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im Lichte eines Perspektivwechsels

Die Verabschiedung des Leitbildes sozialer Gerechtigkeit trug ideologische Züge und war weit weniger sachlich begründet und auf der Höhe der Zeit, wie sie zu sein vorgab. Immer deutlicher wird, dass Reichtum um jeden Peis keines-falls als Leitbild für eine zukunftsfähige Gesellschaft taugt. Soll sie nicht ausein-ander fallen, ist sie auf „soziale Gerechtigkeit” als Bezugsrahmen für gesell-schaftliches, politisches und wirtschaftliches Handeln angewiesen.

Dabei geht es selbstredend nicht um eine pauschale Diskreditierung von Reichtum. Denn unbestritten ist die private Eigentumsgarantie eine wesentliche Voraussetzung eines funktionierenden Wirtschaftssystems und ein Grund-recht360. Reichtum und die mit ihm zusammenhängende soziale Ungleichheit entzieht sich damit jedoch nicht automatisch jeder Bewertungsmöglichkeit.

Diese Einsicht setzte sich in Deutschland im Laufe der neunziger Jahre mehr und mehr durch. „Soziale Gerechtigkeit” wurde zum bestimmenden Thema der Bundestagswahl 1998361. Die materielle Ungleichheit in der bundesdeutschen Gesellschaft – steigende Unternehmensgewinne und Aktienkurse auf der einen Seite, eine anscheinend verfestigte hohe Arbeitslosigkeit auf der anderen – führte zur Wahrnehmung einer „Gerechtigkeitslücke”, die staatlicher Korrektur bedür-fe. Damit wurden Einsichten der Gründungszeit der Bundesrepublik Deutsch-land aufgegriffen, in der „Soziale Gerechtigkeit” ein Schlüsselbegriff war. Aller-dings hat das Wiederaufleben der Debatte über „Soziale Gerechtigkeit” nicht all-gemein zur inhaltlichen Klärung des Begriffes geführt362. Als Bezugsrahmen zur Beurteilung der sozialen Ungleichheit in Deutschland muss deshalb das hier zugrunde gelegte Verständnis von „sozialer Gerechtigkeit”, insbesondere ihr Ver-hältnis zur Gleichheit, offen gelegt und zur Diskussion gestellt werden.

Soziale Gerechtigkeit – ein Kompaktbegriff

Soziale Gerechtigkeit hat als „Kompaktbegriff”363mehrere Bedeutungsebe-nen. Üblich ist immer noch die Anlehnung an die aristotelische Unter-scheidung364. Danach bezieht sich distributive Gerechtigkeit auf die Verteilung von Gütern, Ressourcen, Lasten und Lebenschancen. Im Rahmen von wirt-schaftlichen und sozialen Beziehungen und Transaktionen, die (meist vertrag-lich) ein reziprokes Tauschverhältnis begründen, spricht man von kommutati-ver Gerechtigkeit. Politische Gerechtigkeit beinhaltet staatsbürgerliche und politische Fragen, während schließlich die korrektive Gerechtigkeit die Verlet-zung gesellschaftlicher Normen und ihre Sanktionierung behandelt.

Gleichheit ist der Kern jeder Gerechtigkeitstheorie365. Die Idee der Gleichheit aller Individuen, die sich allein in ihrem Menschsein begründet, ist mit ihrem Entstehen in der Aufklärung – unabhängig von der häufigen Missachtung die-ser Idee in der Realität – eine unhintergehbare Prämisse geworden366. Daraus folgt jedoch nicht, dass die Gerechtigkeit eine Gleichverteilung aller Güter in allen Bereichen fordert. Dies gilt zum Beispiel sicher für politische Rechte, weit weniger jedoch für alle erdenklichen materiellen Güter367. Gleichheit ist in vie-len Varianten Teil einer Gerechtigkeitstheorie, z.B. als Chancengleichheit, als gleiche Bedürfnisbefriedigung oder nach dem Equity-Prinzip368, das heißt, dass auf gleiche Leistung ein gleicher Anteil entfällt beziehungsweise ungleiche Leis-tung auch ungleich belohnt werden soll. Gestritten wird deshalb oft nicht darü-ber, ob Gleichheit grundsätzlich Teil der Gerechtigkeit ist, sondern über das jeweils angemessene Verständnis von Gleichheit.

