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Teil II: Fluoreszierende Nucleotid-Prodrugs für Zellaufnahmestudien

6 Kenntnisstand

6.4 Nucleosidmonophosphat-Prodrugs

Definitionsgemäß sind Prodrugs Substanzen, „die selbst biologisch weitgehend inaktiv sind, die aber im Organismus - enzymatisch oder nichtenzymatisch - in eine aktive Form umgewandelt werden“.[96] Die Anforderungen an ein Nucleotid-Prodrug sind eine ausreichende Stabilität außerhalb der Zelle und eine schnelle intrazelluläre Freisetzung des Nucleotids. Zudem dürfen die abgespaltenen Maskierungseinheiten nicht toxisch sein.

In der HIV-Therapie erfolgreich eingesetzte Nucleosidmonophosphat-Prodrugs sind die Tenofovir-Prodrugs Tenofovirdisoproxilfumarat 77 (TDF) und Tenofoviralafenamid 79 (TAF) (s. Abschnitt 6.1). Das NMP-Analogon Tenofovir 85 (TFV) und dessen Prodrugs sind in Abb. 65 dargestellt.

Abb. 65: Tenofovir 85 und dessen Prodrugs TDF 77 und TAF 79.

Das Prodrug Tenofovirdisoproxilfumarat 77 hat als Masken der Phosphonateinheit zwei Isopropyloxycarbonyloxymethyl-Gruppen (BisPOC-Prodrug). Die Abspaltung der Masken wird durch eine Carbonatspaltung, katalysiert durch Esterasen, initiiert. Anschließend entsteht durch Abspaltung von Kohlenstoffdioxid und Formaldehyd ein monomaskiertes Intermediat. Über den gleichen Weg wird auch die zweite Maske abgespalten und Tenofovir 85 freigesetzt, was dann durch zelluläre Kinasen zum Tenofovir-Diphosphat phosphoryliert wird.[97]

Tenofoviralafenamid 79 ist ein Phosphoramidat-Prodrug, ein sogenanntes ProTide. Dieses Prodrugkonzept wurde von MCGUIGAN entwickelt.[98] Hierbei sind die negativen Ladungen der Phosphonatgruppe durch einen Arylsubstituenten und einen Aminosäureester maskiert.

Im Fall des TAF 79 sind dies ein Phenyl- und ein L-Alaninisopropylestersubstituent. Nach der Zellaufnahme werden diese Masken in zwei enzymatischen Schritten abgespalten und das entsprechende Nucleosidanalogon freigesetzt. Im ersten Schritt wird abhängig vom Zelltyp von der Hydrolase Cathepsin A oder der Carboxyesterase 1 der Isopropylester gespalten.

Die freie Säure greift anschließend intramolekular nucleophil das Phosphoratom an, wodurch

85 77 79

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der Arylsubstituent abgespalten wird. Der dabei entstehende instabile Fünfring wird durch Wasser wieder zum Phosphoramidat geöffnet. Abschließend katalysiert eine Phosphoramidase die Spaltung der P-N-Bindung und Tenofovir 85 wird freigesetzt.[97]

Aryloxyphosphoramidat-Prodrugs werden nicht nur erfolgreich in der HIV-Therapie eingesetzt. Das ProTide Sofosbuvir wird zur Behandlung von Hepatitis-C-Virus (HCV)-Infektionen verwendet und eine Reihe weiterer vielversprechender Prodrugs gegen HIV, HCV und Krebs befinden sich in klinischen Studien.[97,99]

Neben diesen Prodrugkonzepten wurden noch eine Reihe weiterer, erfolgreicher Ansätze entwickelt. In Abb. 66 sind einige Konzepte in einer Übersicht zusammengestellt.

Das erste Pronucleotidkonzept wurde 1984 von SRIVASTVA publiziert.[100] Hierbei wurden die negativen Ladungen an der Phosphatgruppe durch zwei Pivaloyloxymethyl-Gruppen maskiert, wonach sich die Abkürzung BisPOM-Prodrug ableitet. Ein in der Hepatitis-B-Virus (HBV)-Therapie erfolgreich eingesetztes BisPOM-Prodrug ist Adefovirdipivoxil.[101] Der erste Schritt zur Freisetzung des Monophosphats ist die durch Esterasen katalysierte Abspaltung der Pivaloylgruppe. Das entstandene instabile Hydroxylmethylalkoholat zerfällt anschließend zu Formaldehyd und dem Nucleosidmonophosphat. Der Spaltungsmechanismus ist somit sehr ähnlich zu dem der BisPOC-Prodrugs, bei denen zwei Isopropyloxycarbonyloxymethyl-Gruppen als Maskierungseinheiten fungieren.

Abb. 66: Verschiedene Nucleosidmonophosphat-Prodrugkonzepte.

Eine organspezifische Freisetzung bietet das HepDirect-Konzept. Die Metabolisierung der Prodrugs erfolgt hauptsächlich in der Leber durch Cytochrom P450-Enzyme und ist somit ideal geeignet für Medikamente, die spezifisch in der Leber freigesetzt werden und dort

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wirken sollen. HepDirect-Prodrugs sind Aryl-substituierte cyclische 1,3-Propanylester.

