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Norah Vincent Adeline. A Novel of Virginia Woolf (2015)

literarische Figur biographischer Romane

2  Virginia Woolf als literarische Figur in der Gegenwartsliteratur

2.4  Norah Vincent Adeline. A Novel of Virginia Woolf (2015)

Norah Vincents Adeline. A Novel of Virginia Woolf ist ein Zitat aus Lees Woolf-Biographie vorangestellt, das erläutert, dass Adeline der nicht verwendete erste Vorname Virginias war. Der Roman ist in fünf „Akte“ unterteilt, überschrieben mit Werktiteln von Virginia Woolf und mehr oder minder genauen Datumsanga-ben, so z.  B. „Night and Day Saturday, 13 June 1925“ oder „The Waves 1929–30“.

In einer Anmerkung am Ende des Buches benennt Vincent als ihre Quellen v.  a.

Autobiographien und Biographien und stuft Lees Biographie als besonders ein-flussreich ein.18 Vincent arbeitet in ihrem Roman mit einer heterodiegetischen Erzählinstanz, die überwiegend Innensicht in Virginia hat, aber immer wieder auch Einblicke in die Gedanken ihrer jeweiligen Gesprächspartner ermöglicht, vor allem in Leonards. Leonard ist auch in Vincents Roman die wichtigste Stütze Virginias, ein „maternal man“ (Vincent 2015, 48): „Leonard has kept her – no, much more than that – he has saved her from all that might have happened to her had she been let go, turned loose or – the most dreaded outcome of all – locked up, as poor Laura had been.“ (Vincent 2015, 123) Er erkennt auch klar den engen Zusammenhang zwischen Genie und Wahnsinn19 bei Virginia, im folgenden Zitat im Vergleich zu Tom Eliots ebenfalls psychisch labiler Ehefrau: „Vivien is not Vir-ginia. Not a praised or established artist, not an intellectual and decidedly not a genius […]“. (Vincent 2015, 46)

Der thematische Schwerpunkt liegt in diesem Roman auf der Erforschung der Seelenzustände Woolfs, die, wie gesagt, aufs Engste mit ihrem literarischen Schaf-fen verknüpft sind: „The moods, the troubles, the sickness. They are at the root of it all, writing, not writing, surviving, not surviving, marrying – how? And staying that way or not.“ (Vincent 2015, 151) Wie sehr Wahnsinn und Schreiben zusam-menhängen, wird klar, wenn aus Virginias Zwiegesprächen mit ihrem kindlichen Alter Ego Adeline die Idee für einen neuen Roman erwächst. Nachdem Adeline20

18 „I drew on it extensively for facts, dates and events, as well as informations about Virginia Woolf’s relationships, states of mind and works.“ (Vincent 2015, 259)

19 „Yet, he reminds himself, as he so often must at times like this, when she is on the precipice of breakdown, her strangeness is just that. Other, not wrong. Not mad, or not wholly mad. Verging on it, yes, but she is there, nonetheless, threading the shadow line of thought where light and darkness meet, a line that is no line to speak of, and has abysses either side.“ (Vincent 2015, 9  f.) 20 Im Text findet sich Virginias eigene Beschreibung von Adeline im Gespräch mit Carrington:

„‚She is stuck in the past‘, Virginia continues, ‚with the first pain, the original pain that was my initiation into unbearable loss. She never recovered, and her only release, will be death. She is waiting for me to die.‘“ (Vincent 2015, 133) Adeline wird somit als der Teil ihrer Persönlichkeit gesehen, der Virginia in den Selbstmord treibt.

sie an ein Kindheitserlebnis erinnert hat, kommt Virginia zu dem Schluss, mit To the Lighthouse beginnen zu wollen: „This is the book she wants to write about her childhood. The light as language, the language as light, penetrating dark-ness, and the despair that lies enshrouded in the world, appearing to her. That alone is the revelation.“ (Vincent 2015, 26) Auch Woolfs Entscheidung, nach The Waves Flush zu schreiben, erklärt sich aus ihrem psychischen Zustand: „Virginia’s own state is fragile enough these days, having come through the tempest of The Waves, intellectually, artistically, bodily, emotionally spent. Now she is writing a biography of Elizabeth Barrett Browning’s dog, of all things, to cleanse her palate and rest in levity for a change.“ (Vincent 2015, 140)

Kurz vor ihrem Selbstmord, im Zwiegespräch nicht nur mit Adeline, sondern auch mit ihren toten Dichterkollegen, führt der Roman eindrucksvoll Virginias Geisteszustand vor. Im gesamten Roman wird gezeigt, wie wichtig für Woolf nicht nur das Nachdenken über ihr eigenes Schaffen ist, sondern auch die Aus-einandersetzung mit den Konzepten und Ideen von Künstlerkollegen, wie z.  B.