Verabschiedung des Leitbildes „Soziale Gerechtigkeit”

als Bedeutungschimäre?

Der Bezugspunkt sozialer Gerechtigkeit ist die Gesamtgesellschaft und ihre Strukturen. Von libertärer369Seite ist ein solcher Bezug verworfen worden. Von Ökonomen und Wirtschaftsverbänden wird gerne in dieser Absicht die Ansicht von Friedrich August von Hayek angeführt.

Dieser meinte, dass der Begriff der Gerechtigkeit allein auf individuelles Han-deln anwendbar sei. Soziale Gerechtigkeit ist für ihn nur ein anderes Wort für austeilende Gerechtigkeit370. Die Verteilung der Güter erfolge in einer offenen Gesellschaft aber über den Markt. Dieser stelle keine organisierte, sondern eine spontane Ordnung (Katallaxie) dar371. Denn aus dem zielgerichteten Handeln der Individuen ergibt sich eine von niemandem geplante oder beabsichtigte Ordnung beziehungsweise Struktur. Die Katallaxie hat sich als gesellschaftli-ches Regelsystem nach Hayek evolutionär durchgesetzt, da es hinreichend abstrakt sei, um in großen Gesellschaften das individuelle Handeln zu koordi-nieren. Gesellschaften, die entsprechend organisiert waren, überlebten gegenü-ber solchen, die diesen „notwendigen” evolutionären Schritt nicht machten.

Ein Eingriff in die spontane Marktordnung sei demnach ein evolutionärer Rückschritt372. In der spontanen Marktordnung kann nach Hayek nur die indi-viduelle Befolgung abstrakter Regeln als gerecht bezeichnet werden. Soziale Gerechtigkeit findet so wie jedes andere mögliche Ziel keinen Platz in der Katal-laxie.

Friedrich August von Hayek

Friedrich August von Hayek (1899-1992) gilt als einer der bedeutendsten Wirtschaftswissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Hayek hat darüber hinaus zu anthropologischen, erkenntnistheoretischen und gesellschaftspoliti-schen Fragen publiziert.

In der wirtschaftswissenschaftlichen Debatte über die richtige Art von Geld-politik unterlag er in den 1930er Jahren zunächst John Maynard Keynes. Die-ser befürwortete eine aktive, interventionistische Rolle des Staates in der Geld- und Verteilungspolitik. Hayek strich dagegen die Rolle der Preise als Indikator für die Effizienz wirtschaftlicher Aktivität heraus, die durch Eingrif-fe in den Markt zerstört würde. Im Kontext der Weltwirtschaftskrise konnte sich Hayeks anti-interventionistische Überzeugung jedoch nicht durchset-zen.

Über seine ökonomische Analyse von Preisen und des Wirkens freier Märkte hinaus, wandte sich Hayek seit den 1940ern einer umfassenden Kritik des Sozialismus zu. Seine Argumentation, dieser sei nicht nur ökonomisch fatal, sondern beinhalte zwangsläufig durch die alle gesellschaftlichen Bereiche umfassende Planung die Abschaffung liberaler Freiheitsrechte, wurde augenscheinlich durch die Realität der sich sozialistisch nennenden Staaten bestätigt. Da demnach für Hayek in jeder Form des Staatsinterventionismus Totalitarismus logisch angelegt ist, differenzierte er hier auch nicht zwi-schen sozialistizwi-schen Staaten und sozialdemokratizwi-schen, reformerizwi-schen Projekten in Europa. „Für Hayek stellt das genannte reformerische Projekt [mit dem Ziel des Wohlfahrtsstaates; d. Verf.] einen ,Missbrauch der Ver-nunft’ dar; die partizipative, moderne Massendemokratie ist ,totale Demo-kratie’, die Verknüpfung beider ist der ‘Weg zur Knechtschaft’”373.

