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Von der Notwendigkeit eines gesellschaftli- gesellschaftli-chen Diskurses über Definitionen und Methoden

mit Definitions- und Methodenproblemen

3.3 Von der Notwendigkeit eines gesellschaftli- gesellschaftli-chen Diskurses über Definitionen und Methoden

Die hier nur skizzierten beträchtlichen Schwierigkeiten, Armut und Reich-tum zu definieren, darzustellen und zu messen, machen den sozialpolitischen Diskurs anfällig für ideologische oder interessengeleitete Verzerrungen – nahe-zu jede Behauptung lässt sich „irgendwie“ statistisch „belegen“. Daher kommt dem Diskurs über angemessene Methoden und Modelle besondere Bedeutung zu. Ihn zu stärken, ist auch eine sozialpolitische Aufgabe.

In diesem Sinne ist es erstens erforderlich, die Analyse der Einkommens- und Vermögensverteilungen und die Wahl der hierfür erforderlichen statistischen

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Durchschnitt aller Altersgruppen, alte OECD-Skala Durchschnitt aller Altersgruppen, neue OECD-Skala Schaubild 5:

Kinder- oder Altersarmut?

Vom Einfluss der Äquivalenzskala

Armutsquoten nach Altersgruppen

Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (2001b), S. 48 bis 6 Jahre 7 bis ca. 13 Jahre ca. 14 bis ca. 17 Jahre ca. 18 bis 24 Jahre 25 bis 54 Jahre 55 bis 64 Jahre ab 65 Jahre

Armutsquote in Prozent der Altersgruppe

Modelle und Indikatoren systematisch mit einer möglichst umfassenden empi-rischen Untersuchung der verschiedenen Aspekte von Lebenslagen zu verbin-den, um auf diese Weise den empirischen Gehalt statistischer Modellannahmen zu überprüfen. Dies unternimmt aber der Armuts- und Reichtumsbericht von 2001 selbst im Blick auf Armut nur ansatzweise120. Auch angesichts solcher Defizite sollte der Lebenslagenansatz, der ja nach konkreter Bedarfsdeckung fragt, faktisch und forschungsstrategisch jene Bedeutung erhalten, die ihm sozi-alwissenschaftlich zugeschrieben wird.

Zweitens ist es von zentraler Bedeutung für die Darstellung von Armut, dass die Selbsteinschätzung der von Unterversorgung Betroffenen ein stärkeres Gewicht als bisher erhält. Hierbei kann an einschlägige Forschungsansätze angeknüpft werden, die nach „subjektiver Armut“ fragen. Sie haben zwar bis-her zu keiner eigenständigen Definition von Armut geführt, wohl aber wichtige Hinweise zur Einschätzung realer Lebenslagen zusammengetragen, die über die Aussagekraft lediglich statistisch gewonnener Angaben hinausgehen. Zugleich helfen sie, den empirischen Gehalt von Modellannahmen zumindest unter Plau-sibilitätsgesichtspunkten näherungsweise einzukreisen. Auf die Möglichkeit eines solchen Ansatzes verweist selbst der Armuts- und Reichtumsbericht der deutschen Bundesregierung in einer Fußnote, um sich zugleich und ohne weite-re Begründungen von ihr zu verabschieden: „Um die normativen Entscheidun-gen bei der Bestimmung von Einkommensgrenzen und auch von Äquivalenzs-kalen abzusichern, wurde in den Niederlanden der Ansatz der subjektiven Armutsforschung entwickelt. Im Rahmen von Umfragen wurde ermittelt, wel-ches das für ein menschenwürdiges Leben unbedingt benötigte Haushaltsein-kommen ist. Ein Ansatz, der hier nicht aufgegriffen wird“121.

Drittens kann angesichts der methodischen Schwierigkeiten nur gesellschaft-lich verabredet werden, was unter Armut und Reichtum zu verstehen sei, wobei solche Verabredungen von Zeit zu Zeit aktualisiert werden müssen: Wertur-teilsfrei und zeitunabhängig lässt sich nicht bestimmen, was in einem gegebenen sozialen und wirtschaftlichen Kontext konkret als Armut und Reichtum zu gel-ten hat, der Streit über Wertorientierungen einer Gesellschaft muss aber poli-tisch und vor allem zivilgesellschaftlich geführt und kann nicht allein sozialwis-senschaftlich entschieden werden. Dies gilt angesichts normativer Implikatio-nen und sozialpolitischer Folgen auch für methodische Probleme: So stellt der Armuts- und Reichtumsbericht von 2001 fest: „Die Aufgabe, Armut zu messen bzw. messbar zu machen, scheint im streng wissenschaftlichen Sinn nicht lös-bar“122und verwies dabei auf die sozialwissenschaftliche Erkenntnis, dass letzt-lich „hinter jeder Interpretation des Armutsbegriffs und hinter jedem darauf beruhenden Messverfahren Wertüberzeugungen“ stünden, „über deren Rich-tigkeit sich wissenschaftlich nicht abschließend urteilen lässt […]. Aus diesem Grund kann jedes Ergebnis einer empirischen Armutsmessung von einer ande-ren Wertbasis angegriffen werden“123. Das Beispiel der Äquivalenzskalen zeigt,

in welchem Maße Modelle normative Implikationen haben – denn die Festle-gung einer Bedarfsgewichtung macht implizit oder explizit eine Aussage über

„angemessene“ Bedarfe.

