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Bei Erstellung des Zielkatalogs wurde, neben der medizinischen Versorgung, auch auf ei-ne optimale psychosoziale Versorgung fokussiert. Als optimal wurde dabei erachtet, wenn die Klient*innen multidisziplinär betreut werden, bei Bedarf also auch psychosozia-le Hilfe erhalten. Dieses Ziel wurden zwar nicht in Detailziele heruntergebrochen, doch verweisen die definierten Indikatoren auf die Vornahmen und Ziele.

Im Mittelpunkt stand dabei zunächst die Implementierung von Health Advising und eine dort verortete grundlegende Anamnese. Diesem und den weiteren Indikatoren werden im Folgenden nachgegangen:

1. Konzepte für Health Advising und umfassende Anamnese liegen vor.

Zu Health Advising wurde 2018 ein Konzept vorgelegt (Curriculum Health Adviser für Sexuelle Gesundheit, vgl. S. 42) und u. a. eine Prozessbeschreibung und ein Anamnese-bogen entwickelt. Im Evaluationszeitraum wurde statt dieses AnamneseAnamnese-bogens jedoch die Evaluations-Erstbefragung eingesetzt. Diese soll, mit einigen Anpassungen, nach der ex-ternen Evaluation weiter eingesetzt werden. Das Konzept sieht vor, dass Health Adviser alle Neuklient*innen aufnehmen und diese auf Basis der Anamnese weiterleiten. Tatsäch-lich sind Health Adviser in 18,9 % der Neufälle beteiligt, überwiegend auch als erste An-sprechperson. Mit Zunahme von Health-Adviser-Personalkapazität steigt ihre Einbezie-hung an, vor allem im Jahr 2018: Zuletzt wurden für 32 % aller Neufälle eine Beteiligung von Health Advisern dokumentiert. Die Health Adviser sind in über der Hälfte der PrEP-Fälle involviert, ebenso bei der Hälfte der PrEP-Fälle mit HIV-Spätdiagnosen, bei zwei Fünftel der Sexarbeiter*innen und einem guten Drittel der HIV-negativen Personen mit ei-ner/einem HIV-infizierte*n Partner*in.

Health Adviser waren zu 58 % fallübergreifend und zu 42 % ihrer Zeit fallbezogen einge-setzt. Fallübergreifend dominierten Fallbesprechungen, kollegiale Beratung und Aus-tausch im WIR sowie die Durchführung von Präventionsveranstaltungen und aufsuchen-der Arbeit. Fallbezogen waren sie vor allem im Kontext von Studien tätig und übernah-men Testberatung und Beratung zu Risikomanagement und –reduktion, PrEP und

psy-chosozialen Themen; zudem sind sie im Recall-System involviert. Eine direkte Weiter-vermittlung an andere Stellen wurde von ihnen nur sehr selten dokumentiert (im Jahr 2018: n = 29), doch waren sie im gleichen Zeitraum 284-mal an fallbezogenen Abspra-chen beteiligt und wurden über alle WIR-Akteure hinweg am häufigsten als Adressat für fallbezogenen Austausch benannt (vgl. Kap. 4.3.3.1).

Außer dem Curriculum Sexuelle Gesundheit erhielten sie keine gezielte und spezifische Fortbildung, bspw. zu Motivational Interviewing (der in den Niederlanden und in Eng-land präferierten und für notwendig erachteten Beratungsmethode für Health Adviser) und keine aufgabenbezogene Supervision. In der Nachbefragung konnten lediglich 17 Personen – überwiegend positive – Einschätzungen zu Health Advising abgeben. Doch werden sie von den meisten Beschäftigten als große Unterstützung bewertet.

Insgesamt kann für Health Advising festgehalten werden, dass das WIR hier angetreten ist, eine für Deutschland neue Funktion in Gesundheitsdiensten zu implementieren. Des-halb ist es nicht verwunderlich, dass für Health Advising noch kein klares eigenständiges Profil deutlich wird. Zudem gab es mehrere Personalwechsel und die Health Adviser werden an verschiedenen Stellen zur Überbrückung von personellen Engpässen und zur Unterstützung von Kolleg*innen eingesetzt. Sie stabilisieren so das Gesamtangebot, hel-fen bei der Studien- oder Testdurchführung – hatten aber weniger Möglichkeiten, ihr Pro-fil zu schärfen.

2. Klient*innen werden untereinander im WIR verwiesen und nutzen Termine/Kontakte bei verschiedenen Akteuren, darunter auch Beratung und/oder Psychotherapie.

