenn Aristoteles selbst die Möglichkeit der Ergänzung der subjektiven Überle-gung durch die intersubjektive Beratung erwähnt (vgl. EN I 13, 1102b28 – 1103a1; EN III 5, 1112b8 – 11), steht in seiner Beschreibung derphronesisdie Überlegung als die mentale Aktivität des einzelnen im Vordergrund.

Wenn man nun auf die andere Seite der Analogie, nämlich die Seite der Textinterpre-tation blickt, stellt sich aber die Frage: Inwiefern kommt die Aktivität des Überlegens auch beim Verstehen eines Textes zum Tragen? Kann man sagen, daß ein Interpret, wenn er einen Text zu verstehen versucht,überlegt? Und wenn ja, wie ist diese Über-legung dann beschaffen? Während der Handelnde angesichts von einer Situation mit sich selbst zu Rate geht, wie er die von ihm angestrebten Handlungsziele in der Situa-tion verwirklichen kann, fragt sich der Interpret nicht, was er tun soll. Ihm ist klar, er will den Text verstehen. Im Verstehen findet also keine Überlegung der Art statt, wie sie angesichts einer Handlungssituation stattfindet. Dennoch weist die Interaktion eines Interpreten mit einem Text die Struktur der Überlegung auf. Statt eines Mit-sich-zu-Rate-Gehens liegt hier aber ein Mit-einem-anderen-zu-Rate-Gehen vor; der Andere ist der Text. Im Folgenden möchte ich deshalb zeigen: Wenn ein Interpret angesichts eines Textes überlegt, wie er das im Text Gesagte zu verstehen hat, dann geht er mit dem Text darüber zu Rate, wie die Sache, von der im Text die Rede ist und über die er zuvor schon nachgedacht hat, zu verstehen ist.

Die Überlegung des Interpreten beschreibt Gadamer in Anlehnung an die platonische Dialektik deshalb auch als einen Dialog in der Form von Frage und Antwort (vgl. GW 1, 368 – 384). Nun kann der Text aber nicht ebenso Fragen aufwerfen und Antworten geben, wie ein lebender Gesprächspartner es könnte. Deshalb muß der Interpret diese Aktivität für den Text übernehmen. In der Rekonstruktion der Frage, auf die der Text eine Antwort darstellt, und der Fragen, die in seinen einzelnen Abschnitten behandelt werden, bewegt sich der Interpret in den Bahnen, die ihm durch den Text vorgezeichnet sind. Das heißt: Er versucht zu verstehen, welche Frage als motivierende Frage einem Text zugrunde liegt und wie sie in den einzelnen Abschnitten des Textes behandelt wird.

Dabei geht der Interpret von seinen eigenen Fragen aus, die er bezüglich der Sache hat, von der auch der Text spricht. Indem er beginnt, die Abweichungen wahrzunehmen, die zwischen seinen eigenen Fragen bezüglich einer Sache und den im Text behandelten Fragen bestehen, fängt er an, von dem Text etwas Neues über die Sache zu lernen.

7 Gadamer hebt diesen Aspekt auch in seinen kommentierenden Bemerkungen zum sechsten Buch der Niko-machischen Ethikhervor (vgl. Gadamer 1998, 14).

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Um die Ansichten des Textes zu Wort kommen zu lassen, muß der Interpret ihnen in seinem eigenen Nachdenken über die Sache, von der auch der Text spricht, eine Stimme verleihen. Der Dialog zwischen Interpret und Text setzt also die Aktivität des Interpreten voraus, welcher nicht nur seine Vorurteile auf einen Text anzuwenden ver-sucht, sondern umgekehrt das im Text Gesagte auf seine Vorurteile und seine historische Situation des Verstehens anzuwenden versucht (vgl. GW 1, 329). Die Anwendung, die für das Verstehen charakteristisch ist, trägt sich für Gadamer also in der Form eines Dialoges zu. Vorbild dieses Dialoges ist die platonische Dialektik, in der Sokrates mit seinen Gesprächspartnern bestimmte Sachfragen erörtert. An die Stelle des Sokrates tritt hier jedoch der Text, der den Interpreten in seinem bisherigen Verständnis einer Sache herausfordert. Ähnlich wie Sokrates seine Gesprächspartner zu einem anderen Verständnis der Sache führen konnte, kann auch die Auseinandersetzung mit dem Text den Interpreten zu einem anderen Verständnis der Sache bewegen. Sein Nachdenken über die Sache wird durch den Text angestoßen und intensiviert. Die Überlegung der phronesis, dasbouleuesthai, wird von Gadamer im Hinblick auf den Interpreten also als ein Dialog mit dem Text im Stil einer platonischen Unterredung, kurz: als eindialegesthai, erläutert.8

