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Annus gratiae, auch Gnadenjahr oder Nachjahr genannt, bezeichnet das dem Tode eines Pfarrers folgende Jahr, in welchem einer Witwe dessen volle Besoldung und Einnahmen zustehen. Das Institut des Gnadenjahres ist seit dem 11. Jahrhundert belegt. Es berechtigte Domherren, über die Einkünfte ihrer Pfründe für ein Jahr über ihren Tod hinaus zu verfügen. Damit konnten beispielsweise vorhandene Schulden abgetragen werden. Für den Nachfolger galt es, während dieses annus carentiae auf sein beneficium zu verzichten.171 In Mecklenburg ist der annus gratiae seit den Jahren 1267, 1276, 1277 und 1327 belegt.172 Nach der Reformation gewährte das Landeskirchenregiment den Hinterbliebenen eines Pastors das Gnadenjahr oder Gnadenhalbjahr.

Noch 1705 heißt es in der Ordnung zur Versorgung der Witwen und Waisen der Geistlichen in Braunschweig, daß dieses höchst nöthige Liebes-Werk bey der Reformation [...] von unserm [...] wohlseligen Herrn Luthero der gottseligen Posterität überlassen worden sei.173 Luther glaubte, das Versorgungsproblem allein durch die Dedikation seiner Hinterbliebenen an Gott zu lösen.174 Ganz anders sein Zeitgenosse Georg Spalatin (1484-1545), der seit 1511 Kanoniker am St.

Georgenstift in Altenburg war, 1525 heiratete und Pfarrer in Altenburg wurde, wo er 1528 die neue Superintendentur übernahm. Zugleich war er kirchenpolitischer Berater der Kurfürsten Johann (1486-1532) und Johann Friedrich (1532-1554). Bis 1537 gelang ihm zur Versorgung seiner Familie die Bewilligung eines auf insgesamt zehn Jahre verlängerten Gnadenjahrs.175 Bei der wirtschaftlichen Gestaltung der

171 Brüneck, von, Wilhelm: Zur Geschichte und Dogmatik der Gnadenzeit.

Kirchenrechtliche Abhandlungen 21. Stuttgart 1905 S. 1.

172 MUB 2 S. 336 Nr. 1128, S. 549f Nr 1411, S. 567f Nr. 1437. MUB 7 S.

502 Nr.4874. Vgl. Petke, Pfarrwitwen S. 171.

173 Burckhardt: Geschichte der sächsischen Kirchen- und Schulvisitationen (von 1524-1545) Leipzig 1879. S. 325.

174 Brecht, Martin: Martin Luther Bd. 2. S. 205.

175 (...) clementissimus princeps noster elector Saxoniae dux Johannes Fridericus donavit uxorem meam charissimam et liberos dulcissimos in 10 annos proventibus mei canonicatus et obedientiae hic Aldenburgi, in:

neuen Kirche konnte man einer der Hauptaufgaben, dem Bereich der Hinterbliebenenversorgung, nicht gerecht werden.

Die erste Mecklenburger Kirchenordnung von 1552 begnügte sich mit der Feststellung: Und dieweil die Prediger leben, bedürffen sie essen/ trincken/ kleidung/

hülff zum Studirn/ Auch ist Gottes gebot/ das man ire arme Weib und Kinder nicht mit hunger sterben lasse.176 Die nachfolgenden revidierten Kirchenordnungen ab 1602 befaßten sich detaillierter mit den Pfarrwitwen, hielten fest so wollen wir das Gnadenjahr verstanden haben und führten aus, daß Witwen oder Waisen in dieser Zeit Wohnrecht auf der Wedeme hatten und nicht von dort vertrieben werden durften. Ihnen kam alles zu, was vom Todestag des Pastors an fällig, zu heben und zu ernten war; dazu gehörten Kornpacht, Meßkorn und ggf. eine vereinbarte Bargeldauszahlung. Die Predigerwitwe oder deren Kinder hatten für die Dauer des Gnadenjahres für die Anholung des mit der cura beauftragten Pastors zur Verrichtung von Amtshandlungen und seine Beköstigung auf ihre alleinigen Kosten zu sorgen, während die Anholung zu den sonntäglichen Predigten den Eingepfarrten oblag.

Sollte ein gewählter Nachfolger bereits vor Ablauf des Gnadenjahres amtieren, galt für ihn der annus carentiae, die Bewohner des Pfarrhauses hatten nur die Pflicht, für sein leibliches Wohl zu sorgen. Nach Beendigung des Gnadenjahrs mußten ausgesätes Korn, der eiserne Bestand an Faselvieh und Hausrat auf der Wedeme bleiben, das galt ebenso für Tierfutter und Mist, welche in diesem Jahr nicht.

aufgebraucht worden waren.177 Das Gnadenjahr konnte in Ausnahmefällen durch landesherrliche Verfügung verlängert werden; in diesem Fall hatten die Berechtigten für alleinige Anholung des aufwartenden Vakanzvertreters zu sorgen und alle Pfarrverwaltungskosten zu übernehmen. Das Gnadenjahr konnte vererbt, verkauft,

Berbig, Georg (Hg.): Spalatiniana (Quellen und Darstellungen aus der Geschichte des Reformationsjahrhunderts 5. Leipzig 1908. S. 19. Vgl. Höss, Irmgard: Georg Spalatin 1484-1545. Ein Leben in der Zeit des Humanismus und der Reformation. 2. Auflage Weimar 1989. S. 290f. Vgl. Petke, Pfarrwitwen S. 169.

