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Aufwand und Kosten: Dokumentation von Leistungen und Finanzierungsformen

Mit dem Aufbau des WIR war von vornherein die Hoffnung verbunden, neue Finanzie-rungsformen und –konzepte zu finden. Deshalb bezog sich ein Rahmenziel auf der Orga-nisationsebene auf Aufwands- und Kostenaspekte. Hier waren drei Detailziele festgelegt, zu denen im Folgenden berichtet wird:

1. Der Aufwand für Leistungen ist nach den erbringenden Institutionen und Berufs-gruppen dokumentiert.

Die Einrichtungen haben je ein eigenes Berichtswesen, das sich nach den Anforderungen der unterschiedlichen Finanzgeber/Kostenträger richtet und deshalb sehr unterschiedlich gestaltet ist. Einige Träger erstellen Jahresberichte über ihre Arbeit, die sich ebenfalls deutlich unterscheiden.

Eine einheitliche Erfassung von Leistungen und Fallaufwänden wurde über die Evaluati-on erstellt (vgl. Kap. 2.6.2). Wie im Zielkatalog vorgegeben, wurde erfasst, welche Leis-tungen in welchem Umfang durch wen (Einrichtung bzw. Berufsgruppe32) erbracht wer-den. Die Erfassung überspannte einen Zeitraum von Ende April 2017 bis Mitte Februar 2019. Ergänzend wurden zweimal vier Wochen fallübergreifende Tätigkeiten dokumen-tiert (vgl. Kap. 2.6.3), um in der Zusammenschau den Gesamtaufwand nachzeichnen zu können. Da die Dokumentation und ihre Verwendung durch die Beschäftigten zunächst mehrfach nachjustiert werden musste, wurden viele, insbesondere leistungsbezogene, Auswertungen für diesen Bericht auf das Jahr 2018 konzentriert.

Insgesamt zeigte sich, dass mehr fallbezogene (59 %) als fallübergreifende (41 %) Einzel-leistungen notiert wurden, wobei die übergreifenden Tätigkeiten über alle Akteure zu-sammengefasst 66 % der Arbeitszeit auf sich zogen. Die Verteilungen zeigen je nach Ak-teur eine große Spannbreite: So wurden die höchsten Anteile fallübergreifender Tätigkei-ten von Ambulanz und Aidshilfe dokumentiert, vor allem für kollegialen Austausch, wis-senschaftliche und Konzeptarbeit, Drittmitteleinwerbung, Personalführung bzw. Admi-nistration sowie Gremienarbeit. Fallbezogen entfallen in der Ambulanz die meisten Auf-wände auf Beratung/Behandlung von Klientel ohne Code (= ohne Einwilligung in die Evaluation), proktologische Untersuchungen und weitere ärztliche Behandlungen. In der Aidshilfe zogen Veranstaltungen mit der Zielgruppe, Betreuungen von Klientel ohne Code sowie Beratung zu verschiedenen Themen (insb. zu PrEP) den meisten Aufwand auf sich.

Demgegenüber setzt die Beratungsstelle für Sexuelle Gesundheit des Gesundheitsamts über drei Viertel ihrer Zeit im WIR fallbezogen ein: für Testdurchführung und –bespre-chung sowie Beratung zu Risikomanagement/-reduktion, PrEP o. ä. Die übrige Zeit wird für kollegialen Austausch, Teambesprechungen, Materialvorbereitung sowie Dokumenta-tionsaufgaben gebraucht.

32 Die Evaluation dienste nicht der Überprüfung der Arbeit einzelner Fachkräfte.

Dass die übrigen Akteure je etwas über die Hälfte ihrer Zeit im WIR für übergreifend-organisatorische Tätigkeiten aufbrachten (Besprechungen, kollegialen Austausch u. ä.) liegt darin begründet, dass sie nur sehr begrenzt im WIR präsent sind, und das vielfach für Besprechungen/Absprachen zum WIR und Sitzungen der Projektgruppe zur Evaluati-on. Zum anderen haben sie ihre fallbezogene Arbeit (i. d. R. Beratung) so gut wie nicht dokumentiert.

Am Leistungsspektrum im WIR sind sieben Berufsgruppen beteiligt. Von diesen brachte an der insgesamt dokumentierten Zeit im vierwöchigen Zeitraum, in dem sowohl fallbe-zogene Leistungen als auch übergreifende Tätigkeiten erhoben wurden, die Administrati-on mit 26,6 % der dokumentierten Zeit den größten Einzelposten ein. Auf medizinische Disziplinen entfielen fast 50 % – aufgeteilt nach Pflege (23,8 %), Ärzt*innen (20 %) und STI-Fachkraft (4,9 %). Der psychosoziale Bereich brachte das restlich Viertel ein: Sozial-arbeit/Beratung (14,4 %), Health Advising (8,1 %) sowie Psychotherapie (2,2 %). Der Befund überrascht nicht, da auf die Ambulanz die meisten Personalressourcen entfallen.