Dadurch, dass die Maske ein cyclisches System darstellt, wird im Gegensatz zu den bisher vorgestellten Prodrugkonzepten nur eine Maskierungseinheit pro Nucleotid freigesetzt. Nach der Oxidation durch Cytochrom P450-Enzyme erfolgt eine Ringöffnung mit anschließender β-Eliminierung, so dass die freie Phosphatgruppe erhalten wird. Das zusätzlich gebildete Arylvinylketon wird durch die Reaktion mit Glutathion abgefangen.[102] Aufgrund der bevorzugten Metabolisierung in der Leber bietet sich an, dies bei der Behandlung von Hepatitis-Infektionen auszunutzen. Zurzeit befinden sich mit Pradefovir und MB07133 zwei HepDirect-Prodrugs zur Behandlung von HBV-Infektionen und Hepatozellulären Karzinomen in klinischen Studien.[97]

Ein weiterer Ansatz sind Alkoxyalkylmonoester-Prodrugs, im speziellen die Hexadecyloxypropylmonoester-Prodrugs, kurz HDP-Prodrugs. Die Prodrugs sollen Lysophosphatidylcholin (LPC) imitieren, um die natürlichen Aufnahmewege des LPCs zu nutzen. Bei diesen LPC-Analoga ist der Cholinrest gegen ein Nucleosidanalogon ausgetauscht. Bei den HDP-Prodrugs ist damit nur ein Sauerstoffatom anstatt der zwei möglichen maskiert, somit wird wie bei den HepDirect-Prodrugs nur eine Maskierungseinheit pro Nucleotid freigesetzt. Die Metabolisierung zum Nucleosidmonophosphat erfolgt durch Phospholipasen.[103,104] In klinischen Studien befinden sich zurzeit die HDP-Prodrugs Brincidofovir als Prophylaxe gegen eine Cytomegalievirus-Infektion und HDP-Tenofovir als HIV-Medikament.[97]

Bei dem BisAB-Konzept werden zwei 4-Acyloxybenzyleinheiten zur Maskierung der Phosphatgruppe verwendet.[105] Dieses Konzept bildet die Grundlage von vielversprechenden Nucleosiddi- und -triphosphat-Prodrugs. Auf den Abspaltungs-mechanismus der Masken und die Weiterentwicklung dieses Ansatzes wird in Abschnitt 6.5.1 noch genauer eingegangen.

Bisher wurden nur Konzepte vorgestellt, die auf einer enzymatischen Aktivierung zur Freisetzung des Monophosphats beruhen. Bei dem cycloSal-Ansatz dagegen erfolgt eine pH-Wert-abhängige, chemische Abspaltung der Maskierungseinheit. Da auf diesem Konzept ein Schwerpunkt dieser Arbeit liegt, soll darauf im Folgenden genauer eingegangen werden.

6.4.1 cycloSal-Prodrugs

Bei den cycloSal-Prodrugs fungiert ein Salicylalkohol als Maske, der sich durch pH-abhängige chemische Hydrolyse abspalten lässt. Die cycloSal-Pronucleotide weisen drei unterschiedliche Phosphatesterbindungen auf, die Phenyl- und Benzylesterbindung der Maske und die Alkylesterbindung, über die das Nucleosidanalogon gebunden ist. Hierdurch wird ein selektiver Hydrolyseprozess möglich. Wie bei den HepDirect- und den

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Prodrugs wird auch bei den cycloSal-Prodrugs nur eine Maskeneinheit pro Nucleotid freigesetzt.

Der Hydrolysemechanismus der cycloSal-Prodrugs ist in Abb. 67 dargestellt. Zunächst erfolgt ein nucleophiler Angriff eines Hydroxidions an das Phosphoratom des cycloSal-Phosphattriesters. Hierdurch wird das Phenolat in einer SNP-Reaktion verdrängt, da die negative Ladung über den aromatischen Ring delokalisiert werden kann und damit das Phenolat die beste Abgangsgruppe ist. Es entsteht ein 2-Hydroxybenzylphosphatdiester, wodurch sich der ortho-Substituent des Benzylesters von einem sehr schwachen zu einem starken Elektronendonor verändert hat. Die damit einhergehende Destabilisierung führt über einen intramolekularen Protonentransfer zu einem spontanen Zerfall des Benzylphosphatdiesters, bei dem das Nucleosidmonophosphat und der entsprechende Salicylalkohol freigesetzt werden.[106,107]

Abb. 67: Hydrolysemechanismus der cycloSal-Prodrugs (bearbeitet nach [106]).