Diese Orientierung an der platonischen Dialektik hat jedoch Konsequenzen für die Art von Überlegung, die dem Interpreten in der Auseinandersetzung mit einem Text in Gadamers Ansatz gestattet ist, oder, um es neutraler zu formulieren: die Art von Überlegung, die dem Interpreten einen Text zu verstehen erlaubt. Denn während die Überlegung der phronesisauf das Gute ausgerichtet ist – auf das Gute in der jeweili-gen Handlungssituation, aber auch auf das gute Leben des Handelnden im Ganzen (vgl. EN VI 5, 1140a25 – 28) – ist die platonische Unterredung auf kein vorgegebe-nes Ziel ausgerichtet; sie dient vielmehr der Erkenntnis der Sache, welche Gegenstand des gemeinsamen Gesprächs ist. Ähnlich verhält es sich für Gadamer in der Ausein-andersetzung eines Interpreten mit einem Text. Der Interpret mißt den Text nicht an einem vorgegebenen Maßstab, so wie der Handelnde sich an dem für gut Gehaltenen orientiert, sondern er versucht den Text zunächst einmal einfach nur in dem von ihm Be-haupteten zu verstehen. Indem Gadamer die Überlegung des Interpreten nicht mehr im Rückgang auf die Überlegung derphronesis, sondern im Rückgang auf die platonische Unterredung, dasdialegesthai, erläutert, kappt er die Überlegung derphronesis gleich-sam um ihre Spitze, nämlich um das Gute. Dies wirkt sich auf der hermeneutischen Seite der Analogie der Tätigkeit derphronesisund der Tätigkeit des Interpreten aber so aus, daß der Interpret in seiner Auseinandersetzung mit einem Text diesen Text nicht

8 Auf die Kontinuität zwischen Gadamers Aufnahme von Aristoteles’ praktischer Vernünftigkeit und seiner Anknüpfung an die platonische Dialektik haben bereits François Renaud und Enrico Berti hingewiesen, ohne jedoch auf die Sprache (logos) als das gemeinsame Moment von Überlegung und Dialektik aufmerksam zu machen (vgl. Renaud 1999, 94ff.; Berti 2000, 295f.). Für einen Vergleich von platonischer Dialektik und gada-merscher Hermeneutik vgl. auch Rese 2005.

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auf die Wahrheit des in ihm Gesagten befragt. Wahrheit wird von Gadamer vielmehr – in Anlehnung an die sokratische oder platonische Unterredung – als ein Geschehen verstanden, das sich in der Auseinandersetzung des Interpreten mit dem Text ereignet und seinen Fortschritt im Verstehen des im Text Gesagten und damit im Verständnis der Sache meint (vgl. GW 1, 490 – 494).

Man kann sich zu dieser Sicht von Auseinandersetzungsmöglichkeiten eines Inter-preten mit einem Text kritisch verhalten, wie zum Beispiel Jürgen Habermas dies getan hat.9Man kann sie jedoch auch zunächst einmal gelten lassen und ihre Vorzüge wür-digen. Denn soviel mag unbestritten sein: Nur wer seine eigenen Vorurteile nicht zum Maßstab jeglicher anderen Äußerung macht, vermag andere Äußerungen in ihrem ei-genen Anspruch zu verstehen und in ihrer eiei-genen Legitimität gelten zu lassen. Daß dies zu einem unkritischen Verhalten gegenüber den Äußerungen anderer – und sei es auch den Äußerungen, wie sie in den Texten der Tradition begegnen – führen kann, ist unbenommen. Eine unabdingbare Voraussetzung des Verstehens anderer Ansichten bildet es dennoch. Deshalb kann Gadamer in seiner Beschreibung der Auseinanderset-zung des Interpreten mit dem Text so sehr darauf beharren, daß der Interpret sich dem Text unterzuordnen habe. Die Hermeneutik ist für ihn „nicht ‚Herrschaftswissen‘ […], sondern ordnet sich selbst dem beherrschenden Anspruch des Textes unter“ (GW 1, 316). Sie versucht das, was im Text gesagt ist, unter den Bedingungen der Gegenwart zur Geltung zu bringen.

