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IV. Witwenkasten und Witwenkassen

1.1 Pastor Michael Brandenburg, Boizenburg 1683

Boizenburg, schon im 12. Jahrhundert erwähnt, liegt an der Elbe. 1217 werden ein Pleban und ein Priester genannt, demnach muß damals mindestens eine Kirche bestanden haben.423 Für 1241 ist für Boizenburg der Name Civitas belegt. Boizenburg kam nach der Landesteilung von 1611 an das Herzogtum Güstrow. Mit der Teilung von 1701 fiel die Stadt an das Herzogtum Mecklenburg-Schwerin, nachdem bereits 1695 die Linie Mecklenburg-Güstrow erloschen war.424

Aus Boizenburg liegt eine Quelle vor, in der hundert Jahre vor dem Beginn der vom Landesherren unterstützten Witwenversorgung Vorschläge zur Einrichtung eines Witwenkastens gemacht werden.

Diese Quelle kann quasi als ein „missing link“ der Witwenversorgung gelten, da sie aus einer Stadt von der Not der nachgelassenen Witwen berichtet. Nach den vorliegenden Quellen konnte zunächst vermutet werden, daß auf dem Lande das Problem unversorgter Pfarrwitwen größer gewesen sei.

Im Jahre 1666 hatte die Boizenburger Pastorenwitwe Anna Helena zur Nedden geklagt, daß sie nach verflossenem Gnadenjahr etliches zu ihrer Unterhaltung bekommen möge, da die Priesterwitwen hierselbst nicht das geringste zu heben haben, da sie von leben können, wenn das Gnadenjahr zuende ist.425

Wie zu belegen sein wird, war dagegen im Jahre 1704 eine ausreichende Witwenversorgung vorhanden, als deren Urheber der Boizenburger Präpositus Michael Brandenburg zu gelten hat.

Brandenburg wurde am 3. September 1622 in Leina bei Gotha als Sohn des Magisters Pastor Martin Brandenburg und von dessen Frau Maria, geborene Meyfarth aus Haina bei Gotha, getauft.

In Gotha ging Brandenburg zur Schule, studierte dann in Erfurt und Königsberg.

Reisen führten ihn nach Dänemark, Schweden, Holland und England. 1651 legte er in Gotha sein theologisches Examen ab, wobei auffällt, daß er trotz umfangreicher Studien keinen Magistertitel erworben hatte. 1654 wurde er an die Pfarre von Friedrichroda berufen, in der er seit 1656 als Adjunkt tätig war. 1671 erhielt er einen

423 Mecklenburgisches Urkundenbuch Bd. I. Schwerin 1863: Nr. 231 von 1217. Sifrido plebano de Boizeneburg. Nr. 236 vom 10. Juli 1217:

Rutegerus sacerdos in Boyzeneburg.

424 Karge, Münch, Schmied: Geschichte Mecklenburgs. S. 84f.

425LHA Schwerin. Acta eccl. et scol. specialia Bd. I. Sign. 795 Bl. 22-27.

Ruf als Propst nach Boizenburg auf die Erste Pfarre. Er war dreimal verheiratet. Die erste Ehefrau starb 1655 nach der Geburt des ersten Kindes, die zweite, Anna Maria Glassius, lebte bis 1677. Aus dieser Ehe gingen neun Kinder hervor, von denen sechs das Erwachsenenalter erreichten. In dritter Ehe war Brandenburg mit der Amtsvogtwitwe Margarete Wetzel verheiratet, die ihn überlebte und 1719 starb. Im Jahre 1692 wurde er emeritiert und starb am 17. November 1693 in Boizenburg.426 Einer seiner Söhne wurde Pastor der Zweiten Pfarre. Eine Tochter wurde 1679/80 vom Sohn seines Vorgängers, ebenfalls Zweite Pfarre Boizenburg, konserviert. Eine zweite Tochter heiratete 1692 dessen Bruder, der damals Pastor in Friedland war. Ein Enkel wurde Pastor bei Lauenburg, so daß sich an dieser Familie die ganze Bandbreite des Heiratsverhaltens von Angehörigen einer Pfarrfamilie darstellen läßt.

