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Armut und Reichtum haben viele Dimensionen und Gesichter: Anmerkungen zur

Beobachtungen zu den Rändern der sozialen Schichtung in Deutschland

des 21. Jahrhunderts: Sozial polarisiert?

4.2 Armut und Reichtum haben viele Dimensionen und Gesichter: Anmerkungen zur

Notwendig-keit von Typologisierungen und einer Konzep-tualisierung

Armut und Reichtum haben viele Gesichter. Sie zeichnen sich durch unter-schiedliche und vielfältige Dimensionen aus, sind in unterunter-schiedlicher Weise mit sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen verknüpft, haben verschiedene Ursachen. Daher ist eine Annäherung an Armut und Reichtum sowohl auf Typologisierungen wie auf eine Konzeptualisierung angewiesen176, soll sie Schieflagen und ideologischen Verzerrungen der sozialpolitischen Auseinander-setzung entgegenwirken177. Allerdings gibt es bisher kaum Versuche, entspre-chende Typologisierungen und eine umfassende (deutende) Konzeptualisierung zu erarbeiten. Daher beschränken sich die folgenden Andeutungen auf Anmer-kungen zur Notwendigkeit derselben.

Von temporärer Armut bis zum Entstehen neuer „Armutsmilieus”?

Überwiegend (nicht ausschließlich) ist Armut ein komplexes Geflecht mehre-rer Dimensionen von Unterversorgung178infolge defizitärer Ausprägungen der marktbeherrschten Vergesellschaftung179. Daher kann Armut als „soziale Aus-grenzung” nicht verstanden werden, wenn die einzelnen Dimensionen von Unterversorgung voneinander isoliert werden und Armut individualisiert und eher als persönliches Geschick denn als Ergebnis sozialer und wirtschaftlicher Strukturen und Prozesse begriffen wird. Erforderlich ist also, die einzelnen Dimensionen von Unterversorgung aufeinander zu beziehen und in ihren sozioökonomischen Kontext zu stellen.

Um die Multidimensionalität von Armut abzubilden, ist zum Beispiel zu fra-gen, wie sich die Verteilung der Einkommen und Vermögen widerspiegelt im unterschiedlichen Zugang zu politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kultu-rellen Rechten. Zu untersuchen wäre, welche Formen von Armut zu welchen Formen sozialer Ausgrenzung führen: Unmittelbar einsichtig ist, dass eine vor-übergehende Unterversorgungslage eines jungen arbeitslosen Akademikers in anderer Weise gesellschaftlich ausgrenzt als dauerhafte Armut eines Langzeitar-beitslosen. Daher muss auch der Versuch unternommen werden, die Diversität von Armut, die Vielfalt ihrer Formen und Ausprägungen, in den Blick zu neh-men in der Absicht herauszuarbeiten, was diesen Forneh-men und Ausprägungen gemeinsam ist und worin sie sich unterscheiden.

Eine solche differenzierende Annäherung an die Multidimensionalität und Diversität von Armut wird ohne eine (für geschlechterspezifische Unterschiede sensible) Typologisierung nicht auskommen. Mögliche Indikatoren hierfür wären zum Beispiel der Grad von Unterversorgung, ihre Dauer und Dynamik oder Art und Ausmaß der Verflechtung verschiedener Dimensionen von Unter-versorgung. Hierbei müsste auch der partielle Ausschluss von gesellschaft-lichen, kulturellen und politischen Gestaltungsräumen abgebildet werden.

Andere Indikatoren müssten der Erfassung von Armutsursachen dienen. Von-einander geschieden werden könnten so zum Beispiel biographisch-temporäre Krisensituationen (etwa ausgelöst durch lange Krankheit oder Scheidung) von intergenerativen Armutskarrieren in nur unvollständig in den Markt und in die Gesellschaft integrierten Sozialmilieus. Biographisch-strukturell bedingte Armut (etwa allein Erziehender oder Behinderter) könnte ebenso herausgear-beitet werden wie jene Formen von Armut, die (wie bei Asylbewerberinnen und -bewerbern) aus der staatlich verordneten Beschränkung des Zuganges zu Rechten resultieren.

Überforderte Sozialhilfe

Die Sozialhilfe180 soll als letztes Auffangnetz Armut vermeiden und das soziokulturelle Existenzminimum sichern. Diesem Anspruch kann sie aber je länger desto weniger gerecht werden. Denn seit Anfang der 1970er Jahre ist – mit Ausnahme der letzten Regierungsjahre der sozialliberalen Koalition – die Zahl der Empfängerinnen und Empfänger von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt dramatisch gewachsen (vgl. Schaubild 11).