Diese Beobachtungen führen viertens unmittelbar zu der entscheidenden Behauptung, dass grundsätzlich nur mit Beteiligung der von Unterversorgung Betroffenen – und in keinem Falle gegen sie – gesellschaftlich verabredet wer-den kann, was mit Unterversorgung, sozialer Ausgrenzung und Armut umschrieben werden soll. Denn es reicht nicht aus, Betroffene nach Selbstein-schätzungen zu fragen, vielmehr müssen sie als selbstständig handelnde Träger von Rechten (auch von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten) am sozialpolitischen Diskurs maßgeblich teilnehmen und in Entscheidungsprozes-se eingebunden werden. Denn sie sind Subjekte der AuEntscheidungsprozes-seinanderEntscheidungsprozes-setzung und nicht bloß Objekte sozialpolitischen Interesses.

Schließlich und fünftens ist zu bedenken, dass es auf Dauer den sozialpoliti-schen Erfordernissen nicht genügen wird, aufgrund unterschiedlicher methodi-scher Zugänge und statistimethodi-scher Modelle zu sich teilweise widersprechenden Abbildern sozialer Wirklichkeit zu kommen, da auf diese Weise rationale sozi-alpolitische Entscheidungen kaum möglich werden. Daher ist es unabdingbar, dass ein zumindest temporärer Minimalkonsens über Definitionen und Metho-den gelingt. So ist zum Beispiel hinsichtlich der Äquivalenzskalen mit Faik die Festlegung auf eine konkrete, empirisch begründete Skala zu fordern, die der sozioökonomischen Situation Deutschlands gerecht und in zeitlichen Abstän-den revidiert wird124.

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2..11 DDeenn DDiisskkuurrss üübbeerr RReeiicchhttuumm uunndd AArrmmuutt vveerrssaacchhlliicchheenn uunndd ssttäärrkkeenn

Da es nicht möglich ist, werturteilsfrei zu bestimmen, was im gegenwärtigen bundesdeutschen Kontext als Armut und Reichtum zu gelten hat, könnten sich Kirchen stärker und umfassender als bisher in den Diskurs zur Definition von Armut und Reichtum einbringen, und dies aus zwei Gründen:

Erstens sind Kirchen in besonderer Weise herausgefordert, sich an der Auseinandersetzung über Wertorientierungen der Gesellschaft zu beteiligen, dies gilt auch im Blick auf sozialethische Streitfragen: Die biblische „Option für die

Armen“ kann durchaus die Auseinandersetzung über den Armuts- und den Reichtumsbegriff orientieren.

Zweitens verfügen die Kirchen (und hier vor allem ihre Wer-ke, Dienste und Gruppen) über vielfältige Erfahrungen aus ihrer Arbeit mit Menschen, die unter Unterversorgungslagen leiden, sozial ausgegrenzt sind oder gar in „absoluter Armut“ leben. Diese Erfahrungen können sie zur Definition von Armut und Armutsgrenzen mobilisieren.

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2..22 VVeerrbbeesssseerruunngg ddeerr ssttaattiissttiisscchheenn EErrffaassssuunngg vvoonn RReeiicchhttuumm Kirchen könnten mit Nachdruck für eine Verbesserung der Datenlage zur Erfassung von Armut und – vor allem – Reich-tum eintreten. Denn die systematische Untererfassung von Einkommen und Vermögen durch die offizielle Statistik ist sozialpolitisch folgenreich und leistet Verzerrungen Vor-schub.

Da aber Personen in den obersten Einkommens- und Vermö-gensbereichen dazu tendieren, ihre Ausstattung mit finan-ziellen Ressourcen nicht offen zu legen, muss eine Auswei-tung der Datengrundlage zivilgesellschaftlich durchgesetzt werden. Hierzu können Kirchen beitragen, und zwar vor allem dadurch, dass sie die Notwendigkeit einer möglichst vollständigen statistischen Erfassung von Einkommen und Vermögen sozialethisch begründen.

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2.. 33 EEiinnmmiisscchhuunngg iinn ddeenn MMeetthhooddeennssttrreeiitt

Kirchen könnten darauf hinweisen, dass die Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit erheblich mitbestimmt wird von der Wahl sozialwissenschaftlicher Modelle und Methoden. Sie könnten daran erinnern, dass diese Wahl normative Implika-tionen hat, sozialpolitische Entscheidungen beeinflusst und dass daher der Methodenstreit auch in den zivilgesellschaft-lichen Diskurs geholt werden muss.

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2.. 44 PPaarrttiizziippaattiioonn ddeerr AAuussggeeggrreennzztteenn

Kirchen könnten sich nicht zuletzt dafür einsetzen, dass die von Unterversorgung Betroffenen maßgeblich beteiligt wer-den an der notwendigen gesellschaftlichen Verabredung dessen, was mit Unterversorgung, sozialer Ausgrenzung und Armut umschrieben werden soll.

Hierbei könnten die Kirchen einen exemplarischen binnen-kirchlichen Diskurs zur Definition von Armut und Reichtum beginnen, da Arme und Reiche zu ihren Gliedern gehören.

4. Reiche werden reicher, Arme ärmer –