Hayeks Ideen bilden eine Grundlage neoliberalen Denkens, das seit Mitte der 1970er Jahre zum dominanten wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs geworden ist374. Mit dem Untergang des Sozialismus 1989 quasi empirisch bestätigt wird Hayek als intellektuelle Autorität von Marktliberalen ver-stärkt ins Feld geführt375. Unabhängig von seinen Leistungen auf dem Gebiet der ökonomischen Theorie, die hier nicht zur Diskussion gestellt wer-den sollen, sind die Hayekschen gesellschaftspolitischen Vorstellungen höchst problematisch. So sind zum Beispiel dem Handeln von Regierung und Parlament in seiner Sicht enge Grenzen zu ziehen, da diese nur von ver-schiedenen gesellschaftlichen Gruppen zur Durchsetzung ihrer ungerecht-fertigten Ansprüche benutzt würden376.

Wer viel arbeitet, soll viel verdienen: Leistungsgerechtigkeit?

Derjenige, der viel und hart arbeitet, soll auch einen hohen Anteil an den produzierten Gütern erhalten. Als „Leistungsgerechtigkeit”377 ist dieser Gedanke weit verbreitet und anerkannt. Das individuelle Einkommen ent-spricht demnach dem individuellen Beitrag zur Entstehung des Volksein-kommens. „Leistungsgerechtigkeit” sichert so die individuelle Leistungsbe-reitschaft.

Der Markt honoriert jedoch nicht einfach automatisch den Tüchtigen und Fleißigen378. Der Preis eines Produktes richtet sich vielmehr nach den Präfe-renzen der Käufer und der Qualität der in Konkurrenz stehenden Produkte.

Diese Sicht ist also viel weniger input- als output-orientiert. Der Aufwand eines Marktteilnehmers379garantiert nicht seinen wirtschaftlichen Erfolg.

Dieses Verständnis von Leistungsgerechtigkeit ist vielmehr in vielen Berei-chen des realen wirtschaftliBerei-chen Prozesses, bei denen die jeweils honorierte

„Leistung” gesucht oder konstruiert werden muß380, nicht anwendbar und bietet besonders zur Beurteilung der Kontingenz dieses Prozesses keine Per-spektive. So beinhalten nicht nur – quasi als ein Extremfall – Spekulationser-folge381eine nicht unerhebliche Glückskomponente. Der kontingente Char-akter des Marktprozesses ist aber nicht per se abzulehnen382.

Die Vorstellung von Leistungsgerechtigkeit im Sinne von Aufwandsgerech-tigkeit führt bei der Frage nach sozialer GerechAufwandsgerech-tigkeit in einer Marktwirt-schaft also nicht unmittelbar weiter. Da aber das darin enthaltene Equity-Prinzip ein wichtiger Bestandteil individueller Gerechtigkeitsvorstellungen ist, spricht dies gerade für eine gesellschaftliche Begrenzung des Marktprin-zips. Denn mit dem Abbau gesellschaftlich anerkannter Maßstäbe von Leis-tungsgerechtigkeit, wie sie zum Beispiel in Tarifvertragssystemen kodifiziert sind, droht vielmehr eine „Erosion der Leistungsgerechtigkeit”383. Mit der geforderten Deregulierung des Arbeitsmarkts gehen die Bewertungsstan-dards verloren und damit gerade die Sicherheit, dass „sich Leistung lohnt”. In diesem Kontext ist dann auch danach zu fragen, inwieweit sehr hohen Ein-kommen zum Beispiel aus Vermögen eine „Leistung” gegenübersteht, die dies rechtfertigen könnte.

