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Die Konkretion in ökumenischer Perspektive

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofs-konferenz sprachen in ihrer Wortmeldung „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ nahezu alle seinerzeit strittigen sozialpolitischen und viele wirt-schaftspolitische Themen an mit der erklärten Absicht, Politik möglich zu machen16. Sie taten dies in der Annahme, dass unverzichtbare Voraussetzung für die politische Gestaltungs- und die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft ein ethischer Grundkonsens sei17, der aber „gegenwärtig verloren zu gehen“ drohe und daher „unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen neu gefunden werden“ müsse. „Erst ein solcher Grundkonsens ermöglicht eine Verständi-gung unter den Bürgerinnen und Bürgern über die wichtigsten Perspektiven einer zukunftsfähigen Gesellschaft und eröffnet Wege zur Bewältigung der bedrängenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme“18.

Ausdruck der Bedrohung dieses Grundkonsenses – der nicht „Harmonie“

meine, sondern eine Verständigung über grundlegende Regeln und Prinzipien einer Gesellschaft – sei, dass „Solidarität und Gerechtigkeit […] keine unange-fochtene Wertschätzung“ mehr genießen würden. Stattdessen bestimmten

„Egoismus auf der individuellen Ebene“ und „die Neigung der

gesellschaft-lichen Gruppen, ihr partikulares Interesse dem Gemeinwohl rigoros vorzuord-nen“ die Gesellschaft19. Ursache dieser Entwicklung könnte – so legt die kir-chenleitende Wortmeldung nahe, ohne dies aber deutlich zu benennen20– die Ökonomisierung der gesamten Gesellschaft sein: „Das ökonomische Denken tendiert dazu, das menschliche Leben auf die ökonomische Dimension einzuen-gen und so die kulturellen und sozialen Zusammenhänge menschlichen Lebens zu vernachlässigen“21. Doch eine Gesellschaft dürfe nicht von den Gesetzen eines unregulierten Marktes beherrscht werden, vielmehr müssten marktwirt-schaftliche Strukturen eingebettet sein in eine Kultur der Solidarität und Gerechtigkeit. Es sei eine kulturelle Aufgabe, „dem Eigennutz eine gemein-wohlverträgliche Gestalt zu geben“. Unterbleibe dies, drohe die Gefahr, dass der „individuelle Eigennutz, ein entscheidendes Strukturelement der Markt-wirtschaft, […] zum zerstörerischen Egoismus“ verkommen könne22.

Nach Ansicht der Kirchenleitungen erfordert also die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft, dass „Solidarität und Gerechtigkeit“ als übergeordnete Leit-bilder gesamtgesellschaftlich anerkannt und der berechtigte „Eigennutz“

gemeinwohlverträglich gestaltet würden. Diese Einschätzung ist alles andere als unstrittig. Sie muss vielmehr mit Widerspruch rechnen, darauf verweist das kir-chenleitende Wort gleich zu Beginn: „Manche würden der regulativen Idee der Gerechtigkeit gern den Abschied geben. Sie glauben fälschlich, ein Ausgleich der Interessen stelle sich in der freien Marktwirtschaft von selbst ein. Für die Kirchen und Christen stellt dieser Befund eine große Herausforderung dar“23.

Diese Herausforderung nehmen die Kirchenleitungen an. Sie stellen die Ver-teilungsfrage neu und erheben sie zu einer zentralen Frage für die Zukunftsfä-higkeit einer Gesellschaft: „Der zutreffende Grundsatz, dass Leistung sich im wirtschaftlichen Bereich lohnen muss, darf nicht dazu führen, dass die Bezieher hoher Einkommen einseitig von ihren Beiträgen zum sozialen Ausgleich entlas-tet werden. Leistungsfähigkeit für die solidarische Finanzierung des sozialen Ausgleichs bestimmt sich im Übrigen nicht nur nach dem laufenden Einkom-men, sondern auch nach dem Vermögen. Wird im Blick auf das Vermögen die Substanz- und Besitzstandswahrung für unantastbar erklärt, dann ist die Sozi-alpflichtigkeit des Eigentums in einer wichtigen Beziehung drastisch einge-schränkt oder sogar aufgehoben“24. An anderer Stelle heißt es, das „Geld- und Grundvermögens“ sei „in zunehmendem Maß ungleich verteilt“, „so dass die breite Bevölkerungsmehrheit auch in Zukunft nicht über ein ausreichendes Ver-mögen zur Absicherung der elementaren Lebensrisiken verfügen wird“25. Ver-mögen müsse „in angemessener Weise zur Finanzierung gesamtstaatlicher Auf-gaben herangezogen werden“26. Insgesamt sei „Umverteilung […] gegenwärtig häufig Umverteilung des Mangels, weil der Überfluss auf der anderen Seite geschont wird. Ohnehin tendiert die wirtschaftliche Entwicklung dazu, den Anteil der Kapitaleinkommen gegenüber dem Anteil der Lohneinkommen zu vergrößern“27.

