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Michael Cunningham The Hours (1998)

literarische Figur biographischer Romane

2  Virginia Woolf als literarische Figur in der Gegenwartsliteratur

2.3  Michael Cunningham The Hours (1998)

Noch zentraler wird in Michael Cunningham The Hours die Bedeutung Woolfs für nachfolgende Generationen, da hier drei Zeitebenen verwendet werden, auf denen jeweils ein Tag aus dem Leben von drei Frauen geschildert wird: Virginia Woolf 1923 in einem Londoner Vorort, Laura Brown 1949 in L. A., Clarissa Vaughan 1998 in New York. Die drei Ebenen sind thematisch verbunden über Aspekte wie Alltag, Kreativität, Krankheit (geistig und körperlich), Tod, Homosexualität, aber

9 Interessant wäre hier ein direkter Szenenvergleich mit Vincents Adeline, da auch hier diese Szene, allerdings wesentlich ausführlicher und dramatisch-traumatischer, geschildert wird: „His judgment carries all the fatal thrust – sadly, this is not an exaggeration – of a Roman emperor’s up- or down-turned thumb in the gladiatorial ring, which is why he cannot give it truly, and why her hunkered waiting has become so immense and terrible.“ (Vincent 2015, 176)

10 Eine vergleichbare Szene, in der die Erzählinstanz greifbar wird, findet sich im vorletzten Kapitel anlässlich von Mitz’ Tod, wenn ein Zeitsprung zurück in Mitz’ Kindheit eingeleitet wird:

„And now, while all is still and all things are sunk in snow and sleep, let us go back, to the be-ginning. Forget this English village […] Imagine this place where the light is green […]“ (Nunez 2007, 128) Der nachfolgende Text wird zu großen Teilen aus Mitz’ Innensicht erzählt: „When she came to, rough hands were roughly examining her.“ (Nunez 2007, 129)

vor allem auch über Woolfs Roman Mrs Dalloway: Woolf schreibt Mrs Dalloway, Brown11 liest den Roman, und Vaughan trägt den Spitznamen Mrs Dalloway.

Außerdem erinnert der Ablauf von Clarissas Tag (morgendliches Blumenkaufen und andere Vorbereitungen für eine abendliche Party) an die Erlebnisse von Woolfs Mrs Dalloway.12

The Hours ist ein Text, der mit verschiedenen Formen des Schreibens expe-rimentiert. Faktuales und Fiktionales werden gemischt.13 Cunningham gibt am Ende seines Textes zahlreiche Quellen an, darunter die Woolf-Biographien von Quentin Bell und Hermione Lee und die Tagebücher Woolfs. Obwohl der Text auf diese Quellen und auf Mrs Dalloway als einen Form und Inhalt des Romans bestimmenden Intertext zurückgreift, ist eine Kenntnis der Prätexte zum Ver-ständnis von The Hours nicht zwingend nötig. Allerdings hat bereits Seymour Chatman darauf hingewiesen, dass Cunninghams Text Leser dazu anregen könne, Woolfs Mrs Dalloway (erneut) zur Hand zu nehmen.14

Im Woolf-Handlungsstrang von The Hours steht Virginias Verhältnis zu Leonard im Vordergrund, „[…] the husband who has nursed her through her worst periods, who does not demand what she can’t provide and who urges on her, sometimes successfully, a glass of milk every morning at eleven.“ (Cunning-ham 2002, 32) Seine Sicht auf sie ist von Bewunderung geprägt: „She may be the most intelligent woman in England, he thinks. Her books may be read for centuries. He believes this more ardently than does anyone else.“ (Cunningham 2002, 33)

Virginia wird v.  a. durch zwei Aspekte charakterisiert: ihre Krankheit und ihr künstlerisches Schaffen. Die Krankheit spielt eine dominante Rolle im Prolog, der den Tag ihres Selbstmordes schildert,15 inklusive der Wiedergabe des

Abschieds-11 Mrs Browns Name dient hier als Verweis auf Woolfs Essays „Mr. Bennett und Mrs. Brown“.

