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Pfiffikus durch Bewegungsfluss“ – Projekt zur integrativen Motorik und

Im Dokument Grundsätze elementarer Bildung (Seite 90-95)

Kognitionsförderung

Prof. Frank Bittmann, Jana Herrmann, Norman Radeiski, UniversitŠt Potsdam, Institut fŸr Sportmedizin und PrŠvention Die kšrperliche Verfassung von Kindern hat sich in den letzten 20 Jahren dramatisch ver-schlechtert. Immer wieder deuten zahlreiche Hinweise darauf, dass unsere Kinder heutzu-tage zu verminderter Gesundheit sowie geisti-ger und kšrperlicher Leistungsminderung ten-dieren, was fŸr die Zukunft eine Zunahme chronischer Erkrankungen befŸrchten lŠsst.

Die brandenburgische Sportlehrerschaft be-richtet dazu in jŸngster Zeit immer hŠufiger von BewegungsauffŠlligkeiten der Kinder und bestŠtigt die Zunahme konditioneller (Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit) und koordinativer SchwŠchen. Im Vergleich zu SchŸlern vor 20 Jahren laufen unsere Kinder heute langsa-mer, springen und werfen weniger weit und haben Probleme das Gleichgewicht zu halten So berichtet auch die Zeitschrift ãElternÒ (April 2000) von einer Zunahme fšrderbedŸrftiger Kinder von 16 auf 47%. Eine wichtige Ursa-che fŸr diese Fehlentwicklung ist in einer meist zu geringen und einseitigen Bewe-gungsfšrderung der Kinder zu suchen. Die zunehmende Kommunikationstechnologie unserer Lebensumwelt durch Computerisie-rung, Spielkonsolen, Telekommunikation ver-Šndert die Lebensgewohnheiten der Kinder und fŸhrt zu einer ãVerkŸmmerungÒ der in ihnen schlummernden FŠhigkeiten.

Einheit von Kšrper, Seele und Geist Die hier aufgezeigten Defizite im Bereich der Motorik sind allerdings nicht die einzige Fehl-entwicklung, die Anlass zur Sorge gibt:

Das Landesgesundheitsamt Brandenburg be-richtete, dass in den letzten 10 Jahren neben deutlich zunehmenden Allergien vor allem Sprach- und BewegungsauffŠlligkeiten bei brandenburgischen Kindern auftraten. Zudem zeigen die aktuellen Ergebnisse der PISA-Studie gravierende Defizite unserer Kinder im kognitiven Bereich. Kšrperliche Fehlentwick-lungen gehen also Hand in Hand mit solchen des Nerven- und Immunsystems. Bei einer gemeinsam mit dem Ministerium fŸr Bildung, Jugend und Sport in Brandenburg durchge-fŸhrten Untersuchung an 8oo brandenburgi-schen Kinder der 4. Klasse konnte der enge Zusammenhang zwischen geistiger und kšr-perlicher LeistungsfŠhigkeit aufgezeigt wer-den. Gute und schlechte SchŸler unterschie-den sich nicht nur hinsichtlich ihrer Schullei-stungen, sondern auch in ihrer BalancefŠhig-keit.

Beides sind in erster Linie Hirnleistungen. So kann es sein, dass generalisierte EinschrŠn-kungen der Funktion des Gehirns sich hier wie dort niederschlagen. Demnach kann ein nicht hinreichend ausgereiftes Nervensystem die Koordination und Kognition gleicher-ma§en beeintrŠchtigen.

Der bekannte Intelligenzforscher Howard Gardner (ãEmotionale IntelligenzÒ) unterschei-det innerhalb seiner ãTheorie der multiplen

ãPFIFFIKUS DURCH BEWEGUNGSFLUSSÒ 91 IntelligenzenÒ u.a. neben Logik und

Sprachin-telligenz auch musikalische und rŠumliche FŠhigkeiten sowie ãeine sogenannte kšrper-lich-kinŠsthetische (wie sie in Form von Be-wegung und Kšrperbeherrschung beispiels-weise bei Athleten, TŠnzern und anderen dar-stellenden KŸnstlern vorkommt)Ò (Spektrum der wissenschaft spezial: Intelligenz 2001) als eine der von ihm isolierten 9 Intelligenzfor-men. Diese Intelligenzformen Gardners lie-gen der gelie-genwŠrtig laufenden Diskussion um die kŸnftigen Bildungsziele der Kita zu Grunde.