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Auf Drängen des Rostocker Superintendenten Samuel von Voß (1670-1674) sollte die Reform des Dorfschulwesens nach Gothaer Vorbild im Herzogtum Mecklenburg-Schwerin durchgeführt werden. Brandenburg wurde nach Boizenburg auf Initiative von Voß berufen. Brandenburg ermahnte in dieser Pfarre Eltern in Wort und Schrift, ihre Kinder zur Schule zu schicken. An die Obrigkeit wandte er sich mit der Aufforderung, Schulgebäude zu bauen. Gothaer Schulverhältnisse waren sein Vorbild: In diesem Herzogtum gab es in fast jedem Dorf eine Schule; die Kinder mußten sie vom fünften bis zum vierzehnten Lebensjahr besuchen und diese Schulzeit mit einer öffentlichen Abschlußprüfung beenden. Das Schulgeld betrug wöchentlich einen Schilling. Brandenburg verfaßte für Boizenburg eine Schulordnung mit genauen Lehrplanangaben und visitierte vierteljährlich die Schulen in seinem Amtsbezirk.428

In Gotha die Versorgung der Predigerwitwen in der Weise seit 1645 geregelt, daß sie von einer Witwenkasse Unterhalt bezogen. An deren Errichtung hatte Generalsuperintendent Glassius, der Schwiegervater Brandenburgs, Anteil gehabt.

Die unzureichende Versorgung der Boizenburger Pfarrwitwen und von deren Kindern hatte Pastor Brandenburg vor Augen. Durch Konservierung allein konnte diese Not nicht behoben werden. Am 14. April 1683 schrieb Brandenburg an

426 Möller Bernhard: Thüringer Pfarrerbuch Bd. 1 Herzogtum Gotha, herausgegeben von der Gesellschaft für Thüringische Kirchengeschichte.

Neustadt an der Aisch 1995. S. 172 und 268.

427 Willgeroth Bd. II. S. 759f.

428 Schmaltz 3. Bd. S. 72f.

Herzog Christian I. (1658-1692), daß viele Prediger selber ihr Amt sonderlich im Alter mit Seuftzen verrichten, in dem sie nichts anders vor Augen sehen, alß ihrer Ehefrauen samt derer Kindern nach ihrem Tode Jammer und Elend. 429

Er wollte dieses Elend für die Stadt Boizenburg beenden, insbesondere für jene Witwen, die nicht bei der Pfarre erhalten werden konnten, sondern sie mit ihren Kindern verlassen und ohne geregelten Unterhalt leben mußten.

In sieben Punkten führte Brandenburg am 14. April 1683 seine Vorschläge für die Witwenversorgung in Boizenburg aus.430 Er ahnte nicht, daß seine Tochter 1688, seine Schwiegertochter 1701 und die Frau seines Nachfolgers ebenfalls 1701 die ersten Witwen sein würden, die in den Genuß der neuen Witwenverordnung kommen sollten. Selbst die Möglichkeit, daß mehrere Witwen zu versorgen seien, hatte er bedacht, und dieser Fall trat bereits 1701 ein.431

Im ersten Punkt seiner Vorschläge hielt Brandenburg die Schaffung von Witwenhäusern oder Witwenwohnungen für wichtig, damit Pfarrwitwen und ihre Kinder nach Ablauf des Gnadenjahrs dort Wohnung finden könnten dieweil leider hier in Boizenburg der Kirchenordnung schnurstracks zu wieder kein Wittwen=Hauß vorhanden. Für den Fall, daß keine Witwe vorhanden sei, müsse das Haus vermietet werden und die Heuer den Kircheneinkünften zugerechnet werden.

Vermietet werden soll solches Hauß andern ehrliche Leute, so eines stillen Lebens sind, und es reinlich halten. Der nächste Punkt regelt bereits genau den Unterhalt der Witwen: Ein in Gerum gelegenes Pfründengut, das den beiden Boizenburger Pastoren zukam, wurde von einem Halbhüfner bewirtschaftet, der jährlich 8 Rthl.

