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Die Sprachen der Tiere und ihrer Biographien

den Tieren in ihren Biographien

4  Die Sprachen der Tiere und ihrer Biographien

Mit Blick auf die im 19. Jahrhundert publizierten, didaktisch orientierten zoologi-schen Kollektivbiographien und die literarizoologi-schen Zoographien von Bingley, Grube und Brehm hat in Verdaguers und Myrons Texten eine deutliche Verschiebung stattgefunden. Die literarische Zoographie leitet sich hier aus der Einzigartig-keit, nicht aus der (Arten-)Repräsentativität eines tierlichen Individuums ab. Das Erzählen vom Leben des Tieres hat hier immer auch eine monumentalisierende Funktion. Zum einen soll die tierliche Biographie die besondere Beziehung zwi-schen Tier und Biographin bzw. Biograph zum Ausdruck bringen, zum anderen dient der Text als eine Form der literarischen Verewigung, die dem Vergessen des Tieres entgegenwirken soll.

Darüber hinaus popularisieren Verdaguers und Myrons Texte assimilatio-nistische Auffassungen: Tiere besitzen ein menschenähnliches Seelenleben und sind in der Lage, ihre Empfindungen, Überzeugungen und Absichten spezies-übergreifend mitzuteilen. Sowohl Verdaguer als auch Myron gehen davon aus, dass der nonverbale Selbstausdruck ihrer Protagonisten verhaltenstheoretisch

ausgedeutet und sprachlich ausgedrückt werden kann. Die literarischen Reprä-sentationsverfahren, die in ihren Texten maßgeblich sind, um diese Annahmen zu untermauern – Prosopopöie, Onomatopoesie, Paraphrase – haben dabei zwei inhärent paradoxe Effekte. Erstens kommen beide Texte nicht umhin, ihren epis-temischen Anthropozentrismus einzugestehen. Menschen ist es nicht möglich,

„ihre spezifische menschliche Perspektivität zu umgehen“ (Grimm et al. 2016, 92). Sobald über das Verhalten und die Verhaltensmotive von Tieren gespro-chen bzw. geschrieben wird, unterliegt die Darstellung einer menschligespro-chen Per-spektive und repräsentationalen Mitteln, die tierliches Erleben nicht mimetisch abbilden können. Die Qualia, ‚wie es ist‘, die Welt als Vogel oder Katze zu erleben und sich dieser Welt nonverbal mitzuteilen, können Menschen und literarische Texte nicht jenseits anthropoperspektivischer Apriori und sprachlicher Reprä-sentation leisten. Die Sprache der Tiere in ihren Biographien macht demnach auf die Unhintergehbarkeit eines epistemischen Anthropozentrismus und auf die Aporien eines sprachlichen Zugriffs auf das nichtsprachliche Erleben der Tiere aufmerksam. Zweitens verweisen die literarischen Zoographien auf den Zuschreibungscharakter jedes menschlichen Sprechens über und für Tiere.

Texte wie die Lebensgeschichte eines kleinen Vogels und Dewey sind sprachliche Konstrukte, in denen wiederum projektiv-imaginativ eine Sprache der Tiere entworfen wird. Während zoologische Texte – seien sie differentialistisch oder assimilationistisch fundiert  – das Leben und Erleben der Tiere vermeintlich positivistisch im Sinne ‚harter Fakten‘ beschreiben, verdeutlicht das Sprechen für Tiere und ihren Selbstausdruck in literarischen Zoographien den Zuschrei-bungs- und Inszenierungscharakter jedes Sprechens über Tiere, ihr Erleben und Empfinden. Die Sprache der Tiere in ihren Biographien stellt somit vor Augen, dass ein Erzählen über und für Tiere (und ihre Sprache) weder voraussetzungslos noch unvermittelt ist. Tiere als denkende und fühlende Wesen wahrzunehmen und darzustellen ist nicht selbstverständlich, sondern das Ergebnis komplexer Zuschreibungen, Projektionen und Repräsentationsverfahren, die diese Annah-men und Wahrnehmungen erzählbar machen. Indem literarische Zoographien über das Sprechen der Tiere im biographischen Text sprechen, können sie den Konstruktcharakter jedes menschlichen Sprechens über das Erleben von Tieren zur Anschauung bringen und gleichzeitig das sprachliche Gemacht-Sein jeder (Tier-)Biographie ins Bewusstsein rufen.

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Frederike Middelhoff studierte deutsche und englische Literatur- und Sprach-wissenschaft an der JMU Würzburg und an der University of Exeter (UK). Ihre Monographie Literarische Autozoographien  – Figurationen des autobiographi-schen Tieres im langen 19. Jahrhundert erschien Anfang 2020 im Metzler Verlag.

Seit März 2020 ist sie W1-Professorin für Neuere Deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Romantikforschung an der Goethe-Universität Frankfurt.