12 Bereits der Titel von Cunninghams Romans verweist auf Woolfs Mrs Dalloway, da The Hours der Arbeitstitel dieses Woolf-Romans war.

13 Die Widmung an Cunninghams Lebensgefährten und zwei sich anschließende Zitate aus Jorge Luis Borges’ „The Other Tiger“ und aus Woolfs Tagebüchern deuten bereits auf diese im Text vorgenommene Verknüpfung voraus.

14 „The engaged common reader of The Hours (and not only the scholar studying second-degree texts) will (re)read Mrs. Dalloway for a fuller comprehension of how both novels work. Mrs. Dal-loway then becomes an explanatory source for what motivates Mrs Brown, why Clarissa Vaughan should be happy despite the death of Richard, how gay marriages can be as ordinary as straight ones.“ (Chatman 2005, 269)

15 „She has failed, and now the voices are back, muttering indistinctly just beyond the range of her vision, behind her, here, no, turn and they’ve gone somewhere else. The voices are back and the headache is approaching as surely as rain, the headache that will crush whatever is she and replace her with itself.“ (Cunningham 2002, 4)

briefs. Hinsichtlich Woolfs Schreibprozess an Mrs Dalloway stehen Überlegungen im Vordergrund, wie sie mit der Figur Mrs Dalloway verfahren soll,16 Gedanken, die sich in ähnlicher Weise wohl auch der Verfasser des Romans The Hours beim Umgang mit seiner Figur Virginia gemacht haben mag: „This might be another way to begin, certainly; with Clarissa going on an errand on a day in June, instead of soldiers marching off to lay the wreath in Whitehall. But is it the right begin-ning? Is it a little too ordinary?“ (Cunningham 2002, 29) Am Ende des Woolf-Hand-lungsstrangs erfährt der Leser von ihrer Entscheidung, den Roman völlig anders, als ursprünglich geplant, enden zu lassen:

Virginia imagines someone else, yes, someone strong of body but frail-minded; someone with a touch of genius, of poetry, ground under by the wheels of the world, by war and gov-ernment, by doctors; a someone who is, technically speaking, insane, because that person sees meaning everywhere, knows that trees are sentient beings and sparrows sing in Greek.

Yes, someone like that. […] a deranged poet, a visionary, will be the one to die. (Cunning-ham 2002, 211)

Der Woolf-Handlungsstrang weist, wie auch schon der Text bei Nunez, u.  a. eine gehäufte Verwendung von Klammern auf, die eine Zuordnung der entsprechen-den Passagen zu einer bestimmten Erzählstimme schwierig machen. Weitere Ähn-lichkeiten im Erzählstil zwischen Cunningham und Woolf hat bereits ausführlich Seymour Chatman nachgewiesen. An dieser Stelle seien nur noch einmal exem-plarisch erwähnt:

exclamations, especially of joie de vivre [...], interruptions of the flow of thought — marked by commas, parentheses, or dashes  [...], repetitions [...], frequent ‚near‘ deixis through words like ‚here,‘ ‚now,‘ ‚this,‘ to highlight the immediacy of the characters’ (rather than the narrator’s) immediate presence on the scene [...] (Chatman 2005, 275)17

16 Eine Spiegelung erfährt die Schriftstellerfigur Woolf im Roman durch Richard im Mrs-Dallo-way-Handlungsstrang: Sie teilen Versagensängste, psychische Labilität, den Selbstmord, aber auch die Verarbeitung von geliebten Mensch zu literarischen Figuren. Wie Virginia Vita in Or-lando verarbeitet, so macht Richard Clarissa in seinem Roman zur Zentralfigur. Darüber hinaus erinnert Richard aber auch an Figuren im Werk Woolfs. Dies geht bis in kleine Details hinein, so singen die Spatzen in Richards Wahrnehmung griechisch, wie auch schon die Figur Septimus Warren Smith in Mrs Dalloway Spatzen auf Griechisch zu sprechen hören glaubte. Cunninghams Figur Virginia hört übrigens ebenfalls Spatzen auf Griechisch singen.

17 Stilistische Vergleiche von Mrs Dalloway mit The Hours finden sich auch bei Pillière 2004.