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Einheitliche und eng abgegrenzte Definitionen von Armut und Reichtum gibt es nicht

mit Definitions- und Methodenproblemen

3.1 Einheitliche und eng abgegrenzte Definitionen von Armut und Reichtum gibt es nicht

„Der Begriff ‚Armut’ entzieht sich wegen seiner Vielschichtigkeit einer allge-meingültigen Definition“89. Und: „Die begriffliche Fassung von Reichtum ist

ebenso vielschichtig wie die von Armut“90. Mit diesen beiden Feststellungen benennt der erste Armuts- und Reichtumsbericht einer deutschen Bundesregie-rung eines der zentralen Probleme für jede Auseinandersetzung mit Armut und Reichtum. Denn weder gibt es einen einheitlichen, eng abgegrenzten Armutsbe-griff noch besteht Einigkeit darüber, wie Reichtum erfasst werden soll.

Armut? Eine Definitionsfrage!

Armut hat viele Gesichter, ist vielschichtig und mehrdimensional. Daher hat sich international in Sozialwissenschaft und -politik ein offener Armutsbegriff durchgesetzt: Nach einer Definition des Rates der Europäischen Union von 1984, die sich auch der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung von 2001 zu eigen macht, gelten Personen, Familien und Gruppen als arm, „die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist“91. Armut wird in dieser Definition also gleichgesetzt mit dem Ausschluss vom gesellschaftlichen Lebensstandard, und das heißt, mit sozialer Ausgrenzung („social exclusion“), und bezieht sich auf die Lebenslage von Individuen und Familien. Die Offenheit dieser Definition spiegelt zwar die Vielschichtigkeit und Multidimensionalität von Armut wider, die definitorischen Probleme aber löst sie nicht. Denn objektiv lässt sich nicht feststellen, was „als Minimum annehmbar“ ist, vielmehr muss dies relativ zum Standard einer Gesellschaft von dieser verabredet werden.

Wäre ein solches Minimum definiert, könnte entweder untersucht werden, ob eine Person oder ein Haushalt über ausreichend Mittel verfügt, um dieses Minimum zu erreichen. In diesem Falle würde also die „Ressourcenausstat-tung“ von Personen und Haushalten erhoben, und das heißt vor allem, die Ver-teilung von Einkommen und Vermögen erfasst. Dies tut der so genannte Res-sourcenansatz. Eine andere Möglichkeit wäre es, nach der tatsächlichen Bedarfsdeckung zu fragen: Kann eine Person oder ein Haushalt den (zu definie-renden) minimalen Lebensbedarf befriedigen? Diesen Weg beschreitet der Lebenslagenansatz92.

Wie viel Geld braucht ein Haushalt? Der Ressourcenansatz

Bereits die Bestimmung absoluter Armut sieht sich in Wohlstandsgesellschaf-ten wie der deutschen mit mehr SchwierigkeiWohlstandsgesellschaf-ten konfrontiert, als die plausible Umschreibung „absolut arm ist, wer nicht genügend Mittel zum physischen Überleben hat“ zunächst erwarten lässt. Denn jenseits extremster, und das heißt im Wortsinne: lebensbedrohender Formen absoluter Armut beginnen definito-rische Probleme: Schon die Bestimmung lebensnotwendiger Sets von

Grundgü-tern erfordert normative und damit strittige Entscheidungen. Immerhin gibt es im bundesdeutschen Kontext einen gewissen Konsens darüber, dass die schät-zungsweise 680.000 Wohnungslosen (1998)93, die zu dieser Gruppe zählenden rund 35.000 Obdachlosen94und die etwa 7.000 Straßenkinder95als absolut arm zu bezeichnen sind.

Erheblich größeren definitorischen Schwierigkeiten steht der Begriff relativer Armut gegenüber, da er sich ja auf jeweilige Standards einer Gesellschaft bezieht: Wie soll bestimmt werden, welche Mittel („Ressourcen“) zur Errei-chung eines gesellschaftlich akzeptablen Mindeststandards erforderlich sind, wenn dieses Minimum nicht definiert ist? Hierauf gibt es keine objektiven Ant-worten. Daher hat sich behelfsweise die Vorstellung durchgesetzt, dass in relati-ver Armut lebt, wer nur über ein deutlich unterdurchschnittliches Einkommen verfügt.