9.2.3 Gebundenheit des Wissens an die Person des Handelnden und an die des Interpreten

Obwohl der Interpret für Gadamer vor allem ein Mittler zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart ist, ein Dolmetscher, der die vergangenen Worte in die Sprache der Gegenwart zu übersetzen vermag, begreift Gadamer den Interpreten keineswegs als ein bloßes Mittel im Dienste des Verstehens vergangener Texte. Was den Interpreten zur Lektüre der Texte der Überlieferung bewegt, ist der Umstand, daß er in der Aus-einandersetzung mit ihnen eine hermeneutische Erfahrung machen kann (vgl. GW 1, 352 – 368). Diese hermeneutische Erfahrung ist jedoch an die Person des Verstehenden gebunden. In der Anwendung des Textes auf die gegenwärtige Situation des Verstehens ist zunächst der Interpret selbst gefragt. Es stehen nicht so sehr die Adressaten seiner Interpretation im Blick als vielmehr seine eigenen Vorurteile bezüglich der Sache, von der auch im Text die Rede ist. Um den Text zu verstehen, darf der Interpret „nicht von sich selbst und der konkreten hermeneutischen Situation, in der er sich befindet,

abse-9 Jürgen Habermas vermißt in Gadamers Hermeneutik die Möglichkeit der kritischen Bewertung der Behaup-tungen eines Textes. Die wichtigsten Veröffentlichungen der Debatte zwischen Habermas und Gadamer sind die folgenden: Habermas 1967 und 1971; Gadamer 1971a und 1971b.

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hen wollen. Er muß den Text auf diese Situation beziehen, wenn er überhaupt verstehen will“ (GW 1, 329). Dies spricht jedoch dafür, das Verstehen als ein Geschehen zu be-trachten, das sich im Geist oder im Bewußtsein des Interpreten vollzieht. Damit wird das Verstehen zu einer individuellen und einer persönlichen Angelegenheit.

Nun gibt es in GadamersWahrheit und Methodeallerdings ganz anderslautende Äuße-rungen. Vor allem im Kontext seiner Betrachtung der Vorurteile des Interpreten weist Gadamer darauf hin, daß die Vorurteile des Interpreten – und mit ihnen der Verstehens-horizont des Interpreten – historisch bedingt seien (vgl. GW 1, 280 – 281). Nicht nur ein Text entsteht unter bestimmten historischen Umständen und wird unter bestimm-ten historischen Umständen rezipiert, sondern auch der Interpret lebt unter bestimmbestimm-ten kulturellen und geistesgeschichtlichen Umständen, die sein Verständnis der Sache, um die es in dem Text geht, prägen. Der Verstehenshorizont des Interpreten ist dann aber gar nicht so individuell, wie es zunächst den Anschein hat. Der Interpret teilt ihn viel-mehr mit den meisten seiner Zeitgenossen. Am pointiertesten kommt diese Ansicht in Gadamers folgender Bemerkung zum Ausdruck: „Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens. Darum sind die Vorurteile des einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirk-lichkeit seines Seins.“ (GW 1, 281, letzter Satz im Original kursiv).

Daß sich diese Marginalisierung der Subjektivität schließlich auch in Gadamers An-satz nicht halten läßt, wird meines Erachtens aber gerade in Gadamers Rekurs auf die aristotelische Tugend der praktischen Vernünftigkeit (phronesis) deutlich. Angesichts der aristotelischen Tugend der praktischen Vernünftigkeit unterstreicht Gadamer nämlich, daß es sich bei dieser Tugend um eine besondere Art von Wissen handelt. Diephronesis sei ein Wissen, das dem einzelnen wesenhaft zugehört (vgl. GW 1, 321; 328f.).10Sie ist nicht von ihm abtrennbar, wie etwa das Wissen der Kunstfertigkeit (techne), sondern sie ist an die Person des einzelnen Handelnden gebunden. Deshalb kann sie auch an andere nicht so weitergegeben werden wie etwa das Wissen einer Kunstfertigkeit, sondern sie kann immer nur vom Handelnden selbst erworben werden, und zwar durch Erfahrung.

Selbst wenn Erfahrung auch für denjenigen von Bedeutung ist, der etwas herstellt und

Selbst wenn Erfahrung auch für denjenigen von Bedeutung ist, der etwas herstellt und

Im Dokument Hans-Georg Gadamer. Wahrheit und Methode (Seite 123-132)