Indem die Kirchenleitungen für „Arme“, „Schwache“ und „Benachteiligte“

Partei ergreifen und soziale Gerechtigkeit einfordern28, lenken sie also den Blick in verteilungspolitischer Absicht auf Reichtum: „Nicht nur Armut, auch Reich-tum muss ein Thema der politischen Debatte sein“29. Reichtum und Armut werden aufeinander bezogen, um auf diese Weise die gesellschaftliche Funktion und Verantwortung von Reichtum bestimmen zu können. Diese Bestimmung ist nach Ansicht der Kirchenleitungen von herausragender Bedeutung für die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft und damit für die Lösung sozialer Pro-blemstellungen schlechthin. Damit fordern die Kirchenleitungen (zumindest implizit) eine genauere Untersuchung von Reichtum angesichts der zunehmen-den Vermögenskonzentration und der Tatsache, dass „in zunehmen-den letzten 20 Jahren […] mit dem Reichtum zugleich die Armut in Deutschlang gewachsen“ sei30. Diese Forderung gibt der hier vorgelegten Problemanzeige ihre Leitfrage nach den „Rändern“ („Polen“) der sozialen Schichtung, nach Ausmaß, Formen und Funktion von Reichtum in einer Gesellschaft mit wachsender Armut. Damit beschränkt sich die Problemanzeige auf Ausschnitte der sozialen Wirklichkeit:

Obgleich in Deutschland der überwiegende Teil der Bevölkerung weder arm noch (weit) überdurchschnittlich reich ist, rechtfertigt sich eine solche Engfüh-rung mit der Ausgangshypothese, diese Fragestellung sei für die Gesellschaft von grundlegender Bedeutung31. Diese Hypothese mit empirischen Befunden zu konfrontieren und dabei die Notwendigkeit einer Erneuerung des verteilungs-politischen Diskurses zu prüfen, ist eine der Konkretionen der gewählten Frage-stellung.

Nahe liegend ist die Konzentration auf Reichtum und Armut im Blick auf globale Zusammenhänge. So plädiert das von protestantischen Hilfswerken angeregte „Projekt 21“ angesichts der in Lateinamerika, Afrika und Asien vor-herrschenden Armut entschieden für eine Intensivierung der kirchlichen Aus-einandersetzung mit Reichtum: Zwar wurde es in der Absicht initiiert, neue Ansätze der Armutsbekämpfung zu entwickeln, doch bald schon trat die Not-wendigkeit in den Vordergrund, sich mit Reichtum, „übermäßigem Reichtum“,

„Habgier“ gar auseinander zu setzen. So trugen die 24 Fallstudien viele Hin-weise auf einen Zusammenhang von Armuts- und Reichtumsdynamiken zusammen. Der katholische brasilianische Bischof José Maria Libória Camino Saracho berichtete zum Beispiel: „In den Vororten von São Paulo wächst Armut proportional zur Zunahme des Egoismus der Reichen und Mächtigen, die immer mehr Geld anhäufen können und dabei andere Menschen vergessen.

Sicher hat es Fortschritt gegeben, aber er hat Armut nicht verringert. Die Rei-chen sind jeden Tag reicher, und die Armen jeden Tag ärmer“32.

Dabei wurde Reichtum in vielen Fallstudien mit „Habgier“ gleichgesetzt.