In der spontanen Ordnung hat die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit im Sinne der materiellen Gleichverteilung im Übrigen auch keinen Adressaten mehr, denn das Verteilungsergebnis entwickelt sich – zwar als Summe intendierter Handlung – insgesamt unintendiert und ist von niemandem zu verantworten384.

„Es kann keine austeilende Gerechtigkeit geben, wo niemand etwas austeilt”,

wie Hayek sagt385. Soziale Gerechtigkeit ist demnach für Hayek bestenfalls „nur eine semantische Luftspiegelung, eine begriffliche Illusion”386, schlimmer aller-dings auch ein Kampfbegriff, mit dem jede beliebige Gruppe ihre Ansprüche gegen die Gesellschaft begründen könne. Aus der Sprachkritik wird so eine Ideo-logiekritik. Nur Neid oder eine verquere sozialistische Ideologie könnten nach dieser Logik eine gesellschaftliche Umverteilung einfordern. Im Kampf gegen letztere versteht Hayek seine Argumentation als aufklärerische Mission, die der Verteidigung des freien Marktes und der offenen Gesellschaft dient387.

Zwar vollzieht die herrschende neoklassische Wirtschaftstheorie nicht die evolutionäre Untermauerung der Vorzüge der Marktordnung nach. Aber auch in ihrem Rahmen bleibt das Kriterium sozialer Gerechtigkeit dem Markt äußer-lich. Er dient allein der optimalen Ressourcennutzung. Gemessen wird diese gemeinhin anhand des Pareto-Optimums, ein Zustand, bei dem niemand besser gestellt werden kann, ohne dass ein anderer schlechter gestellt würde. Ein ande-res Ziel als die optimale Allokation ist dem Markt äußerlich388. Umverteilung mag zum Beispiel zur Armutsvermeidung akzeptabel sein. Sie gerät in der Neo-klassik aber in den Ruch, sowohl die Effizienz des Marktes zu stören als auch ein Gerechtigkeitsproblem aufzuwerfen, denn den marktkonform Handelnden wird ein Teil ihres (regel)gerecht Erworbenen zur Umverteilung entzogen.

Dies überzeugt jedoch nur so lange, wie Gerechtigkeitsfragen auf individuel-les Handeln im Sinne von Regelbefolgung beschränkt werden. Dem widerspre-chen sowohl das Alltagsverständnis als auch mehrheitlich die Vertreter der poli-tischen Philosophie. Die Folgen und Ergebnisse des jeweiligen Handelns gehö-ren ebenfalls in den individuellen Verantwortungsbereich. Das individuelle Handeln im Bezug auf alle anderen Gesellschaftsmitglieder (und nicht allein im Bezug auf abstrakte Regeln) und der von allen Gesellschaftsmitgliedern gemeinsam konstituierte Handlungszusammenhang gehören in den gerechtig-keitstheoretischen Blick. So ist die libertäre, atomistische Gesellschaftsvorstel-lung nicht angemessen389. Dazu müssen bei weitem nicht Gemeinschaftsvorstel-lung zum Beispiel des Kommunitarismus herangezogen werden. Betrachtet man die Gesellschaft nicht als reine Koordinations-, sondern (normativ relativ anspruchslos) als Kooperationssystem, d.h. als arbeitsteilig organisierten Pro-duktionsprozess, können und müssen auch Organisationen und gesellschaftli-che Strukturen in die Gerechtigkeitsperspektive einbezogen werden390. Entge-gen der evolutionären These Hayeks sind die Marktgesellschaft und ihre Regeln willkürlich von Menschen gemacht. Gesellschaft (und damit auch Wirtschaft) ist nicht Natur! Als menschliche Konstrukte sind diese Regeln vielmehr nicht nur nicht unangreifbar, sondern sogar rechtfertigungspflichtig.