Wie gezeigt wurde, nutzten von den insgesamt an der Evaluation teilnehmenden 3.518 Klient*innen insgesamt 83 % jeweils nur eine Einrichtung im WIR, weit überwiegend die Ambulanz (42 %, vor allem zur HIV-Behandlung) und die Beratungsstelle für Sexuelle Gesundheit des Gesundheitsamts (38 %, vor allem zum STI-Test). Den meisten Kli-ent*innen reicht also eine spezifische Unterstützung (HIV-Behandlung oder ein, meist einmaliger, STI-Test)

Für 17 % aller Klient*innen dokumentierte mehr als eine WIR-Einrichtung Leistungen:

5 % dieser Klient*innen nutzen zwei und 2 % drei WIR-Einrichtungen. Am häufigsten handelte es sich dabei um die Nutzung von Ambulanz und Aidshilfe (n = 340, bspw. im Kontext von PrEP oder Adhärenzförderung) und um Fälle mit Nutzung der Beratungsstel-le für Sexuelle Gesundheit des Gesundheitsamts und der Ambulanz (n = 167, vor allem zur Behandlung festgestellter STI oder zur kurzfristigen Abklärung von Symptomen).

Weitere Befunde verweisen auf den Austausch zwischen Gesundheitsamt und Aidshilfe – etwa wenn eine Diagnose psychosozialen oder sozialrechtlichen Beratungsbedarf nach sich zieht (vgl. Kap. 4.3.2.5).

Nur in Einzelfällen kommt es zu Zu- oder Verweisungen von oder zu den übrigen WIR-Akteuren. Dabei gilt, dass es sich z. T. um Dokumentationseffekte handelt: Bspw. wurden lt. Auskunft der Mitarbeiterinnen im Evaluationszeitraum mindestens 70 Klientinnen ins Zentrum gebracht, meist zur Behandlung in der Ambulanz und/oder zur gynäkologischen Sprechstunde im St. Elisabeth-Hospital – immer ohne Dokumentation.

Bei drei Viertel aller Fälle, die mehr als eine Einrichtung nutzen, fanden Wechsel zur bzw. Hinzuziehung der zweiten Einrichtung noch am gleichen Tag statt. Auch Personen mit positivem STI-Test in der Beratungsstelle für Sexuelle Gesundheit des Gesundheits-amts konnten schnell zur Behandlung in die Ambulanz überwiesen werden: Bei gut der Hälfte beginnt die Behandlung am gleichen Tag oder spätestens binnen einer Woche.

Auch wenn diese Befunde mangels Daten nicht mit anderen Settings verglichen werden

können, so belegen die Ergebnisse im WIR aber doch, wie einfach es für Fachkräfte und Klientel ist, nur ein, zwei Türen weiter zu gehen, nicht erst woanders anrufen zu müssen, einen Termin zu vereinbaren und einen neuen Weg auf sich zu nehmen. Das Zentrumset-ting mit der unmittelbaren Nähe der Akteure (zumindest von drei Einrichtungen) und die große Bereitschaft aller Akteure zugewiesene Klient*innen auch sogleich anzunehmen, gepaart mit Anonymität und Kostenfreiheit, zeigen sich hier als Erfolgsfaktoren.

Aufgrund von Dokumentationsausfällen (s. o. Madonna) kann nicht genau angegeben werden, welcher Anteil WIR-Klientel auch Beratung nutzte. Zahlenmäßig belegbar erhal-ten ein Drittel aller Teilnehmenden psychosoziale Leistungen, darunter alle PrEP-User, gut die Hälfte der Chemsex-User und je knapp die Hälfte der betreuten MSM und Mig-rant*innen aus Subsahara-Afrika. Am relativ wenigsten psychosoziale Beratung wurde von jungen Klient*innen (mit Testwunsch) nachgefragt. Aufgrund der geschilderten Li-mitationen kann dieser Wert jedoch bestenfalls als Untergrenze betrachtet werden. Der Umfang aller psychosozialen Leistungen betrug durchschnittlich etwa eine Stunde pro Klient*in, bei PrEP-Nutzern hingegen knapp zwei Stunden.

184 Personen (5 %) nutzten Psychotherapie – weit überwiegend auf Vermittlung aus dem medizinischen Bereich und in Zusammenhang mit niedriger Adhärenz und wiederholten Infektionen. Die Daten sprechen dafür, dass die Psychotherapie (zu Lasten der KV oder kostenfrei im Rahmen des DAS-geförderten Angebots) Klient*innen mit hohen und komplexen Belastungen erreichte: Sie waren wesentlich öfter HIV-infiziert, hatten öfter weitere STI, einen insgesamt schlechten Gesundheitszustand, konsumierten öfter (illega-le) Substanzen beim Sex und bewerten ihre Lebensqualität wesentlich öfter als schlecht (vgl. Kap. 4.3.2.4).

3. Die Einrichtungen arbeiten fallbezogen zusammen.

Wie beschrieben, hat das WIR mehrere Austauschformate (und ein Datenschutzkonzept dazu) entwickelt, darunter eines für eher kurze fallbezogene Absprachen und für vertiefte Fallbesprechungen (vgl. Kap. 4.3.2.5). Hinzu kommen vielfältige bilaterale Kontakte.