Mehrheitlich schrieben die in den 19 Ländern befragten kirchlichen Mitarbei-terinnen und Mitarbeiter Reichen negative Eigenschaften zu. Sie wurden zum Beispiel als „spirituell verarmt“, „unmoralisch“, „herzlos“, „selbstsüchtig“ und

eben „habgierig“ bezeichnet. Vor diesem Hintergrund spricht das Abschlussdo-kument des „Projektes 21“ wiederholt von einer „Kultur der Habgier“ („cultu-re of g(„cultu-reed“), die für Armut (mit-)verantwortlich sei. Allerdings deuten einige Fallstudien an, dass Reichtum nicht immer negativ zu bewerten sei, dann näm-lich nicht, wenn er geteilt und nicht zum Raub an den Armen werde.

Diese Beobachtungen sind zur Orientierung der hier vorgelegten Probleman-zeige insofern von Interesse, weil sie erstens auf die Frage verweisen, ob Armuts-und Reichtumsdynamiken kausal miteinander verknüpft seien: Werden die Rei-chen reicher, weil die Armen ärmer werden oder werden die Armen ärmer, weil die Reichen reicher werden oder gelten gar beide Kausalverknüpfungen von Armuts- und Reichtumsdynamiken – und wenn ja, dann generell oder „nur“ für Lateinamerika, Afrika und Asien? Solchen Fragen kann keine Untersuchung von Reichtum und Armut ausweichen, auch wenn die hier vorgelegte Problem-anzeige kaum mehr zu leisten vermag, als die Frage zu präzisieren.

Zweitens und in engem Zusammenhange damit betonen die Beobachtungen die Bedeutung individueller Einstellungen und Wertorientierungen für die Vertei-lung von Reichtum und Armut in den Ländern des Südens. Auch das Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskon-ferenz thematisierte individuelle Einstellungen, wenn es zum Beispiel davon sprach, „individueller Eigennutz“ könne zum „zerstörerischen Egoismus“ ver-kommen – eine Vorstellung, die nicht allzu weit von jener einer „Kultur der Hab-gier“ entfernt zu sein scheint. Zu ergründen wäre also, ob, wie und in welchem Maße individuelle Wertorientierungen und Verhaltensweisen mit Lebenslagen zusammenhängen33. Eine solche von den ökumenischen Wortmeldungen nahe gelegte Fragestellung ist aus herrschender wirtschaftswissenschaftlicher Sicht sinnlos, denn es sei ein ethisch indifferenter Markt, der Einkommen und Vermö-gen „objektiv“ verteile. Damit provozieren die ökumenischen WortmeldunVermö-gen an dieser Stelle scharfen wissenschaftlichen Widerspruch – was die Notwendig-keit unterstreicht, der hier angedeuteten Frage nachzugehen.

Wenn bereits dieses Vorhaben (je nach wissenschaftstheoretischer Veror-tung) wissenschaftlich anstößig erscheint, so gilt dies erst recht für die grund-sätzliche Ausrichtung beider ökumenischer Initiativen. Denn sie beanspruchen, Reichtum aus der Perspektive „der Armen“ in den Blick zu nehmen: Die „bibli-sche Option für die Armen“ halte dazu an, „die Perspektive der Men„bibli-schen ein-zunehmen, die im Schatten des Wohlstands leben und weder sich selbst als gesellschaftliche Gruppe bemerkbar machen können noch eine Lobby haben.

Sie lenkt den Blick auf die Empfindungen der Menschen, auf Kränkungen und Demütigungen von Benachteiligten, auf das Unzumutbare, das Menschenun-würdige, auf strukturelle Ungerechtigkeit. Sie verpflichtet die Wohlhabenden zum Teilen und zu wirkungsvollen Allianzen der Solidarität“, so die deutschen Kirchenleitungen34. In einer solchen Verortung wird Reichtum zum Thema,

weil (und insofern) es Armut gibt – wiederum ein Argument für die Gegenüber-stellung beider „Pole“ der sozialen Schichtung35.