DemgegenŸber weist allerdings die US-ame-rikanische Kognitionswissenschaftlerin Linda Gottfredson darauf hin, dass trotz der relati-ven EigenstŠndigkeit dieser Intelligenzformen eine hohe Korrelation zwischen diesen be-steht. Letztlich hŠngen diese verschiedenen Leistungsbereiche zusammen, bilden eine Einheit. Gottfredson schloss daraus, dass hirnphysiologische Funktionen ( wie etwa die Arbeitsgeschwindigkeit von neuronalen Schaltprozessen) hierbei eine entscheidende Rolle spielen mŸssen. Verschiedene Arbeits-gruppen in Nordamerika und Europa fanden denn auch einen mittleren Zusammenhang zwischen dem IQ und der kernspintomogra-fisch ermittelten Grš§e des Gehirns, aber auch mit einer hšheren Nervenleitgeschwin-digkeit und einem niedrigen Energiever-brauch des Gehirns beim Problemlšsen bei intelligenteren Personen. All diese Beobach-tungen fŸhren letztlich zu der Vermutung, die Unterschiede zwischen unterschiedlich intelli-genten Menschen rŸhrten von einer schnellen und effizienten Verarbeitung im Nervensy-stem her.

Die Grundlage fŸr effiziente Hirnfunktionen ist eine hinreichende Ausbildung von Verbindun-gen zwischen den Nervenzellen des Gehirns.

Hierzu ist bekannt, dass das Gehirn vor der Geburt Nervenzellen im †berschuss produ-ziert, die bis zum zehnten Lebensjahr abge-baut werden, wenn sie nicht durch die Bildung von Synapsen verschaltet werden. Und gera-de motorische AktivitŠten fšrgera-dern die Herstel-lung von Verschaltungen und die Freisetzung von Substanzen zur Erhaltung der Gehirnzel-len (P.M. direkt 3/2004).

Intelligenz dŸrfte damit davon abhŠngen, wie komplex die beteiligten Nervenzellen mitein-ander verschaltet sind und mit welcher Geschwindigkeit das Gehirn Informationen aufnimmt, verarbeitet, bewertet und beant-wortet. Diese QualitŠten sind fŸr gute kogniti-ve (z.B. gutes Lesekogniti-verstŠndnis) und fŸr gute sensomotorische Leistungen gleicherma§en erforderlich.

Hirnreifung fšrdern!

Demzufolge ist eine Fšrderung der Phase, in der das Hirn besonders schnell reift und wŠchst, besonders angezeigt, wenn wir die kindliche Entwicklung in allen ihren Facetten unterstŸtzen wollen.

Der Grad der nervalen Verschaltung (Myelini-sierung) der Neuronen des Gehirns ist beim Neugeborenen noch sehr gering. Die Art und Weise der verschiedensten Reize in den ersten Lebensjahren entscheiden wesentlich Ÿber die QualitŠt der Vernetzung und damit der Reifung des Gehirns. Neurophysiologisch gesichert ist, dass hierfŸr mšglichst vielseitige und vor allem gleichzeitige Aktivierungen ver-schiedenster Hirnzentren erfolgen mŸssen.

Dass hei§t, die Kinder sollten verschiedene TŠtigkeiten gleichzeitig tun. Damit eršffnet sich ein Weg, durch Anforderungen, die viele verschiedene Hirnareale gleichzeitig aktivie-ren, die Reifung des Nervensystems in den entscheidenden Entwicklungsjahren zu fšr-dern. Dies sollte ganz besonders in der Zeit bis zum 10. Lebensjahr geschehen, da dann das Nervensystem seine stŸrmischste Auf-bauphase bereits hinter sich hat.

Aus diesem Grund ist das Ziel unseres Pro-jektes, das wichtigste Ð alle Funktionen ver-mittelnde und integrierende Ð Organsystem:

das Nervensystem in seiner Entwicklung ins-besondere in seiner wesentlichen Reifungs-phase zu fšrdern. Dabei spielen das Kinder-garten- und Grundschulalter die entscheiden-de Rolle, weshalb Kitas und Grundschulen als Standorte fŸr solche Interventionen prŠdesti-niert sind!

Bewegung macht schlau!

In keiner anderen Lebensphase wenden sich Kinder mit so gro§er Begeisterung und so viel Neugierde ihrer Umwelt zu, wie in der Zeit vom 6. bis zum 10. Lebensjahr. Bewegung ist hier der wichtigste Entwicklungsreiz fŸr den kindlichen Organismus. Neben stauchenden KrŠften, die die Knochenreifung stimulieren oder verschiedenen Kraftentfaltungen, die die Entwicklung der Muskeln und Sehnen ermšg-lichen, ist Bewegung in erster Linie ein essen-tieller Reiz fŸr die Ausreifung der Strukturen des zentralen Nervensystems.