Zugleich zeigt sich hier die Gleichrangigkeit von Markt und staatlicher Vertei-lung, d.h. Primär- und Sekundärverteilung. Die Marktgesellschaft und ihre Regeln sind nicht nur gesellschaftlich konstruiert, sondern zudem andauernd von

gesell-schaftlichen Vorgaben abhängig. Die staatliche Garantie von Eigentums- und Ver-tragsfreiheit als wichtigsten Grundlagen des Marktes sind dafür ein besonders deutliches, aber nicht das einzige Beispiel. „Der ,Sozialstaat’ sichert vergleichbare Lebenslagen als materielle Voraussetzung gleicher Beteiligungsrechte und Beteili-gungsmöglichkeiten, von denen der ,Markt’ systematisch absieht; der ,Markt’

dagegen sichert ökonomisch funktionsgemäß präzise Leistungsanreize, die vom ,Sozialstaat’ nicht gesetzt werden können”391. Die staatliche Verteilung folgt der marktförmigen nur in zeitlicher Hinsicht; sie ist ihr nicht nachrangig. Der Begriff

„Umverteilung” ist deshalb günstigstenfalls missverständlich.

Der Neidvorwurf

Neid ist ein grundsätzlich negativ bewerteter Begriff392. Der Neidvorwurf eignet sich damit ideal, jegliche – individuelle oder kollektive – Ansprüche zu diskreditieren. Diese resultieren jeweils aus dem sozialen Vergleich– Indivi-duen vergleichen ihre soziale Position mit der anderer IndiviIndivi-duen oder sozia-le Gruppen die ihre mit der anderer soziasozia-ler Gruppen. Auch Fragen der (sozi-alen) Gerechtigkeit müssen vergleichen. Neidkritik ist damit jeweils auch Gerechtigkeitskritik und im Kern geht es beim Neidvorwurf demnach um die Frage, ob und inwieweit sozialer Vergleich legitim ist.

Der soziale Vergleich wird in der öffentlichen Diskussion der Bundesrepublik widersprüchlich bewertet. Auf dem Markt (insbesondere bei Produkten) und bei der individuellen Leistung, Intelligenz und Kompetenz ist er Grundlage der Wettbewerbsgesellschaft. Die Leistung im weiten Sinn hat im Wettbe-werb keinen Wert an sich. Sie ist nicht absolut eine „gute Leistung”, sondern relativ, das heißt, wenn sie deutlich besser ist als die anderen Leistungen393. Der Leistungsvergleich ist für die Marktwirtschaft zentral. Er soll handlungs-steuernd Ansporn für „bessere” Leistungen und für Innovationen sein – mit den „Besten” und „Erfolgreichsten” als Maßstab394. Der Ertragsvergleich395 aber wird mit dem Neidbegriff diskreditiert. Einkommen, Vermögen, Luxus-güter und Lebenschancen sollen als „Früchte” erfolgreichen Handelns auf dem Markt nicht in den Vergleich aufgenommen werden dürfen. Fließend ist allerdings der Übergang zum – aus der Sicht des Marktes positiv zu bewertenden – Nacheifern. Das Vorbild des „Erfolgreichen” und nicht selten der Wunsch, dieselben Annehmlichkeiten und Privilegien genießen zu kön-nen, können zum vom Markt gewünschten individuellen Leistungsanreiz führen.

Erlaubt und sogar erwünscht ist der soziale Vergleich, soweit er zu indivi-duellen Strategien zur Verbesserung der eigenen Position im Vergleichsfeld führt. Führt der Vergleich jedoch zu individuellen oder kollektiven

Strate-gien, die auf die Änderung von Verteilungsrelationen zwischen Individuen oder Gruppen oder gar auf die Gesamtverteilung zielen, wird er mit dem Neidvorwurf delegitimiert. „Positionsverbesserung ist zugelassen, Rela-tions- oder Strukturkritik dagegen – natürlich neben den schädlichen Hand-lungen – nicht”396. Gerade in der Form der Relations- oder Strukturkritik ist der Neid jedoch ein Indikator für potentielle Ungerechtigkeiten und hat so eine gesellschaftliche Funktion.