Er ist aber auch unscharf, da beraterische Leistungen von mehreren Einrichtungen nicht umfassend dokumentiert wurden oder in anderen Leistungen enthalten waren (bspw.

Arztgespräch).

Mit Blick auf die Aufwände pro Fall wurden im Jahr 2018 pro in dieser Zeit betreuter Person – über alle Einrichtungen hinweg – im Mittel 1,8 Stunden aufgewendet. Dabei schwankten die Aufwände je nach Teilgruppen erheblich: Vorrangig zum STI-Test ins WIR beim Gesundheitsamt oder über die PreYoungGo-Studie kommende Gruppen (Hete-rosexuelle mit vielen Sexualpartner*innen und Nutzer*innen bis 27 Jahre) zogen 0,8 bzw.

0,9 Stunden auf sich. Mit im Mittel 4,2 Stunden entfiel der relativ höchste Aufwand im Jahr 2018 auf HIV-Spätdiagnostizierte (n = 2) sowie mit 3,7 Stunden auf HIV-Infizierte in Behandlung. Der Aufwand entfiel dabei weit überwiegend auf die Ambulanz. Mit durchschnittlich 3,2 Stunden zogen PrEP-User ebenfalls vergleichsweise viel Zeit auf sich, wobei sich hier jedoch beraterische und medizinische Aufwände in etwa die Waage hielten. Personen ohne Krankenversicherung (vor allem durch die Aidshilfe betreut), Per-sonen mit Verständigungseinschränkungen, Chemsex-User und Sexarbeiter*innen (vor allem in Betreuung durch die Aidshilfe und in med. Behandlung) gehörten auch zu den Personengruppen mit eher mehr Betreuungsaufwand ( 3,1 Std., 2,9 Std., 2,8 Std. und 2,7 Std. im Jahr 2018).33

Health Adviser waren im Mittel bei knapp 17 % der Klientel involviert, bei großen Unter-schieden je nach Teilgruppe: Sie waren öfter eingebunden bei PrEP-Usern, Sexarbei-ter*innen und HIV-negativen Fällen mit HIV-positiven Partner*innen. Dagegen waren sie weniger involviert bei HIV-Patient*innen, die überwiegend schon lange in Behand-lung der Ambulanz sind, bei jungen Test-Nutzer*innen, Klientel mit Risikosituationen und bildungsfernen Personen.

Mit Blick auf die Begrenzungen der Dokumentation bzw. ihres Einsatzes muss konstatiert werden, dass die vorliegenden Daten keine validen Kostenschätzungen ermöglichen. Sie können lediglich Anhaltspunkte geben für durchschnittliche Aufwände und beteiligte Be-rufsgruppen.

33 Dazu zwei Anmerkungen: Zwischen den beiden Gruppen Personen ohne KV und Sexarbeiterinnen gibt es Über-schneidungen und hier ist der tatsächliche Beratungsbedarf und -aufwand höher, aber – bspw. bei Madonna – aber nicht dokumentiert.

2. Die verfügbaren Personalkapazitäten (inkl. Qualifikation) der einzelnen Institutio-nen für das Walk in Ruhr (WIR) - Zentrum für sexuelle Gesundheit und Medizin sind dokumentiert.

Das WIR startete 2016 mit dem Kooperationsvertrag der Einrichtungen die Arbeit. Darin waren die einzubringenden Personal- bzw. Zeitressourcen definiert. Seitdem kam es zu einigen Ausweitungen von Ausstattung und Angebot, insbesondere bei ärztlichem und pflegerischem Personal, bei Health Advising und Psychotherapie (vgl. dazu Kap. 4.3.1).

3. Kostenträger und Abrechnungsformen verschiedener Leistungen und neue, noch nicht abrechenbare Leistungen sind erfasst.

Das WIR setzt auf eine institutionelle Kooperation verschiedener eigenständiger Angebo-te. Auf medizinischer Seite wirkt eine Institutsambulanz mit vergleichsweise umfassender Ermächtigung mit, die eine der ältesten in Deutschland eingerichteten HIV-Ambulanzen ist sowie das örtliche Gesundheitsamt (STI-Test, Gynäkologie). Psychosoziale Leistun-gen werden über insgesamt vier (auch) kommunal geförderten NGO eingebracht. Von diesen sitzt die Aidshilfe mit ihrer gesamten Einrichtung direkt im WIR. Mit dieser Kon-struktion unterscheidet sich das WIR von anderen in Deutschland verfolgten Wegen, me-dizinische und psychosoziale Angebote stärker zu vernetzen. Andernorts werden meist Test und Beratung verbunden (bspw. in Checkpoint-Projekten), die Behandlung festge-stellter Infektionen muss dann in ein anderes Setting verlagert werden. Lediglich in Ham-burg besteht bei Casa Blanca die Möglichkeit, festgestellte STI sofort zu behandeln – doch nur im Falle mit Einmalgaben zu behandelnder STI. HIV-Behandlung muss auch hier an anderer Stelle erfolgen. Neue Entwicklungen, wie die CheckpointPlus-Projekte, versuchen, niedergelassene Praxen über Nebenbetriebsstätten einzubinden. Auch wenn hierzu noch keine Erfahrungen vorliegen, so ist doch klar, dass auch dort bestimmte Leis-tungen nicht anonym und kostenlos erbracht werden können, sondern nur zu Lasten der Krankenversicherung oder anderer Kosten- und Leistungsträger.