Hierbei wird die relative Armutsgrenze in der Regel an der 50-Prozent-Schwelle festgemacht: „Einkommensarm“ ist nach dieser Modellvorstellung ein Haushalt96mit einem Einkommen, das unter der Hälfte des durchschnitt-lichen gewichteten Haushaltsnettoeinkommens (Äquivalenzeinkommen97) liegt. Darüber hinaus wird die „40-Prozent-Grenze“ zur Beschreibung „stren-ger Armut“ und die „60-Prozent-Grenze“ für „weite Armut“ angeführt98. Die-se statistischen Grenzen haben sich eher zufällig durchgeDie-setzt, sie sind willkür-lich gezogen und haben keinen Bezug zu einem wie auch immer definierten tat-sächlichen Existenzminimum. Dennoch sind diese Grenzen nicht sinnlos. Vor allem die Annahme, unterhalb der „50-Prozent-Grenze“ beginne relative Armut, wird insofern durch die sozialwissenschaftliche Forschung gedeckt, als sie zeigte, dass sich Haushalte in diesem Einkommensbereich deutlich durch Unterversorgung auszeichnen (und vermutlich relative Armut schon oberhalb der „50-Prozent-Grenze“ beginnt).

Als ergänzendes Modell hat Werner Hübinger den Begriff „prekärer Wohl-stand“ in die Diskussion gebracht und für diesen eine „75-Prozent-Grenze“

behauptet99. Denn Hübinger kommt anhand der Untersuchung von Unterver-sorgungslagen zu dem Schluss, dass es zwar eine markante Strukturierung des Einkommens- und Ungleichheitsspektrums gibt, allerdings nicht entlang der

„50-Prozent-Grenze“100. Entscheidend sei vielmehr ein Grenzbereich zwischen

„Wohlstand“ und „prekärem Wohlstand“ bei 75-Prozent des Durchschnitts-einkommens („Wohlstandsschwelle“): Haushalte oberhalb dieser Grenze müs-sten kaum mit Unterversorgungslagen rechnen, Haushalte mit einem Einkom-men unterhalb dieses Grenzniveaus (und damit im Bereich des „prekären Wohl-standes“) sähen sich aber unmittelbar von Unterversorgungslagen bedroht, sie würden bei außerordentlichen Belastungen (etwa durch Arbeitslosigkeit oder Scheidung) schnell in Armut geraten.

Allerdings beruhen die Überlegungen Hübingers auf einer Datengrundlage, die das Durchschnittseinkommen beträchtlich unterschätzt101. Geht man dage-gen von den Ergebnissen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe von 1998 (EVS 1998) aus, wäre eine eventuelle „Wohlstandsschwelle“ sicher weit unterhalb einer „75-Prozent-Grenze“ anzusiedeln102(falls sich überhaupt die Modellannahmen Hübingers auf der Datengrundlage der EVS halten ließen – übrigens ein Hinweis darauf, dass solche Modellannahmen immer wieder mit-hilfe von empirischen Erhebungen überprüft werden müssen).

Doch unabhängig von der Benennung der von Hübinger präsentierten Schwelle und von ihrer Höhe ist die Beobachtung wichtig, dass es zwar ober-und unterhalb dieser Schwelle eine hohe Einkommensmobilität (Verbesserung oder Verschlechterung der Einkommenssituation) gebe, diese Schwelle aber nur von wenigen Haushalten unter- oder überschritten werde. Empirische Untersu-chungen sprechen für diese Annahme Hübingers103.

Der Lebenslagenansatz

Angesichts solcher Schwierigkeiten versucht der Lebenslagenansatz einen anderen Weg. Er fragt, ob im Blick auf (Aus-)Bildung, Erwerbstätigkeit, Wohn-verhältnisse, Gesundheit und Familienstruktur Unterversorgungslagen festzu-stellen sind. Hierbei werden befragte Haushalte mitunter um Selbsteinschät-zungen gebeten, was für sie notwendig, wünschenswert oder verzichtbar sei.

Doch auch dann bleibt ungeklärt, was Unterversorgung ist und mit welchen Indikatoren sie gemessen werden soll.

Reichtum? Eine Definitionsfrage!