Das Vor- und Grundschulalter ist die zeitlich limitierte sensitive Phase, innerhalb der Ð neben anderen Strukturen Ð insbesondere das Nervensystem zur weit gehenden

Ausrei-fung gelangt. Durch Bewegungsreize werden die weit verzweigten, komplexen und auf beide HirnhŠlften verteilten motorischen Zen-tren aktiviert und somit entwickelt. Man kann davon ausgehen, dass damit ein positiver Entwicklungsreiz auch fŸr andere Hirnleistun-gen gesetzt wird. VersŠumnisse in dieser Zeit sind nicht adŠquat aufholbar.

Reifungsfšrdernde Strategien der motorischen Erziehung im Kita-Alltag erforderlich

Aus entwicklungsphysiologischer Sicht kommt es darauf an, dass sich Kinder im Vor-schul- und Grundschulalter hŠufig und lange mit den unterschiedlichsten koordinativen Aufgaben auseinandersetzen sollen. Wenn dabei die Leistung des Gehirns im Mittelpunkt stehen soll, mŸssen allerdings derartige Akti-vitŠten mšglichst viele und gro§e Hirnareale aktivieren. Dies sind insbesondere Hirnareale der Sinnesverarbeitung (tasten, sehen, hšren, riechen, schmecken) und der motori-schen Steuerung. So benutzt z.B. ein Kind wesentlich mehr Nervenstrukturen, wenn es einfache FingerŸbungen macht als wenn es Kniebeugen durchfŸhrt. Es gibt also bestimm-te Bewegungsaufgaben, die aus Sicht der Hirnreifung von besonderem Wert sind. Wich-tig ist, all diese spezifischen sensorischen und motorischen FŠhigkeiten mšglichst im sensitiven Alter von 3 bis ca. 10 Jahren hŠu-fig und in komplexen und vielfŠltigen Formen zu Ÿben und simultan mit kognitiven Anforde-rungen zu kombinieren. Dies erfordert eine geeignete †bungsauswahl und -kombination sowie deren altersgerechte, freudbetonte, (bewegungs-) pŠdagogische Aufbereitung.

ãPFIFFIKUS DURCH BEWEGUNGSFLUSSÒ 93 Das Projektkonzept

Unser Projekt ãPfiffikus durch Bewegungs-flussÒ verfolgt das Ziel, die Phase der maxi-malen Hirnreifung in der Zeit zwischen 4. und 11. Lebensjahr (im ersten Schritt innerhalb des Projektes zwischen 4. und 7. Lebensjahr) optimal zu fšrdern. Im Ergebnis soll die in die-ser Zeit intensiv vor sich gehende Vernetzung von Hirnstrukturen verbessert werden. Damit sollen letztlich beim Kind optimale biologische Bedingungen geschaffen werden fŸr eine har-monische, ganzheitliche Entwicklung auf hohem Niveau. Es geht nicht um das isolierte Training einzelner FŠhigkeiten, sondern mit der UnterstŸtzung der nervalen Reifung um die Schaffung universeller (systemische) Grundlagen fŸr mšglichst viele kšrperliche, geistige, seelische und auch soziale Kompe-tenzen, die parallel und v.a. spŠter darauf auf-bauend entwickelt werden sollen.

Zu diesem Zweck werden in vier Potsdamer KindergŠrten der TrŠger Internationaler Bund sowie Independent Living spezielle †bungs-programme erarbeitet und erprobt. Dies erfolgt in Zusammenarbeit von Kita-Erziehe-rinnen und einem Wissenschaftlerteam des Instituts fŸr Sportmedizin und PrŠvention der UniversitŠt Potsdam. Das Projekt wird von der AOK des Landes Brandenburg sowie vom Ministerium fŸr Bildung, Jugend und Sport gefšrdert und in allen Belangen unterstŸtzt.

Ein wichtiger Punkt bei der DurchfŸhrung des Projektes ist, dass die †bungen nicht als zu-sŠtzliche Last zum ohnehin schon vollen Kita-Programm aufgepfropft werden, sondern sich in den normalen Alltag organisch einfŸgen.

Hierzu werden insbesondere alltŠgliche Pro-zeduren wie z.B. das Mittagessen oder der

Weg zum Essenraum genutzt, um regelmŠ§i-ge Anreize zu schaffen, die wertvollen ãPfiffi-kusÒ- †bungen umzusetzen.

Eine weitere Besonderheit liegt im pŠdagogi-schen Ansatz:

Zum Trainieren neuromotorischer Aufgaben bietet sich die ZirkuspŠdagogik wie kein zwei-tes pŠdagogisches Konzept an. OriginŠre Zir-kuskŸnste beinhalten neben der Fšrderung der Sensomotorik auch psychologische und soziale QualitŠten. So werden z.B. diverse Balanceleistungen, Jonglage in den unter-schiedlichsten Schwierigkeitsstufen, aber auch Clownerie, Tanz und Musik zu einem Gemeinschaftsunternehmen vereint, in das sich jedes Kind differenziert nach seinen Mšglichkeiten einbringen kann. Im Element-arbereich wird fŸr diese KŸnste ein Grund-stein gelegt, indem in jeder Kita einfache grundlegende Formen geŸbt werden.