Dienstgeld, 2 Rthl. Pacht, 6 Scheffel Roggen, 8 Scheffel Hafer und 2 Rauchhühner abzuliefern hatte. Diese Einnahmen sollten fortan den Pfarrwitwen der Gemeinde Boizenburg als Unterhalt dienen. Falls keine Pfarrwitwe vorhanden sei, dürften die beiden Pastoren Frucht, Rauchhühner und Pachtgeld behalten. Die acht Rthl.

Dienstgeld aber sollen jährlich in einen wolverwahrten Wittwen Kasten, welcher da zu gemacht werden sol, unter zweyen Schlüsseln, wovon ietweder Prediger einen haben sol, in Verwahrung zum Vorrath eingeleget werden, und sol solches angehen von verwichenem Michaelis termin des verfloßenen 1682 Jahres und also jährlich darmitt von unß und unseren Successsoribus continuieret werden.

429 LHA Schwerin. Acta eccl. et scol. spec. Bd. I. Sign. 795 Blatt 22.

430 Ebd. Bl. 22-27.

431 Willgeroth, Bd. II. S. 759ff.

Hinzu sollten weitere Einnahmen kommen: Je eine Mark aus dem Armenhaus und dem Armenkasten, ebenso je eine von den Bützower und Bandekowschen Kapellen als beständiges Almosen für den Witwenkasten, damit ein Vorrat angelegt werden und ggf. eine zweite Witwe versorgt werden könne. Mit der Zeit, wenn es einen Überschuß gäbe, dürfte auch Kapital gegen Zinsen verliehen werden.

Im dritten Punkt führte Brandenburg aus, daß eine Witwe nach dem Ablauf des Gnadenjahres aus Gerum nicht allein 8 Rthl Dienstgeld, sondern auch die 2 Rthl.

Pachtgeld sowie die oben beschriebene Frucht erhalten sollte. Die beiden Rauchhühner jedoch verblieben den Pastoren. Zusätzlich sollten Armenkasten und Armenhaus der Witwe je 2 Rthl., die beiden Kapellen aber je 5 Rthl. geben: Diese Abgabe müsse nur entrichtet werden, wenn es eine zu versorgende Witwe gäbe.

Wenn die Witwe verstürbe, sollten alle Zahlungen geleistet werden, wie unter Punkt zwei festgesetzt.

Der Punkt vier behandelte den Fall, daß zwei Witwen gleichzeitig zu versorgen seien: Die älteste oder erste Witwe behielt das unter Punkt drei Festgesetzte. Die Frucht aber mußte sie mit der zweiten Witwe teilen, die zusätzlich aus dem Witwenkasten 15 Rthl jährlich auf Michaelis erhalten sollte.

Im fünften Punkt ging Brandenburg auf den seltenen Fall ein, daß drei zu versorgende Witwen in Boizenburg lebten. Die dritte Witwe sollte zehn Rthl.

erhalten. Wo aber noch mehr Wittwen werden sollten, worwieder doch die Kirchenordnung p278 gute Vorsehung getan, so müßte die letztere so lang warten, biß die älteste mit tode abgienge, alßdann köntte ordentlich eine nach der anderen in der Hebung succedieren.

Der sechste Punkt regelte die Buchführung des Witwenkastens: Über die Einnahme und Außgabe solches Wittwen Kastens und was ietweder Wittwen jährlich empfanget, sol alle Jahr Rechnung zur gewöhnlichen Zeit zugeleget und ein Exemplar in dem Wittwen Kasten verwahret werden und werden die, so darmitt zu thun haben, den Wittwen zum besten solche mühe willig auf sich nehmen und kein Gebühr dafür forden. Einen Schlüssel zu dem Kasten erhielt der Präpositus, also der Erste Pfarrer, den anderen der Pastor der Zweiten Pfarre. Sollte einer der beiden sterben, so mußte dessen Witwe ihn verwahren, bis der Nachfolger ihres Eheherren sein Amt angetreten hatte.