Joyce, Proust oder Yeats. Nicht nur zeitgenössische Autoren werden zu Bezugs-größen, auch Shakespeare spielt eine wichtige Rolle, so wird z.  B. als Intertext zu Orlando As You Like It angeführt.21 In ihren Werken verarbeitet Virginia aber in erster Linie ihre eigenen Erlebnisse und die ihrer Freunde, v.  a. des Bloomsbury-Kreises:22 „Fiction is all there is, and all of my fiction has been, more or less, the stories of real people’s lives.“ (Vincent 2015, 98) Gerade im Kontext des Blooms-bury-Kreises ist die Darstellung des Charakters von Woolf durchaus ambivalent.

Sie wird als eine, trotz ihres labilen Zustandes, recht manipulative Person im Umgang mit Freunden gezeigt.23

Vincents Virginia denkt mehr oder minder ununterbrochen über Möglich-keiten und Grenzen ihrer Kunst nach, Wirklichkeit mit Fiktion und Roman mit Biographie zu verknüpfen:

21 „In Orlando she had simply squibbed her own version of what Shakespeare had done. The more direct reference had been, of course, to Ariosto’s and Boiardo’s epic romances Orlando Furioso and Orlando Innamorato, but As You Like It was indubitably there in the fun, in the fun-gibility of sex and most of all in the mockery.“ (Vincent 2015, 76)

22 The Waves als „her group biography of Bloomsbury, but as such, it will be primarily of Bloomsbury as a group, as a collective, not as a collection of its members, individually sketched.

There will be some of that, as always, pieces of the people she has known, but they will also, in Yeat’s sense, all be one, all her, all the pieces of her split self shattered in the looking glass.“

(Vincent 2015, 106)

23 So legt der Text z.  B. nahe, dass Virginia Carrington den Selbstmord zumindest nicht aus-geredet hat, sie evtl. sogar darin bestärkt hat.

I wonder if this isn’t the limitation of biography. […] This splintering, I mean. This breakage in the self. It means in the end that we cannot know ourselves. In which case, how can we ever know anyone, as Freud said, near or far? Moreover, how can we write a life when the self is beyond our grasp? (Vincent 2015, 97)

So überrascht es nicht, dass Virginias Selbstmord am Ende des Romans (über ihre Persönlichkeitsspaltung hinaus) aus ihrer Poetik erklärt wird: Virginia ist davon überzeugt, dass jeder Schriftsteller in seinen Werken immer wieder an ein- und derselben Idee arbeitet und dass ein perfekter Ausdruck dieser Idee ein- oder zweimal in einem literarischen Œuvre zu finden ist.24 Im Gespräch mit ihrer Ärztin kommt Virginia zu dem Schluss, dass sie keinen Sinn mehr im Weiterleben sieht, weil sie bereits ihre bestmöglichen Werke geschaffen habe: „I have reached that point: the end of language. The rest is silence.“ (Vincent 2015, 235)25

Auch in diesem Roman wird von der Erzählinstanz über Virginia Woolfs Rolle für zukünftige Generationen nachgedacht: „The conjectures of sex will be a war one day, and she will have played her part in starting it. The spoils will fall to the executors: interpreting all, knowing nothing.“ (Vincent 2015, 48)

3  Fazit

Allen untersuchten Texten ist gemeinsam, dass es sich um intensive Auseinan-dersetzungen mit der Künstlerin Virginia Woolf handelt. Woolfs Charakter wird vor allem in Relation zu den ihr am nächsten stehenden Menschen beleuchtet;

auffällig ist hier die einheitlich sehr positive Sicht auf ihren Helfer und Retter Leonard. Hinsichtlich ihrer Kunst geht es in den Romanen vor allem um das Nachzeichnen von konkreten Schaffensphasen, die Arbeit an bestimmten Romanprojekten, aber auch allgemeiner um die Poetik Virginia Woolfs. Damit stehen die untersuchten Werke in der Tradition des Künstlerromans, wobei zahlreiche Aspekte, die z.  B. der Eintrag „Künstler“ in Themen und Motive in der Literatur (vgl. Daemmrich 1987) aufführt, hier keine größere Rolle spielen, wie der alternde Künstler, künstlerische Ambition vs. Forderungen des praktischen