Eine unerwünschte Nebenreaktion ist die Spaltung der Benzylesterbindung. Der gebildete negativ geladene Phenylphosphatdiester ist extrem resistent gegenüber weiterer chemischer Hydrolyse oder enzymatischer Zersetzung. Somit führt dieser Weg nicht zur Freisetzung des Nucleosidmonophosphats. Die Spaltung der Benzylesterbindung findet jedoch nur in untergeordnetem Maße statt, da der Phosphatrest in ortho-Position die Bindung stabilisiert, was durch zusätzliche Akzeptorsubstituenten in ortho- oder para-Position zur benzylischen Esterbindung weiter minimiert werden kann.[106,107]

Das cycloSal-Konzept wurde erfolgreich auf verschiedenste Nucleosidanaloga angewendet.

Dabei konnte gezeigt werden, dass die Nucleoside keinen Einfluss auf den Hydrolyseweg haben. Die in vitro Evaluierung mit cycloSal-d4TMP-Prodrugs konnte den Erfolg des Konzepts bestätigen. Hierbei wurde die antivirale Wirksamkeit gegen HIV-1 und HIV-2 in T-Lymphozytzellen getestet und vergleichbare oder höhere Aktivität in Bezug auf d4T 74 festgestellt. Da bei d4T 74 der erste Phosphorylierungsschritt der

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bestimmende Schritt zur Bildung des biologisch aktiven Nucleosidtriphosphats ist, wurden zur Überprüfung des Konzepts auch Thymidinkinase-defiziente Zellen verwendet. Hierbei konnte mit den cycloSal-Prodrugs im Gegensatz zu d4T 74 die vollständige antivirale Wirksamkeit erhalten werden. Daraus lässt sich schließen, dass die Prodrugs erfolgreich in die Zellen aufgenommen werden, das Monophosphat intrazellulär freigesetzt wird und die Metabolisierung zum Triphosphat unabhängig von der Thymidinkinase abläuft.[106] Dies wurde ebenfalls durch die Verwendung von Tritium-markierten Prodrugs bestätigt.[108]

Trotz der vielversprechenden Ergebnisse gab es Bestrebungen das Konzept weiter zu verbessern, da eine hohe intrazelluläre Konzentration des Prodrugs wünschenswert wäre, um damit auch eine hohe Konzentration an freigesetztem Nucleosid zu erreichen. Dies ist jedoch mit den cycloSal-Prodrugs der ersten Generation nicht möglich, da sich wegen des lipophilen Charakters der Prodrugs ein Konzentrationsgleichgewicht über die Zellmembran einstellt. Zudem findet die chemische Hydrolyse der Prodrugs auch extrazellulär aufgrund des ähnlichen pH-Werts statt. Somit wurde bei der Weiterentwicklung des Ansatzes zu den cycloSal-Triestern der zweiten und dritten Generation versucht, dieses Problem zu beheben.

Die Idee war es, eine schnelle intrazelluläre, enzymatische Metabolisierung des Prodrugs zu einer polaren Substanz zu erreichen, so dass die Bildung des Konzentrationsgleichgewichts über die Zellmembran unterbunden wird. Dies ist mit Beispielen von cycloSal-Prodrugs der zweiten und dritten Generation in Abb. 68 illustriert.

Die zweite Generation der cycloSal-Pronucleotide, auch „lock-in“-cycloSal-Pronucleotide genannt, tragen eine durch Esterasen spaltbare Estergruppe am aromatischen Ring, verbrückt durch einem Alkylspacer. Durch eine schnelle intrazelluläre Metabolisierung durch Esterasen wird ein polares Säureintermediat gebildet, wodurch eine Anreicherung des Intermediats in den Zellen stattfindet. Jedoch wird daraus das Monophosphat durch chemische Hydrolyse nur sehr langsam freigesetzt, da das negativ geladene Intermediat eine hohe Stabilität aufweist. Bei den cycloSal-Prodrugs der dritten Generation erfolgt eine enzymatische Aktivierung. Es entsteht nach der Metabolisierung durch Esterasen eine direkt am aromatischen Ring gebundene Aldehydgruppe, die ein starker Elektronenaktzeptor ist.

Hierdurch findet anschließend eine schnelle chemische Hydrolyse unter Freisetzung des gewünschten Monophosphats statt. Jedoch wurde auch mit dieser Methode keine verbesserte antivirale Aktivität gegenüber den cycloSal-Prodrugs der ersten Generation erreicht, was auf die zu geringe extrazelluläre Stabilität zurückzuführen ist.[109,110]

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Abb. 68: cycloSal-Prodrugs der zweiten und dritten Generation und deren Zellaufnahme und Metabolisierung (bearbeitet nach [109]).

Da cycloSal-Prodrugs drei unterschiedliche Substituenten am Phosphoratom aufweisen, sind sie chirale Moleküle und liegen bei der üblichen Synthese als Gemisch zweier Diastereomere vor. Diese weisen jedoch signifikante Unterschiede in ihrer Hydrolyse-geschwindigkeit und antiviralen Aktivität auf. Somit wurden stereoselektive Syntheserouten mit Auxiliaren entwickelt und dadurch auch diastereomerenreine Prodrugs zugänglich gemacht.[111,112]