Aus diesem Umstand kann zwar nicht unmittelbar auf die Zunahme der Häufigkeit oder die Erhöhung des Grades von Armut geschlossen werden181, dennoch verweist er darauf, dass die „normalen” Versorgungssysteme von Erwerbsarbeit und sozialer Sicherung nicht mehr greifen182. Hinzu kommt, dass das Niveau der Sozialhilfe politisch-administrativ – und das heißt zunehmend: nach finanzpolitischen Kriterien – festgelegt wird mit der Fol-ge, dass der Sozialhilfe-Regelsatz keinesfalls für alle Berechtigten bedarfsde-ckend ist183. Daher können Personen, die den vollen Sozialhilfebedarf erhal-ten, trotzdem unter die Grenze zur relativen Armut (50 Prozent des durch-schnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens) fallen.

Für eine Konzeptualisierung von Armut von besonderem Interesse sind Ver-änderungen in der Zusammensetzung der Empfängerinnen und Empfänger von Sozialhilfe184:

Am stärksten wuchs die Sozial-hilfequote für Männer im Alter von 18 bis 65 Jahren, sie nahm von 1978 bis 1998 um 333,3 zent zu und lag 1998 bei 2,6 Pro-zent (1978: 0,6 ProPro-zent). Damit scheint sich langfristig die Quo-te für Männer und Frauen in die-ser Altersgruppe tendenziell anzugleichen (für Frauen stieg die Quote von 1,3 Prozent im Jahr 1978 auf 3,9 Prozent, eine Zunahme um 260 Prozent).

Auch Haushalte allein Erziehen-der sind zunehmend auf Sozial-hilfe angewiesen, die entspre-chende Quote lag 1975 bei 15,2 Prozent, 1998 bei 28,7 Prozent aller Haushalte allein Erziehen-der (für allein erziehende

Män-Schaubild 11:

Überforderte Sozialhilfe

Empfängerinnen und Empfänger von Sozialhilfe in den alten Bundesländern

Personen mit Hilfe in besonderen Lebenslagen Personen mit laufender Hilfe zum Lebensunterhalt (außerhalb von Einrichtungen)

Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (2001b), S. 123ff.

Personen in 1.000 1963 1965 1967 1969 1971 1973 1975 1977 1979 1981 1983 1985 1987 1989 1991 1993 1995 1997

ner lag die Quote 1998 bei 6,5 Prozent, für Frauen bei 32,1 Prozent185): Zwar ist die Sozialhilfequote für Jugendliche mit 7,1 Prozent (sowohl für Jungen wie Mädchen) unverändert am höchsten, dennoch sind die Zuwächse der Quo-ten für erwerbsfähige Männer und Frauen am größQuo-ten. Dies und der Umstand, dass die Sozialhilfequote für Frauen über 65 Jahre deutlich rück-läufig ist und die für Männer dieser Altersgruppe stagniert, ist ein Hinweis darauf, dass es zunehmend arbeitsmarktstrukturelle Zusammenhänge sein dürften, die Menschen in die Sozialhilfe drängen.

Von 1994 bis 1998 stieg der Anteil der erwerbstätigen Männer mit laufender Hilfe zum Lebensunterhalt an allen Empfängerinnen und Empfängern im Alter von 15 bis 64 Jahren in den alten Bundesländern von 5,9 auf 8 Prozent und bei den Frauen von 7,1 auf 9,1 Prozent – in nur vier Jahren eine signifikan-te Ssignifikan-teigerung: Für einen wachsenden Personenkreis reichsignifikan-ten also die Erwerbseinkommen nicht (mehr) zur Sicherung des soziokulturellen Exis-tenzminimums aus.

War 1980 für 10,5 Prozent der Empfängerinnen und Empfänger von laufen-der Hilfe zum Lebensunterhalt Arbeitslosigkeit die Hauptursache für die Inanspruchnahme der Hilfe gewesen, stieg dieser Anteil bis 1988 auf 33,9 Prozent (bis 1993 fiel er dann leicht auf 30,3 Prozent). Seit 1994 kann der Sozi-alhilfestatistik entnommen werden, wie viele Empfängerinnen und Emp-fänger von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt arbeitslos gemeldet sind.