24 „She’d said that perhaps every writer is meant to express only one idea, one mood, one version of what this strange human experience is about, and that he spends his life and work repeating it over and over. If he is fortunate, once or twice he gets it absolutely right.“ (Vincent 2015, 217) 25 Dass sich Norah Vincent als literarische Erbin Woolfs in erschreckendem Maße mit ihrer li-terarischen Figur identifiziert hat, zeigt sich an ihrem Selbstmordversuch im Anschluss an die Arbeiten an Adeline. Die Autorin hat in einem sehr persönlichen Text, „On the Subject of my Sui-cide“, über diese Lebensphase geschrieben, vgl. http://lithub.com/on-the-subject-of-my-suicide/

Lebens, Bürger-Künstler-Problematik oder auch die gesellschaftliche Verantwor-tung des Künstlers. Andere Themen sind hingegen durchgehend vorhanden, so z.  B. Selbst- und Fremdwahrnehmung als Künstlerin; genius vs. madness, bei den vorgestellten Virginia-Woolf-Texten hin zu der Tendenz, Wahnsinn als Grundlage für künstlerisches Schaffen zu betrachten; Leben und Schaffen im Spannungs-feld zwischen Fiktion und Wirklichkeit und das Leiden des Künstlers an der Wirklichkeit bis hin zum Selbstmord.

Ist Virginia Woolf also ein neuer literarischer Stoff des zwanzigsten und ein-undzwanzigsten Jahrhunderts? Wichtig erscheint mir, dass über rein inhaltliche Aspekte hinaus die untersuchten Texte immer auch auf narratologischer und stilistischer Ebene eine Auseinandersetzung mit Woolfs Schreiben beinhalten. Es geht um eine literarische Erforschung einer Künstlerin und ihrer Kunstkonzepte, wodurch die (überwiegend weiblichen) Autoren sich in eine literarische Tradition einschreiben und mit ihren eigenen Romanen eine Form der werkimmanenten Poetik erschaffen. Gemeint sind damit metanarratologische Reflexionen über Erzählen im Allgemeinen, aber v.  a. über biographisches Erzählen an der Grenze zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen. Gerade das Sichtbarmachen der Konstruktion des Textes und das Einbringen der eigenen Schreibsituation in den Text sind Elemente, die auf eine fiktionale Metabiographie oder biographische Metafiktion hinweisen. Die untersuchten Romane verknüpfen die bestehende biographische Tradition (denn außer Duhon thematisieren alle Autorinnen und Autoren explizit den Rückbezug auf Biographien beim Abfassen ihrer Romane) mit dem Einsatz fiktionaler Erzähltechniken:

Metabiographien heißen diese neue [sic!] Spielarten des Genres, weil sie auf einer Meta-ebene allgemeine Probleme der Biographik verhandeln, während das Adjektiv fiktional darauf hinweist, dass es sich um Romane handelt, also um Texte, die wesentlich durch den Einsatz fiktionaler Erzähltechniken gekennzeichnet sind. (Nünning 2009, 132)

Fiktionale Metabiographien erklären vor dem Hintergrund postmoderner Frag-mentierungstendenzen eine kohärente Figurendarstellung zur Unmöglichkeit.26 Durch dieses Verfahren findet in den untersuchten biographischen Romanen zugleich eine Identitätskonstruktion und eine Identitätsdekonstruktion Virginia Woolfs statt, die als exemplarisch für eine problematische Künstleridentität ver-standen werden kann. Um die Frage nach einem Virginia-Woolf-Stoff abschlie-ßend beantworten zu können, bleibt letztlich abzuwarten, ob Autorinnen und Autoren auch in den kommenden Jahren ihre Auseinandersetzung mit

Künstler-26 Vgl. auch die Ausführungen von Nadj 2006.

tum im Allgemeinen und mit ihrem eigenen Schreiben an der literarischen Figur Virginia Woolf festmachen werden.

Literaturverzeichnis

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Claudia Schmitt ist Lehrkraft für besondere Aufgaben am Lehrstuhl für All-gemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität des Saar-landes, Saarbrücken. Promotion 2007 in Saarbrücken zum Thema Der Held als Filmsehender. Filmerleben in der Gegenwartsliteratur. Forschungsschwerpunkte:

zeitgenössische Literatur, Literatur und Ökologie, Literatur und Film, Literatur- und Erzähltheorie.