Zu Beginn des Projektes erfolgte eine um-fangreiche Eingangsuntersuchung des Ent-wicklungsstandes der teilnehmenden Kinder.

Hierbei ging es um die kšrperliche, motori-sche und geistige Entwicklung.

Nach Ablauf der Interventionsphase von 3 Jahren kommt dann die Abschlussuntersu-chung, mit der die mšglicherweise erzielten Effekte gemessen werden.

Erfahrungen nach dem ersten Jahr Nach Abschluss der Eingangsuntersuchung begann die Entwicklung einer †bungskartei fŸr den tŠglichen Gebrauch in der Kita. Es zeigte sich bald, dass die EinfŸhrung und Realisierung von einer Reihe von Rahmenbe-dingungen abhŠngen. Dazu gehšren z.B. per-sonale Faktoren (Einstellung und

Engage-ment der Beteiligten, UnterstŸtzung durch die Leitungsebene und Eltern, Personalausstat-tung...), organisatorische Faktoren (Gruppen-grš§e, Zeitmanagement, pŠdagogisches Konzept...) oder etwa die rŠumliche und sŠch-liche Ausstattung.

Im Verlauf der Integration des Projektes in den Kitas wurden die einzelnen Gruppen-oder FunktionsrŠume von den Erzieherinnen unter die Lupe genommen und so umstruktu-riert, dass die Kinder jetzt mehr Bewegungs-freiheit haben. Auch konnten mit einfachen Hilfsmitteln, wie z.B. Klebestreifen auf dem Boden, Anreize geschaffen werden, die die Kinder dazu verleiten sich vielseitig und expe-rimentell zu bewegen.

Die Integration der †bungen in den Alltag ent-puppte sich dabei als die grš§ere Herausfor-derung als die Entwicklung der Inhalte.

Hierbei erwies es sich als notwendig, neben den †bungsinhalten auch die Methodik des Einsatzes im Alltag zu entwickeln. Auf der Suche nach dem ãWieÒ kristallisierten sich verschiedene AnsŠtze heraus, mit deren Hilfe eine ausreichende Implementierung des Pfif-fikus-Projektes in den Kitas gewŠhrleistet werden kann. Die †bungen wurden beispiels-weise in die tŠglichen Rituale und Angebote bzw. in die wšchentliche Sportstunde einge-baut. Einen weiteren Ansatz stellen die ab April 2004 eingefŸhrten Bewegungsmottos dar, die die Kinder zu mehr und vor allen zu gezielter Bewegung anregen. FŸr die Einbe-ziehung des Au§engelŠndes der Kitas ist ab Mai 2004 die Einrichtung eines Trimmpfades geplant.

Die Ergebnisse der Arbeit sollen schlie§lich in einer †bungssammlung zusammengefasst

werden, die ohne gro§en Mehraufwand in die pŠdagogische Arbeit integriert werden kann.

Die †bungssammlung soll dann aufbereitet werden, so dass den Erzieherinnen sowie den Kindern geeignete Lehrmaterialien zur DurchfŸhrung des Projektes in der Kita zur VerfŸgung stehen.

Das Konzept sieht dabei keine engen Vorga-ben mit ganz konkreten BewegungsablŠufen vor, sondern soll in erster Linie das Kind zum spielerischen Erproben der eigenen Mšglich-keiten anregen. Dies wird durch ausgesuchte, aber erschwingliche Materialien und GerŠte mit hohem Aufforderungscharakter unter-stŸtzt.

Ausblick

Sollten sich nach Ablauf der nŠchsten 11/2 Jahre der Intervention (bis Sommer 2005) durch die Abschlussuntersuchung die ange-strebten positiven Effekte bestŠtigen lassen, so soll ein Fortbildungskonzept entstehen, dass zur Verbreitung des Projektes innerhalb des Landes Brandenburg dient. Um die Indi-vidualitŠt jeder Kita zu berŸcksichtigen, wird gleicherma§en ein Beratungskonzept ent-wickelt, dass den Ist-Zustand jeder Kita fest-stellen und bezŸglich der mšglichen Integrati-on des Projektes analysieren soll. Damit wŠre eine †bertragung des Projektes auf andere KindertagesstŠtten und Grundschulen ohne gro§en personellen und rŠumlichen Mehrauf-wand mšglich.

Es kšnnte dann einen Beitrag zur Umsetzung der Bildungszielvorgaben leisten. Insbeson-dere wŠre damit die Mšglichkeit gegeben, integrativ verschiedene dieser Ziele in kom-plexer Weise zu verwirklichen.

Im Dokument Grundsätze elementarer Bildung (Seite 90-95)