Im früheren Bundesgebiet betrug damals dieser Anteil 21,2 Prozent, 1998 aber 37,4 Prozent. In den neuen Bundesländern stieg der Anteil arbeitslos Gemeldeter an allen Hilfeempfängerinnen und -empfängern von 51,6 Pro-zent 1994 auf 56 ProPro-zent 1998: Der Zusammenhang zwischen Arbeitslosig-keit und der Angewiesenheit auf laufende Hilfe zum Lebensunterhalt wird also immer ausgeprägter.

Diese Beobachtungen legen den Schluss nahe, dass das Institut der Sozial-hilfe aufgrund von unter verteilungspolitischen Gesichtspunkten defizitä-ren Entwicklungen der Marktvergesellschaftung in die Krise geraten ist:

Nicht die Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger sind damit das Hauptproblem, sondern der Markt ist es – was eine Konzeptualisierung von Armut zu berücksichtigen hat.

Diese Typologisierung von Armut ist eine Grundvoraussetzung für nachhalti-ge Sozialpolitik. Denn annachhalti-gesichts der Belastbarkeitsgrenzen der bisherinachhalti-gen For-men staatlicher Daseinsvorsorge und der Notwendigkeit zur umfassenden Reform sozialstaatlicher Institutionen werden zielgruppenspezifische Ansätze zur Überwindung sozialer Ausgrenzung gefunden werden müssen, diese aber erfordern den vorgängigen Versuch einer Typologisierung von Armut. In diesem

Sinne heißt es zum Beispiel in der „Stellungnahme des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland zum zweiten Entwurf des Nationalen Aktionsplanes zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzung” vom Mai 2001: „Sozial-hilfe soll Unterstützung im Notfall geben und nicht zur Absicherung breiter Bevölkerungsschichten bzw. Lebensrisiken dienen. Demzufolge muss das Sozial-system weiter umgebaut werden”186. In der Tat hat das Institut der Sozialhilfe seine heutige Gestalt zu einer Zeit gefunden, zu der Armutslagen mehrheitlich als temporär begriffen und als „Notfall” verstanden wurden. Da aber heute komplexe Unterversorgungslagen weit häufiger strukturbedingt sind als indivi-duelles Schicksal, ist das Institut Sozialhilfe völlig überfordert, wenn es die Hauptlast der staatlichen Verpflichtung zur Daseinsvorsorge tragen soll.

Dabei verlangt die unabdingbare Reform des Sozialsystems eine (neue) Kon-zeptualisierung von Armut, die das Geflecht von Unterversorgungslagen so auf sozioökonomische Kontexte bezieht, dass Kausalbeziehungen deutlich werden.

Mögliche Ansatzpunkte einer solchen Konzeptualisierung scheinen zum Bei-spiel an einigen wenigen Stellen des ersten Armuts- und Reichtumsbericht einer Bundesregierung auf187. So heißt es in einem Exkurs zu dem Abschnitt „Woh-nen”:

„Bei mancherorts auftretender sozialräumlicher Konzentration von Arbeits-losigkeit, Armut, Hilfsbedürftigkeit und Verwahrlosung des öffentlichen Raums sind vor allem in Großstädten Problemviertel entstanden. Ein wachsen-der Teil wachsen-der Einwohnerschaft ist wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten wie Dauerarbeitslosigkeit und entsprechenden Konsequenzen ausgesetzt, Investitionen in die bauliche Substanz blieben aus, die Lebensqualität wurde aufgrund zunehmender Vernachlässigung öffentlicher Flächen beeinträchtigt.

Erholungsmöglichkeiten, Grün-, Spiel- und Sportplätze fehlten. Familien mit Kindern, Besserverdienende und andere sozial stabile Gruppen mit sicherem Einkommen zogen weg – zurück blieben jene, die sich den Umzug in eine besse-re Gegend aus finanziellen Gründen oder aufgrund ihbesse-res Alters nicht leisten können. Die soziale Mischung im Quartier ging verloren. Diese Trends führten zu sozialen Problemlagen, die sich jedoch nicht gleichmäßig über das Stadtge-biet verteilen. Es sind soziale Brennpunkte entstanden, mit deren Zunahme zu rechnen ist. In den benachteiligten Großstadtquartieren nahmen Aggression, Gewalttätigkeit und Vandalismus zu; zugleich nahm die Bereitschaft, am demo-kratischen Willensbildungsprozess mitzuwirken, ab”188.