Die Fachkräfte im WIR berichteten vielfach, dass die Kommunikation untereinander sich gut entwickelt habe und i. d. R. reibungslos läuft, dass man bei Bedarf schnell Hilfe für eine*n Klient*in finden kann oder einen Rat zum weiteren Vorgehen im Fall. Dabei lerne man immer wieder von den Kolleg*innen, bspw. zu Sexarbeit, PrEP etc. Andererseits bleibt ein Spannungsverhältnis zwischen Einrichtungsinteressen und dem Wunsch nach eigenständiger Erkennbarkeit auf der einen Seite und einer stärker integrierten Angebots-gestaltung im Sinne eines einheitlichen WIR-Profils.

Die Ergebnisse unterscheiden sich entlang der Präsenz im WIR: Die drei (fast) immer im WIR verorteten Angebote/Einrichtungen haben enge Kooperationen und Routinen für ad-hoc-Austausch aufgebaut und ein stärkeres Selbstverständnis als „WIR-Mitarbeitende“

entwickelt. Die drei übrigen Einrichtungen teilen wesentlich weniger Fälle mit dem WIR, Austausch muss hier stärker geplant werden. Doch berichten auch diese Fachkräfte von positiven Veränderungen in der Zusammenarbeit und gutem kollegialen Austausch. Ins-besondere profitiert die Klientel davon, bei Bedarf auch sehr spontan und anonyme Tests, Beratung und Behandlung zu bekommen.

Tatsächlich konnte die Evaluation zeigen, dass in einem Viertel aller Teilnehmenden an der Evaluation einrichtungsübergreifende Kooperationen stattfanden. Der Schwerpunkt lag bei WIR-internen Kooperationen, die im Jahr 2018 für 464 Personen (18 %) doku-mentiert wurden. Die Zusammenarbeit untereinander zeigte im Verlauf der Evaluation Schwankungen und zog in den letzten betrachteten Monaten deutlich an. Der Bedarf nach

Kooperation stieg mit der Belastung der Klientel. So waren die Klient*innen, die Unter-stützung mehrerer WIR-Akteure nutzten, im Mittel etwas älter, öfter MSM, hatten öfter nur wenig Schulbildung, hatten – auf insgesamt niedrigem Niveau – doppelt so häufig keine Krankenversicherung und kamen aufgrund ihrer breiteren Problemkonstellationen deutlich öfter auf der Suche nach Beratung ins WIR (Patient*innen ohne Krankenversi-cherung, spätdiagnostizierte HIV-Infizierte, Sexarbeiter*innen und Migrant*innen aus Subsahara Afrika).

Als Teilgruppe mit der meisten Kooperation imponieren jedoch PrEP-User (einrichtungs-übergreifende Kooperation bei 78 %). Auch wenn es schon vor Einführung der PrEP Per-sonen gab, die sich die Medikation aus anderen Ländern bestellten, so beginnen Beratung und Verschreibung ja gerade erst und der zugehörige Pfad sieht in dieser Phase umfas-sende soziale und medizinische Beratung vor. Am wenigsten Kooperation ziehen die vor allem an STI-Tests interessierten Zielgruppen der sexuell sehr aktiven heterosexuellen Personen und junger Klient*innen auf sich.

Die im Kontext von fallbezogener Kooperation am häufigsten dokumentierten Leistungen waren fallbezogener Austausch/Fallbesprechungen, STI-Test sowie PrEP-Beratung.

4. Klient*innen werden auch extern überwiesen und vermittelt.

Das WIR erbringt schon viele Angebote selbst, doch werden in vielen Fällen gleichwohl noch weitere Hilfen notwendig, bspw. weitere medizinische, z. T. stationäre Versorgung oder soziale Unterstützungen, wie z. B. Schuldnerberatung, betreutes Wohnen oder suchtbezogene Hilfen. Im Jahr 2018 wurden für 103 Personen (4 %) Überweisungen an die trägerinternen Hospitäler St. Josef und St. Elisabeth dokumentiert. 134 Personen (5,2 %) wurden ergänzend oder zur Weiterbehandlung/-betreuung an externe Stellen ver-wiesen. Dabei handelte es sich am häufigsten um andere Fachärzt*innen (n = 69), andere Kliniken (n = 25) oder externe Psycholog*innen oder Psychotherapeut*innen (n = 23).

An Beratungsstellen wurden 17 Klient*innen vermittelt, darunter fünf an Suchtberatungs-stellen. Angesichts der vorliegenden Fallzahlen zu Substanzkonsum und Chemsex einer-seits und der begrenzten Passung von Angeboten der klassischen Sucht- und Drogenhilfe andererseits erscheint es geboten, hier adäquate (kooperative) Konzepte zu entwickeln.

Einen ersten Impuls setzt hier die seit 2018 realisierte Zusammenarbeit von WIR und Kri-senhilfe Bochum im PLUS-Projekt zu Hepatitis-C-Diagnostik und Behandlung bei Dro-genabhängigen.

Weniger i. S. von Vermittlung, doch von Kooperation erwiesen sich gesetzliche Betreu-ungspersonen als relevante Instanzen. Mit ihnen wurden die meisten fallbezogenen Leis-tungen dokumentiert.