Die Erfassung von Reichtum ist strittig, so zum Beispiel die Grenzziehung zwischen Reichtum und Wohlstand, die in einer Wohlstandsgesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland aber Voraussetzung für eine rationale Ausein-andersetzung mit Reichtum ist. Unterbleibt eine solche Grenzziehung, kommt es zu Schieflagen des sozialpolitischen Diskurses – sei es, dass eine Spaltung der Gesellschaft in Reiche und Arme unterstellt und damit die soziale Lage der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit, die ja weder arm noch reich ist, nicht erfasst wird; sei es, dass eine Auseinandersetzung mit Reichtum dadurch unter-laufen wird, dass alle Haushalte mit gesicherten Einkommensverhältnissen unterschiedslos als reich bezeichnet werden. Was also ist Reichtum?

Gemeinhin gelten „Millionäre“ als reich, wobei zu unterscheiden wäre zwi-schen Einkommens- und Vermögensmillionären. Eine solche „Definition“ hat aber allenfalls symbolischen Wert, nicht zuletzt deshalb, weil die Aussagekraft

des Betrages „eine Million“ zeit- und währungsabhängig ist (mit der Einfüh-rung des Euro verringerte sich die Zahl der „Millionäre“). Daher sind aussage-kräftigere Kriterien zur Definition von Reichtum erforderlich:

Zu fragen wäre zum Beispiel, ob es in Analogie zu den Begriffsbildungen und Modellen der Armutsforschung „absoluten“ und „relativen“ Reichtum gibt.

Wäre dem so, könnte spiegelbildlich zur „50-Prozent-Grenze“ (unterhalb der relative Armut beginnt) von einer „200-Prozent-Grenze“ (das Doppelte des durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens104) gesprochen werden, ober-halb der relativer Reichtum begänne. In der Tat schlagen Ernst-Ulrich Huster und andere eine solche Grenze vor105. Geht man von ihr aus, lebten 1998 in Deutschland 6,6 Prozent der Einkommensbezieher (1,9 Millionen Menschen) in reichen Haushalten, davon 0,1 Millionen in den neuen Bundesländern.

Da aber Einkommen selbst im oberen Bereich der Verteilung vor Einbrüchen nicht geschützt sind und andererseits die statistisch erfassten Einkommen nur einen Teil der gesamten Einkommen ausmachen106, liegt der Versuch nahe, Reichtum im Blick auf Vermögen zu definieren. Hierfür wird in der Regel nicht eine bestimmte Grenze gewählt, sondern die Vermögensverteilung untersucht.

Allerdings gibt es gute Gründe für die Annahme, dass in jedem Falle dann von Reichtum zu sprechen sei, wenn allein schon die Vermögenseinkommen zur Erreichung hoher Einkommenspositionen ausreichen. Dies dürfte 1998 bei einem Vermögen zwischen 1,2 und 1,5 Millionen DM der Fall gewesen sein, denn das aus ihm erzielte Einkommen überstieg damals – unter Abschätzung verschiedener Renditen und Risiken – die „200-Prozent-Einkommensgren-ze“107. Dass ein solches Vermögen in der bundesdeutschen Realität eher eine untere Reichtumsgrenze bezeichnet haben dürfte, verdeutlichte die Einschät-zung des früheren Präsidenten der Deutschen Bundesbank, Karl Otto Pöhl, der Vermögen bis zwei Millionen DM als klein, bis 20 Millionen DM als mittel und ab 20 Millionen DM als groß bezeichnete und die Vermögensreichtumsgrenze mit etwa 10 Millionen DM angab: „Jemanden, der fünf Millionen besitzt, wür-de ich als wohlhabend bezeichnen“108.

Eine dritte Möglichkeit zur Definition von Reichtum wäre, den Lebenslagen-ansatz in die Reichtumsforschung zu übertragen. Könnte man also fragen, ob es – in Analogie zur Unterversorgung – „Überversorgung“ gibt? Für die Bereiche Bildung und Gesundheit wäre dies sicher problematisch, wenn nicht gar sinn-los. Geht es jedoch um die Verteilung knapper Ressourcen wie Arbeit oder Wohnraum, könnte es durchaus gerechtfertigt sein, von „Überversorgung“ zu sprechen. Hilfreich wären in diesem Zusammenhange Indikatoren, die solchen Luxus messen, der unter Umständen auf Kosten der Allgemeinheit geht.

Schließlich müssten auch nicht-monetäre Dimensionen wie allgemeine Privi-legierung, Prestige und Macht berücksichtigt werden, die selbstredend eng an

die monetären Aspekte von Reichtum gebunden sind. Entsprechende For-schungsprojekte sind im Kontext des Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung initiiert worden109.