Der öffentliche Neidvorwurf zeigt sich also in der Regel als Strategie zur Delegitimierung bestimmter Formen des sozialen Vergleichs beziehungs-weise darauf fundierter Handlungsstrategien. In diesem Fall ist er als ideolo-gischer Begriff herauszustellen und zu kritisieren. Die pauschale Rehabilitie-rung des Neids ist darauf allerdings keine adäquate Antwort. Denn der Begriff bezeichnet schließlich auch ein individuell und gesellschaftlich des-truktives Gefühl beziehungsweise daraus folgende Handlungen. In dieser Form birgt Neid durchaus die Zerstörung jeglicher Produktivität397.„Der Neid als solcher vermag Gerechtigkeitsansprüche weder zu diskreditieren noch zu legitimieren”398. An einer differenzierten Sicht des Neids muss deshalb festgehalten werden.

Grenzen der Ungleichheit:

Soziale Gerechtigkeit in der Demokratie

Im Jahr 1971 erweckte John Rawls’ „A Theory of Justice” die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend zum Erliegen gekommene Diskussion um soziale Gerechtigkeit in der politischen Philosophie wieder zum Leben399. Dieses Werk und die umfangreiche daran anknüpfende Debatte kann hier natürlich nicht umfassend gewürdigt, ihre grundlegenden Ergebnisse müssen jedoch aufgegriffen werden400.

In pluralistischen Gesellschaften wie der Bundesrepublik ist der Bezug auf eine gemeinsame normative Gerechtigkeitsvorstellung nicht mehr möglich. Sowohl bei Rawls als auch bei Michael Walzer – um die beiden Pole der Debatte aufzu-greifen – bildet deshalb das Prinzip gleicher Staatsbürgerschaft den Kern der The-orie sozialer Gerechtigkeit401. Daraus folgt einerseits die Forderung nach absolu-ter Gleichverteilung politischer Rechte und nach größtmöglicher Chancengleich-heit. Materielle Ungleichheit ist andererseits rechtfertigungsbedürftig, aber aus-drücklich zulässig. Die Details der akademischen Diskussion um die Ausgestal-tung dieser beiden Prinzipien sind hier nicht von Interesse402.

Entscheidend ist vielmehr die Rechtfertigungsbedürftigkeit sozialer Ungleich-heit, die in der Demokratie mit dem Grundsatz allgemeiner Beteiligung verbun-den ist. Zur Sicherung dieses Grundsatzes gehört nicht nur die Garantie gleicher Rechte, d.h. formale Gleichheit. Diese Rechte müssen auch eine materielle Ent-sprechung haben. Zu ihrer Verwirklichung sind Einkommen beziehungsweise Vermögen403 in gewisser Höhe notwendig404. Staatsbürgerinnen und -bürger müssen deshalb vergleichbare Lebenslagen einnehmen. Soziale Gerechtigkeit erschöpft sich zwar keineswegs in Verteilungsgerechtigkeit und nicht ohne Grund gehen die Armuts- beziehungsweise Exklusionsforschung über die Analy-se der individuellen Ressourcenausstattung hinaus. Dies darf jedoch nicht zu einer Unterbewertung dieser immer noch bedeutenden Dimension führen – was auch nicht im Sinne der modernen Armuts- und Exklusionsforschung wäre405. Der Verteilungsgerechtigkeit kommt vielmehr vor den anderen Dimensionen der sozialen Gerechtigkeit eine besondere Bedeutung zu406. In der bundesdeutschen Wohlstandsgesellschaft kann die Verhinderung absoluter Armut (quasi als untere Schwelle) nicht der alleinige Maßstab sozialer Gerechtigkeit sein. Geld, d.h. Ein-kommen und Vermögen sind in diesem Kontext das herausragende soziale Gut und die „Reichtumsverteilung”407hat eine dominante Bedeutung.