Für die Armen ist Armut keine Definitionsfrage

Der Hinweis auf die Notwendigkeit, den Begriff „Armut“ zu definieren, relati-viert sich in der Begegnung mit Menschen in absoluter Armut. Als im Rahmen des „Projektes 21“ eine kirchliche Mitarbeiterin in Fiji eine Großmutter fragte, was Armut sei, antwortete diese:

„Sie fragen mich, was Armut sei? Hier! Hier ist sie, sie starrt Ihnen in die Augen! Schauen Sie mich doch an! Ich bin allein. Ich habe nicht genug zu essen. Ich habe keine ausreichende Kleidung, keine ausreichende Unter-kunft. Ich habe kein sauberes Trinkwasser. Schauen Sie nur meine geschwol-lenen Füße! Zur Apotheke kann ich nicht gehen, sie ist zu weit weg, um zu Fuß hinzugehen. Ich müsste allein eine Meile laufen, um einen Bus zu krie-gen. Ich sehe schlecht. Garten- und Feldarbeit kann ich nicht mehr machen.

So sagen Sie nicht, ich soll Ihnen erzählen, was Armut sei! Schauen Sie mich an – und sehen Sie selbst!“

[Aisake Casimira] (2001), S. 7, Übersetzung d.Verf.

Zugleich mahnt diese Ausrichtung eine ganzheitliche Wahrnehmung (zumin-dest) von Armut an, die sich unter anderem für „Empfindungen“, „Kränkun-gen und Demütigun„Kränkun-gen“, „Unzumutbares“ und damit für subjektives Befinden interessiert. Hierfür gibt es gute Gründe: Die Studien des „Projektes 21“ zeigen eindrücklich, wie komplex die Realität Armut ist, wie sie alle Lebensbereiche erfassen, Menschen sozial ausgrenzen, Gesundheit zersetzen, Gefühle überwu-chern und „Geist und Seele“ töten kann. Mehrfach wird von Menschen berich-tet, deren Selbstwertgefühl durch Armut erloschen sei. Hoffnungs-, Mut- und Antriebslosigkeit seien die Folgen, die besonders dann jede persönliche Initiati-ve zum Erliegen brächten, wenn sich Arme selbst für die eigene Armut Initiati- verant-wortlich machten. Aus Fiji wird mitgeteilt, dass sich über 95 Prozent der Befragten resigniert mit ihrer Armut abfänden36– nicht selten mit dem Ergeb-nis, dass sich die Ausgegrenzten selbst weiter ausgrenzten. Eine lateinamerika-nische Studie sieht dies als Charakteristikum der „neuen Armut“, denn die

„alte Armut“ hätte den Menschen noch nicht alle Hoffnungsperspektiven genommen37. Immer wieder betonen die Studien den Teufelskreis der Armut:

Armut erzeuge Armut, Ursachen von Armut würden zu Folgen, Folgen zu Ursa-chen. Gewalt mache, so nur ein Beispiel aus den Fallberichten, Menschen arm, und Armut treibe Menschen in die Gewalt.

Solche Hinweise in den Fallstudien des „Projektes 21“ warnen vor dem Hintergrund lateinamerikanischer, afrikanischer und asiatischer

Alltagserfah-rungen ebenso wie das Wort der deutschen Kirchenleitungen eindringlich vor einer Reduzierung von Armut auf monetäre Dimensionen: „Armut hat viele Gesichter und viele Ursachen. Sie ist mehr als nur Einkommensarmut. Häufig kommen bei bedürftigen Menschen mehrere Belastungen zusammen, wie etwa geringes Einkommen, ungesicherte und zudem schlechte Wohnverhältnisse, hohe Verschuldung, chronische Erkrankungen, psychische Probleme, langan-dauernde Arbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung und unzureichende Hilfen“38, so die Kirchenleitungen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland.

Diese Hinweise zeigen: Sowohl die Analyse von Armut als auch der sozialpoliti-sche Diskurs sind auf einen breiten Begriff von Armut angewiesen, der objekti-ven wie subjektiobjekti-ven Dimensionen gerecht wird und erlaubt, die Komplexität von Armut zu erfassen: Daher fragt die hier vorgelegte Problemanzeige mit besonderem Nachdruck nach Voraussetzungen und Möglichkeiten einer begrifflichen Klärung des mit Armut Gemeinten, wobei selbstredend unter-schiedliche soziale und wirtschaftliche Kontexte unterunter-schiedliche Antworten erfordern: Armut ist in Wohlstandsgesellschaften auf andere Weise zu definie-ren als zum Beispiel in Gesellschaften, die vom Vorherrschen absoluter Armut geprägt werden.