Beobachtungen wie diese bieten Anknüpfungspunkte für eine Konzeptuali-sierung von Armut, die die Multidimensionalität und Diversität von Unterver-sorgungslagen und ihren Zusammenhang mit der marktbeherrschten Vergesell-schaftung auf den Begriff bringt. Hierbei sind mit einer konsistenten Analyse die Kausalbeziehungen zwischen Armut, Arbeitslosigkeit und Strukturen des Marktes wie der Marktvergesellschaftung freizulegen. Zu fragen wäre also

unter anderem, wie Verarmungsprozesse verknüpft sind mit dem unter Vertei-lungsgesichtspunkten defizitären Strukturwandel des Arbeitsmarktes.

Erst mithilfe einer solchen Konzeptualisierung von Armut ließe sich die sozi-alpolitisch außerordentlich bedeutsame Frage beantworten, ob die Zunahme der Häufigkeit und der wachsende Grad von Armut zum Entstehen neuer Armutsmilieus führen. Für eine solche Vermutung spricht die räumliche Ver-dichtung von Armutslagen, die in den angeführten Beobachtungen des Armuts-und Reichtumsberichtes aufscheint. Die Herausbildung solcher räumlichen Cluster multidimensionaler sozialer Ausgrenzung wäre dann besonders folgen-reich, wenn sie einherginge mit einer intergenerativen Festsetzung von Armut durch eine mangelhafte Ausstattung der Kinder armer Eltern mit Aufstieg-schancen.

Die Wahrscheinlichkeit einer solchen intergenerativen Verfestigung von Armutsmilieus wird vermutlich durch eine Einschränkung des Bildungszugan-ges erhöht. Allerdings erlaubt die unzulängliche Datenlage keine ausreichende Überprüfung dieser Annahme189. Selbst die von der Organisation für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 2001 vorgelegte erste Auswertung der „PISA-Studie” („Lernen für das Leben”) beschränkt sich auf wenige diesbezügliche Anmerkungen, stellt aber zumindest fest, dass der

„Zusammenhang zwischen Wohlstand und Leistung” zwar „uneinheitlich, generell jedoch positiv” sei: „Schülerinnen und Schüler aus wohlhabenderen Familien schneiden in der Regel in allen [sic!] getesteten Bereichen besser ab als Schülerinnen und Schüler aus den am wenigsten begüterten Familien.” Die größten schichtenspezifischen Leistungsunterschiede gebe es in den USA, die geringsten in einigen europäischen Ländern und in Japan190.

Auch der vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen herausgege-bene „Bericht über die menschliche Entwicklung 2002” deutet einen Zusammenhang von Einkommens- und Bildungsarmut zumindest vage an.

Dieser Bericht weist für einige OECD-Länder sowohl Armutsquoten wie den Anteil der Analphabeten aus. Hierbei wird als Armutsquote der Bevölkerungs-anteil mit einem Nettoäquivalenzeinkommen von unter 50 Prozent des Median und damit die „unterste” Armutsgrenze verwendet („strenge Armut”). Im Blick auf die Lese- und Schreibfähigkeit greift der Bericht auf das Konzept des funk-tionalen Analphabetismus zurück. Dieses Konzept beschreibt „die Unfähigkeit, gebräuchliche Kommunikations- und Informationskanäle verstehen und in einem Alltagskontext benutzen zu können”191.

Schaubild 12 stellt die Ergebnisse zusammen: Zwar gibt es keinen eindeuti-gen Zusammenhang, doch auffällig ist, dass Länder mit weit überdurchschnitt-licher Armutsquote auch einen überdurchschnittlich hohen Anteil von Men-schen aufweisen, die funktionale Analphabeten sind. So mussten in den USA

1997/98 fast 17 Prozent der Bevöl-kerung in „strenger Armut” leben (mit einem Nettoäquivalenzeinkom-men von unter 50 Prozent des Medi-an), und über 20 Prozent der Bevöl-kerung verfügten nicht über ausrei-chende Lese- und Schreibfähigkei-ten, um Alltagsanforderungen (etwa das Lesen einfacher Zeitungsartikel) gerecht werden zu können. Umge-kehrt wiesen alle Länder mit einem niedrigen Anteil funktionaler Anal-phabeten niedrige Armutsquoten auf (Niederlande und skandinavische Länder). Allerdings können niedrige Armutsquoten auch mit einer hohen funktionalen Analphabetenquote einhergehen, so etwa in der Tsche-chischen Republik.