Die Evaluation erfasste, welche Kostenträger und Finanzierungsformen bisher im WIR präsent sind und welche neuen Formen hinzukamen (vgl. Kap. 4.1.2). Im Kern gibt es demnach folgende Finanzierungsformen:

Kostenerstattung der Krankenversicherungen für medizinische Leistungen der Am-bulanz

Pauschale Zuwendungen von Kommune und Land bzw. aus dem kommunalen Haus-halt der Stadt Bochum

Projektmittel und Drittmittelfinanzierung

Spenden und Mitgliedsbeiträge

Selbstzahlung durch Klient*innen/Patient*innen.

Zudem ist zu nennen, dass das Katholische Klinikum Bochum Räume zur Verfügung stellt und für deren Umbau aufkam. Die Krankenversicherungen leisten ausschließlich für Behandlungen in der Ambulanz, von dort geleistete Öffentlichkeits-, Antistigma- und Präventionsarbeit fällt nicht darunter. Alle anderen Finanzierungen zeichnen sich durch eine deutlich größere Unsicherheit aus: Zuwendungen, Spenden, Projektmittel etc. wer-den regelhaft nur für ein Jahr (oder wenige Jahre) gewährt und müssen immer wieder neu verhandelt werden. Dabei ist positiv hervorzuheben, dass die Stadt Bochum trotz finanzi-eller Engpässe wiederholt die Förderung des WIR aufgestockt hat und mittlerweile erheb-liche STI-bezogene Leistungen dort verortet.

Zwar konnten einzelne Spenden und Projektmittel für den Aufwand, der mit der Entwick-lung des WIR und der Kooperation einherging, eingeworben werden, doch war kein Kos-tenträger bereit, hierfür regelhafte Finanzierung zu gewähren.

Auch gelang es in der Projektlaufzeit in beeindruckendem Maß, immer wieder von ver-schiedenen Stellen Mittel für bestimmte Angebotsbausteine einzuwerben, bspw. bei der Deutschen AIDS-Stiftung oder bei Pharmafirmen sowie im Rahmen von Studien. Insge-samt fließen so bspw. im Jahr 2019 etwa 400.000 Euro Drittmittel ins WIR.

Lediglich an einer Stelle gelang es, eine neue und bessere Finanzierung zu erzielen: Mit der Knappschaft-Bahn-See als bisher einzige Krankenversicherung wurde zu Beginn 2019 ein Vertrag über „Besondere Versorgung“ (§ 140a SGB V) abgeschlossen, der der Ambulanz für die Behandlung von STI mehr Mittel zur Verfügung stellt – eine Art „Qua-litätspauschale STI“.

Im WIR besteht Unzufriedenheit mit der Finanzierung und es wird moniert, dass viele Leistungen weder bedarfsgerecht noch adäquat finanziert werden. Dies betreffe vor allem risiko-adaptierte Prävention, Health Advising, Entwicklung und Pflege der Online-Tools, Edukationsangebote/Patient*innenfortbildung sowie medizinisch für notwendig erachtete Maßnahmen, wie bspw. risikobezogene Screenings/Testungen, Test of Cure, (bestimmte) Impfungen, Überbrückungsangebote für Wartezeiten auf Therapie, Psycho-/Traumathera-pie sowie Öffentlichkeitsarbeit. Gewünscht wird eine ergänzende verlässliche Grundfi-nanzierung des Gesamtangebots.

5.1.3 Regionale Ebene

Im Rahmen der Evaluation sollten schließlich die Auswirkungen des Walk in Ruhr (WIR) - Zentrum für sexuelle Gesundheit und Medizin auf die regionale Versorgung bzw. die Erreichung der hierzu festgelegten Ziele untersucht werden. Auch dies wurde anhand der im Zielkatalog definierten Rahmen- und Detailziele unternommen, im Einzelnen ging es dabei um:

1. Wirkung in die Region (Öffentlichkeitsarbeit, Aufklärungs- und Präventionsmaß-nahmen, Erhöhung von Bekanntheit und Reichweite des Zentrums und Erreichung von Kernzielgruppen und von neuen Zielgruppen)

2. Qualifizierung von Versorgungsbeteiligten und Multiplikatoren und Rekrutierung neuer Zuweiser*innen.

Die Erreichung der jeweiligen Detailziele wurde anhand der definierten Indikatoren un-tersucht. Im Folgenden werden die Ergebnisse entlang der Detailziele berichtet.