In jedem Falle aber droht, dass ohne ausreichende begriffliche Klärungen strukturelle Dimensionen von Armutslagen unerkannt bleiben. Ein Beispiel hierfür liefert das Wort der deutschen Kirchenleitungen, das Menschen in Armutslagen mehrfach mit der Reihung „Arme, Schwache, Benachteiligte“

bezeichnet, ohne das Verhältnis der drei Begriffe zueinander zu bestimmen.

Dies aber wäre erforderlich, denn alle drei Begriffe bezeichnen unterschiedliche Dimensionen: „arm“ verweist auf eine soziale Lage, „schwach“ auf (physi-sches, wirtschaftliches, politisches usw.) Vermögen und „benachteiligt“ auf das Ergebnis eines sozialen, wirtschaftlichen und politischen Prozesses (und damit in der Regel auf ausgrenzende Strukturen). Auf welche Weise und in welchem Maße diese Dimensionen von Lebenslagen miteinander zusammenhängen, müsste geklärt werden, wenn zum Beispiel Ursachen von Armutslagen erforscht werden sollen. So wäre etwa zu fragen, ob und in welchem Maße Arme schwach, Schwache arm und Armutslagen die Folgen von Ausgrenzungs-prozessen sind. Das Wort der Kirchenleitungen leistet dies nicht – mit der Kon-sequenz, dass die konkrete gesellschaftliche Bedeutung der „Option für die Armen“ offen bleibt: Wird sie zum Beispiel verstanden als sozialethisch begrün-dete „Pflicht der Starken, sich der Rechte der Schwachen anzunehmen“39, so macht sie Arme zu Objekten, die angewiesen seien auf beschützendes Handeln.

Im Gegensatz hierzu muss es darauf ankommen, Arme als Subjekte, als selbstbestimmt handelnde Träger von Rechten zu begreifen. In diesem Sinne erinnert eine der Fallstudien des „Projektes 21“ an den Protest eines Waiapi-Indianers aus dem Regenwald Amazoniens bei der EXPO 2000: „Bitte nennt uns nicht mehr arm. Unsere einzige Armut besteht darin, dass wir keine

Rechts-titel für unser Land, für den reichen Regenwald haben. Ohne RechtsRechts-titel kön-nen wir unser Land nicht gegen die Konzerne der Holzindustrie und gegen andere Invasoren (wie landlose Bauern) verteidigen. Könntet Ihr uns also hel-fen, dass wir Dokumente erhalten, die unseren Rechtsanspruch auf unser Land belegen?“40An dieser Stelle wie auch sonst erinnert das „Projekt 21“ deutlicher als das Wort der deutschen Kirchenleitungen an die Notwendigkeit, Armut als Folge eines unzureichenden Zuganges zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten zu begreifen. In einer solchen Perspektive kommt dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966 besondere Bedeutung als Bezugsrahmen für Armutsanaly-sen zu, da dieser (1973 von Deutschland ratifizierte) Pakt zur „Universellen Menschenrechtscharta“41der Vereinten Nationen gehört. Vor allem aber sind die Bestimmungen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte inzwischen zum größten Teil zu Völkergewohnheitsrecht42geworden – unter Einschluss des Kernbestandes wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte43.

Diese rechtliche Dimension von Armut kann also nur wahrgenommen wer-den, wenn ein breiter Begriff von Armut die Analyse leitet – ein Hinweis mehr auf die Bedeutung begrifflicher Klärungen. In jeder Hinsicht vordringlich sind sie im Blick auf den Begriff Reichtum, für den es bisher nicht einmal ansatz-weise eine konsensfähige Definition gibt. Hier konnten auch die Studien des

„Projektes 21“ und das Wort der deutschen Kirchenleitungen keine Abhilfe schaffen, denn sie lassen gänzlich ungeklärt, was jeweils mit Reichtum gemeint ist. In der Wortmeldung der deutschen Kirchenleitungen werden zum Beispiel Reichtum und Wohlstand44nicht eindeutig voneinander abgegrenzt. Auch die Fallstudien des „Projektes 21“ bieten keine definitorischen Ansatzpunkte, beschreiben sie doch fast durchgängig Reichtum lediglich als das unmittelbare Gegenteil von Armut: reich ist, wer hat und kann, was Arme nicht haben und können.