Diese Beobachtungen deuten also

einen Zusammenhang von Einkommensarmut und defizitärem Zugang zu Bil-dung an, auch wenn sie noch keine Aussagen über Kausalbeziehungen erlau-ben: Zwar ist anzunehmen, dass ausreichende Lese- und Schreibfertigkeiten in jenen Ländern am weitesten verbreitet sind, in denen Armut am seltensten ist, doch ob ein höheres Bildungsniveau Armut eindämmt oder ob die Bekämpfung von Armut den Zugang zu Bildung verbessert oder ob sich beide Indikatoren wechselseitig bedingen, kann an dieser Stelle nicht entschieden werden. Immer-hin aber legt die Vermutung eines Zusammenhanges von Bildungschancen und Einkommenspositionen vor dem Hintergrund der Gefahr, dass sich Armutsmi-lieus durch Bildungsausschluss intergenerativ verfestigen könnten, die besonde-re Berücksichtigung dieser Zusammenhänge bei der Konzeptualisierung von Armut nahe192.

Reichtum ist nicht gleich Reichtum

Bereits erste Annäherungen an Reichtum zeigen, dass (auch) Reichtum ein höchst vielschichtiges Phänomen ist. Dies gilt bereits im Blick auf Formen (Ein-kommensreichtum, hohe Geldvermögen, großer Grundbesitz, Besitz an Pro-duktionsmitteln) und Ausmaß: Kaum vergleichbar sind soziale Lage, Status und gesellschaftlicher Einfluss eines mittelständischen Unternehmers, der über ein Privatvermögen von wenigen Millionen Euro verfügt, mit denen eines

„Stars” oder eines führenden Profisportlers (die Einkommen mancher „Stars”

7 Prozentanteil der Bevölkerung mit Einkommen unter 50 Prozent des Median

Schaubild 12:

Je mehr Arme, desto mehr Analphabeten?

Funktionale Analphabeten- und Armutsquoten in OECD-Ländern (Mitte der 1990er Jahre)

Quelle: UNDP (2002), S. 188 Irland

Prozentanteil der funktionalen Analphabeten (16- bis 65-jährige)

und Sportler liegen bei dem Sieben- bis Achtfachen der Einkommen führender deutscher Manager193).

Unterschiedlich sind weiter „Quellen” und „Verwendung” von Reichtum, was durchaus von sozialpolitischem Interesse ist: Ist Reichtum das Ergebnis innovativen unternehmerischen Handelns und fließt weit eher in produktive Investitionen denn in privaten Konsum, so ist er sicher anders zu bewerten als ohne Verdienst ererbte große Vermögen, die vorwiegend ein Leben in Luxus ermöglichen. Auch das mit Reichtum Gemeinte zeichnet sich also durch eine erhebliche Diversität aus.

Und Reichtum ist – wie Armut – multidimensional und weit mehr als der bloße Bezug hoher Einkommen oder die Verfügungsgewalt über große Vermö-gen. Denn das im Geld aufbewahrte „Vermögen” kann nahezu unbegrenzte Handlungs- und Gestaltungsoptionen eröffnen und sich auf diese Weise in gesellschaftliche Macht übersetzen – „Geldvermögen” wird so zu „Vermögen”

im Sinne eines umfassenden „Könnens”. Die gesellschaftliche Bedeutung dieses Sachverhaltes ist offenkundig. Ihn aufzuspüren, ist (noch nicht bewältigte) Auf-gabe einer sozialwissenschaftlichen Reichtumsforschung, die das Gesamt einer auf Marktvergesellschaftung beruhenden sozialen, wirtschaftlichen und politi-schen Ordnung im Blick hat. In diesen Kontext gehört dann auch eine kritische Analyse der „Verheißung grenzenlosen Reichtums” und damit des „religiösen Wesens” von Reichtum194.

Auch im Blick auf Reichtum ist also eine Typologisierung ebenso erforderlich wie eine Konzeptualisierung, die die Multidimensionalität und Diversität von Reichtum zu erfassen und auf die politischen, sozialen und ökonomischen Dimensionen der Marktvergesellschaftung zu beziehen vermag. Nicht zuletzt muss eine solche Konzeptualisierung mögliche (kausale) Zusammenhänge zwi-schen Armut und Reichtum erhellen. Noch aber fehlen selbst Ansätze zur Typo-logisierung und Konzeptualisierung von Reichtum weitgehend – wodurch einer Ideologisierung der Debatte über Reichtum und nicht zuletzt der Selbstlegiti-mation extremen Reichtums195Tor und Tür geöffnet wird.