Im siebten und letzten Punkt ging der Präpositus auf die Versorgung von Theologie studierenden Söhnen verstorbener Pastoren ein. Wenn die Mutter im Gnadenjahr, vor dessen Ablauf oder danach stürbe, so sollten diese Söhne für drei Jahre die Hebungen

der Mutter erhalten. Bedingung dafür waren ein tatsächlich dreijähriges Studium und Wohnung am Ort der Universität.

Diese Punkte, so bat Brandenburg, möge der Landesherr den Superintendenten des Rostocker Kreises, den Rostocker Ratsherren, den Vorstehern und Pastoren der Kirchen und aufgeführten Kapellen und Institutionen anempfehlen und sie zu ewigen Zeiten festhalten.

Was ist nun aus diesem Werk geworden? Am 15. November 1704 galt in Boizenburg noch folgende Regelung für die Witwenversorgung:

1. Die Einnahmen des Witwenkastens: Die Kirche zahlte jährlich 10 Mark in den Witwenkasten. Von der Bandekower Kapelle kamen 16 Mark, von der Gültzer Kapelle 21 Mark. Das Armenhaus zahlte 15 Mark, der Armenkasten mußte 12 Mark einzahlen. Aus Gerum kamen dem Witwenkasten 24 Mark Dienstgeld und zwei Mark Pachtgeld zu. Mußten zwei Witwen versorgt werden, erhöhten sich die Abgaben. Die Einkünfte des Predigerwitwenkastens, so der Name, betrugen jährlich insgesamt 109 Mark und 8 Schillinge, zuzüglich Zinsen von 6 Mark und 8 Schillingen.

2. Zu versorgen waren 1704: Erstens eine Witwe und ihre drei studierenden Söhne, Hinterbliebene des Amtsnachfolgers von Brandenburg, des Präpositus Christian Sauer, der in Boizenburg von 1692 bis zum 5. Januar 1701 amtierte. Zweitens die Witwe des Pastors Balthasar Christian Brandenburg, Sohn des Michael Brandenburg, der die Zweite Pfarre von 1692 bis zum 5. März 1701 innehatte. Er hatte eine dreiunddreißigjährige Witwe mit fünf Kindern im Alter von vier bis zehn Jahren hinterlassen. Einer der Söhne, Michael, wurde später Pastor im Herzogtum Lauenburg. In Boizenburg war eine Tochter Brandenburgs 1688 Witwe des Pastors der zweiten Pfarre Magister Johann Friedrich Klinge geworden. Ob bereits sie in den Genuß der väterlichen Reformvorschläge kam oder eine zweite Ehe einging, ist nicht bekannt.

3. Zur Verteilung gelangten an die erste Witwe 65 Mark, die zweite Witwe erhielt 45 Mark, eine dritte Witwe wurde nicht erwähnt, obwohl die dritte Ehefrau des Präpositus Brandenburg bis 1717 gelebt hat. Über ihren Aufenthaltsort und ihre Versorgung ist nichts bekannt. Es kann nur vermutet werden, daß seine dritte Ehefrau, bereits vor der Ehe mit Brandenburg Amtsvogtwitwe aus Soltau, zu Angehörigen in diese Stadt gezogen ist und damit, wie in ähnlichen Fällen, kein Witwengeld erhielt.

Die Kirchengemeinde der Stadt Boizenburg war nicht arm. Sie zahlte ihren beiden Pastoren um 1700 neben den erwähnten Einnahmen ein Gehalt von jährlich 130

Mark. Die mit dem Kirchenamt verbundenen Pfründen ermöglichten es, daß die Stiftung im wesentlichen aus Pfarrhebungen entstehen konnte. 432

Zum Vergleich hieß es im benachbarten Zahrensdorf: an beständigem Geld und Besoldung nichts.433 Aus dem nahen Granzin schrieb der Amtsinhaber: Stehend Geld hat der Pastor nichts.434

Für Boizenburg war es ein Glücksfall, daß Präpositus Brandenburg mit seinen thüringischen Erfahrungen eine Reform von Schulen und Witwenversorgung an seinem Mecklenburger Wirkungsort einführen konnte.