176 EKO 5, S. 217-19.

177Revidierte Kirchenordnung Fol. 278.

beim Absterben weiterer Ehemänner mehrmals genossen178 und wieder entzogen werden.179

Im Jahre 1757 wurde das Gnadenjahr bei den landesherrlichen Patronaten abgeschafft.180 Anstelle aller Hebungen wollte man den Witwen von allen im Sterbejahr aufkommenden Pfarreinkünften ohne Ausnahme die Hälfte reichen. Weil freigewordene Pfarren sofort wieder mit Seelsorgern besetzt werden konnten, wurden die Hinterbliebenen von Anholung und Bewirtung der Vakanzvertreter befreit, so daß sie, aufs Ganze gesehen, kaum Verluste erlitten hätten. Die Eingepfarrten hätten ebenso von der neuen Regelung profitiert, weil sie ihre für die Dauer des Gnadenjahres vorgeschriebenen Predigerfuhren nicht mehr hätten erbringen müssen.

Diese Bemühungen zur Abschaffung des Gnadenjahrs schlugen jedoch fehl; eine Verordnung vom 26. Juni 1779 führte das unverkürzte Gnadenjahr mit allen Hebungen und Verpflichtungen wieder ein, so daß damit die Gnadenjahrsregelungen in den verschiedenen Patronatsformen wieder gleich aussahen. Herzog Friederich hatte zur Verhütung aller zwischen den, von verstorbenen Ehrn=Predigern

178 Deiters Circularverordnungen S. 108: Grundsätzlich stand jeder Witwe und ihren Kindern nach der Kirchenordnung das Recht auf den Genuß des Gnadenjahres zu, wenn der verstorbene Geistliche bis zu seinem Ableben die Pfarrstelle zur eigenen Verwaltung inne gehabt hatte. Es ist nicht bekannt, daß die Gnadenzeit einer Pfarrwitwe gekürzt oder teilweise vorenthalten wurde, weil ihr bei früheren Verwitwungen bereits mehrfach deren Genuß gewährt worden war.

179 Millies, Circularverordnung Nr. 64 vom 29. Juli 1856. Vgl. Willgeroth Bd. I. S. 292: Der 38jährigen Witwe des P. Hasse aus Wasdow wurde das Gnadenjahr um ein halbes Jahr verlängert, weil sie fünf unversorgte kleine Kinder hatte. Dieses Beispiel steht für zahlreiche andere. Willgeroth Bd. III.

S. 1356: In Wismar, St. Marien starb 1792 der ledige Pastor Magister Ehregott Christian Enghart. Das Gnadenjahr teilten sich seine beiden sehr wohlhabenden Schwestern. Ebd. S. 1149: Nach dem Tod des unverheirateten neunundzwanzigjährigen Pastors Peter Samuel Neumann, der seinem Vater in Lübsee nachgefolgt war, erbte seine Mutter 1727 das Gnadenjahr. Vier Jahre zuvor hatte sie, nach dem Tod ihres Ehemannes, in der gleichen Pfarre ein Gnadenjahr genossen. Willgeroth Bd. II. S. 915:

Pastor Joh. Albert Elvers kaufte 1658 der Witwe seines Vorgängers das Gnadenjahr ab. Ebd. S. 801: Kathar. Margarete Dalemann verwitwete 1707, 1709 und 1729 in Holzendorf. Sie erhielt in dieser Pfarre dreimal ein Gnadenjahr. LHA Schwerin Acta eccl. et scol. specialia Bd. II. Sign.

11770: Der Witwe des 1585 von Bauern erschlagenen Pastors Franz Frese aus Thulendorf wurde 1586 das Gnadenjahr entzogen, weil sie ein

„liederliches“ Leben führte. Sie nahm einen vorbeiziehenden Theologen aus Pommern im Pfarrhaus auf. Möglicherweise ist er mit dem späteren Nachfolger (1595-1619), der aus Pommern stammte, identisch. Vgl.

Willgeroth Bd. I. S. 164.

180 Deiters: Handbuch. S. 679.

hinterlassenen Wittwen und Kindern und ihren Nachfolgern im Amte [...] öfters entstehenden Irrungen das neue Regulativ verfaßt.181

In den Jahren 1876 und 1895 wurden die Gnadenjahrsvorschriften der Kirchenordnungen erneut bestätigt.182 Erst 1926 wurde das Gnadenjahr für die Hinterbliebenen eines im Amt verstorbenen Geistlichen auf das Sterbevierteljahr und zwei sich anschließende Gnadenvierteljahre verkürzt.183 Nach 1931 wurde ihnen für die auf den Sterbemonat folgenden drei Monate Gnadenbezüge unter Anrechnung der Pfründeneinkünfte zugesprochen.184 Noch heute lassen sich in der Hinterbliebenenversorgung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburg Reste des annus gratiae erkennen: Hinterbliebene erhalten ein Sterbegeld in Höhe des Zweifachen der letzten monatlichen Bezüge und durften bis zur Aufhebung des Wohnrechts im Jahre 1998 eine von ihnen bewohnte Dienstwohnung für das auf den Sterbemonat folgende Quartal benutzen.185