Angesichts solcher begrifflicher Unschärfen (die die Aussagekraft mancher Feststellungen sowohl der Fallstudien des „Projektes 21“ als auch des Wortes der deutschen Kirchenleitungen einschränken) ist eine Präzisierung der Schlüsselbe-griffe Reichtum und Armut unabdingbare Voraussetzung dafür, dass einschlägige sozialpolitische Stellungnahmen der Kirchen „Politik möglich machen“ können.

Dies gilt umso mehr, weil sich die verteilungspolitische Auseinandersetzung nicht nur durch ungeklärte Begriffe auszeichnet, sondern mitunter der Hinweis auf das Fehlen konsensfähiger Definitionen als Argument gegen die Sinnhaftigkeit einer verteilungspolitischen Debatte ins Feld geführt wird, da ohne eine Verständigung über Definitionen empirische Erhebungen strittig bleiben müssten. Hierauf weist auch das Wort der deutschen Kirchenleitungen hin: „Der Streit über den Armuts-begriff ähnelt dem Streit, wie er Anfang der 70er Jahre über die Umwelt geführt wurde, als Probleme mit dem Hinweis geleugnet wurden, sie ließen sich nicht wissenschaftlich verlässlich nachweisen“45.

Dass schließlich eine Problemanzeige „Reichtum und Armut in Deutsch-land“ in ökumenischer Perspektive globale Zusammenhänge zumindest ansatz-weise in den Blick nehmen muss, versteht sich von selbst. Die Fallstudien des

„Projektes 21“ zeigen eindrücklich, dass die tiefe soziale Spaltung vieler Länder Lateinamerikas, Afrikas und Asiens auch (wenngleich in unterschiedlichem Maße) Folge weltwirtschaftlicher Strukturen ist. Und im Wort der deutschen Kirchenleitungen heißt es: „Die Kirche hat eine Botschaft an alle Menschen.

Für sie kann der Horizont von Solidarität und Gerechtigkeit über Deutschland und Europa hinaus nur ein weltweiter sein“46. Eine solche Perspektive ist ange-sichts zunehmender Globalisierung unabdingbar. Dies macht bereits ein flüchti-ger Blick auf die internationalen Finanzmärkte deutlich: „Wie sich in jüngster Zeit mehrfach gezeigt hat, können von den internationalen Finanz- und Kapi-talmärkten nicht nur stabilisierende, sondern auch destabilisierende Wirkun-gen auf nationale Volkswirtschaften ausgehen. Die hohen und ständig steiWirkun-gen- steigen-den Summen, die fortlaufend auf steigen-den internationalen Finanzmärkten umgesetzt werden, verweisen auf die Aufgabe, diese Prozesse zu gestalten und der Ent-wicklung weltweiter Wohlfahrt dienlich zu machen. Eigentum ist stets sozial-pflichtig, auch das international mobile Kapital“47.

Allerdings kann es der hier vorgelegten Problemanzeige „Reichtum und Armut in Deutschland“ nicht einmal ansatzweise um eine Analyse globaler Dimensionen von Reichtum und Armut gehen. Sie beschränkt sich vielmehr auf wenige Anregungen, wie Kirchen in Deutschland eine intensivierte Ausein-andersetzung mit Reichtum und Armut ökumenisch-weltkirchlich verorten und anschlussfähig machen könnten.

Was Kirchen tun könnten:

„Bausteine für eine kirchliche Agenda“ – wozu?

Am Ende einzelner Abschnitte trägt die Problemanzeige „Reich-tum und Armut in Deutschland“ jeweils einige „Bausteine für eine kirchliche Agenda“ zusammen, die im zweiten Teil dieser Studie zusammengefasst werden.

Die Bausteine wollen Anregungen geben, auf welche Weise die kirchliche Auseinandersetzung mit Reichtum und Armut intensi-viert werden und weshalb eine solche Intensivierung notwendig sein könnte.

Daher sollen nur „Bausteine“ für eine Neuakzentuierung oder Ergänzung kirchlichen Redens und Handelns gesammelt werden im Bewusstsein, dass sich die Kirchen und vor allem ihre Werke, Dienste und Gruppen schon seit jeher und vielfältig mit Reichtum und Armut auseinander setzen.

2. Wachsender Reichtum, ungleich verteilt Eine erste Annäherung

Die privaten Haushalte in Deutschland sind reich: Von 1992 bis 1999

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