Schon bei Aristoteles hat Gerechtigkeit über die bekannte und gerne zitierte Differenzierung hinaus etwas mit „Mittelmaß”, dem Vermeiden eines „Zuviel”

und eines „Zuwenig” und dem „Ausgleich” zu tun408. Die gesellschaftliche Not-wendigkeit der Begrenzung sozialer Ungleichheit hat in der Moderne Jean-Jac-ques Rousseau bereits 1762 formuliert409. Das Ausmaß sozialer Ungleichheit ist gesellschaftspolitisch ein Problem, sobald sie die staatsbürgerliche Gleichheit der Individuen in Frage stellt. Insofern ergibt sich eine untere Grenze sozialer Ungleichheit, die nicht mit dem Grundsatz der Sorge für die Bedürftigen begrün-det oder gar identisch ist, sondern deren Unterschreiten den Grundsatz allgemei-ner Beteiligung verletzt. Zugleich darf die materielle Besserstellung bestimmter Bevölkerungsgruppen nicht dazu führen, dass diese auch in anderen gesellschaft-lichen Sphären privilegiert sind. Hohes Einkommen beziehungsweise Vermögen darf insbesondere nicht zu vergrößertem politischen Einfluss führen410.

Soziale Ungleichheit hat demnach gerechtigkeitstheoretisch beziehungsweise demokratietheoretisch eine untere und eine obere Grenze. Aus der Sicht sozia-ler Gerechtigkeit ergibt sich so quasi ein Korridor „zulässiger oder gerechter sozialer Ungleichheit”. Platz haben innerhalb dieses Korridors zum Beispiel sowohl Einkommensdifferenzierungen, die sich begründet aus unterschied-licher Leistung ergeben411, als auch volkswirtschaftlich notwendige Ungleich-heiten bspw. in der Form von Rücklagen für Investitionen.

Vertreten wird damit gewissermaßen ein Perspektivwechsel. Argumentiert wird nicht für beziehungsweise gegen Gleichverteilung, sondern für eine Begren-zung der Ungleichheit. Herausgehoben wird dabei nicht nur die untere (d.h.

Armuts-)Grenze, sondern die Existenz einer oberen Grenze. Die politische, aber auch zum Teil die wissenschaftliche Diskussion bleibt oft auf das Gegensatzpaar

„Gleichverteilung” contra „Akzeptanz von Ungleichheit” beschränkt412. Die notwendige gesellschaftliche Debatte über die Grenzen der Ungleichheit, d.h. die Bestimmung des akzeptablen Korridors, bleibt dann unberücksichtigt.

Dieser Perspektivwechsel bestimmt nicht nur genauer, warum und inwieweit soziale Ungleichheit problematisch ist beziehungsweise die untere und obere Grenze sozialer Ungleichheit als Gegenstand der öffentlichen Debatte. Er öffnet dabei auch explizit den Raum für eine positive Vorstellung von Reichtum und sozialer Ungleichheit als innovativen Kräften. Die Idee eines akzeptablen Korri-dors sozialer Ungleichheit schließt die möglichen positiven Funktionen von Reichtum und die gesellschaftliche Notwendigkeit sozialer Ungleichheit nicht aus. Diesen werden allerdings aus dem übergeordneten Prinzip allgemeiner, gleicher Beteiligung Grenzen gesetzt. Das demokratische Prinzip genießt hier normativen Vorrang vor der funktionellen Begründung sozialer Ungleichheit.

Für den Diskurs über Armut und Reichtum folgt daraus die Notwendigkeit, anstelle über falsche Alternativen („Gleichheit” versus „Ungleichheit”) gerechtig-keits- und demokratietheoretisch begründet über ein gesellschaftlich vertretbares Ausmaß von sozialer Ungleichheit zu streiten. Zu fragen wäre also, welche Gren-zen ihr im Interesse der Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft zu ziehen sind. Auch dieser sicher mühsame gesellschaftliche Aushandlungsprozess ist dann auf die wesentliche Beteiligung der von sozialer Ausgrenzung Betroffenen angewiesen.

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