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2   Elektrische Schnittstellen im Zentralnervensystem

2.1   Biophysikalische Grundlagen

2.1.1   Nervenzellen (Neuronen)

Die Anzahl der im menschlichen Nervengewebe existierenden Nervenzellen (griech.:

Neuronen) wird mit bis zu 100 Milliarden angegeben[11, 12]. Im Unterschied zu den meisten anderen Zellen des Menschen können Neurone nur sehr eingeschränkt proliferieren oder regenerieren, d.h. ein Ersatz bzw. eine Teilung alter oder geschädigter Zellen ist außer in bestimmten Regionen (z.B. im olfaktorischen System) kaum möglich. Die primäre Funktion des Nervengewebes ist die schnelle Verarbeitung und der Transport von Informationen. Es ist auf diese Weise an der Koordination, Kontrolle und Regulation fast aller Vorgänge im Körper beteiligt.

Histologisch besteht das Nervengewebe aus einer funktionell untrennbaren Einheit von Nerven- und Gliazellen[11, 13, 14]

. Die Nervenzellen übernehmen dabei die Erregungsbildung, –verarbeitung sowie die –leitung. Demgegenüber haben die Gliazellen neben ihrer metabolischen und mechanischen Funktion eine große Bedeutung für die Entwicklung und den Schutz von Leitungsbahnen im Zentralnervensystem. Darüber hinaus mehren sich die Anzeichen für aktive Funktionen der Gliazellen in der neuronalen Informationsverarbeitung, wie bei der Entstehung von Schmerz im Bereich des Rückenmarks und jüngst auch bei der Regulation der Atmung[14].

Jede Nervenzelle stellt für sich eine geschlossene morphologische, trophische sowie funktionelle Einheit dar. Morphologisch lassen sich Neurone in das Perikaryon (Zellkörper, Soma) und die Fortsätze (Dendriten und ein Axon) unterteilen (vgl. Abb. 1). Das Perikaryon, das den Zellkern enthält, stellt vornehmlich das trophische Zentrum der Nervenzelle dar. Die baumartig verzweigten Fortsätze des Perikaryons, die Dendriten, sind auf den Empfang von Signalen von Sinnesepithelzellen oder anderen Nervenzellen spezialisiert. Diese aus der Umgebung stammende, sogenannte „afferente“, Erregung leiten sie zum Perikaryon hin weiter. Der für die „efferente“, d.h. vom Perikaryon weggerichtete, Erregungsleitung verantwortliche Bestandteil jedes Neurons ist ein stets in Einzahl

Kapitel 2 Elektrische Schnittstellen im Zentralnervensystem

6 Auch durch einen von außen eingebrachten elektrischen oder magnetischen Impuls kann eine Änderung des Ruhemembranpotenzials über einen bestimmten Schwellenwert erzielt und ein Aktionspotenzial ausgelöst werden. Dieser Vorgang stellt die Grundlage für die elektrische Stimulation von Neuronen dar.

2.1.3 Evozierte Potenziale

Durch die Reizung eines Sinnesorgans oder seiner afferenten Nerven bzw. durch die Reizung afferenter Nervenbahnen können im Zentralnervensystem (ZNS) elektrische Potenzialänderungen hervorgerufen werden. Außerdem kann man durch Reizung motorischer Bahnen des ZNS Muskelantworten hervorrufen, die ebenfalls mit messbaren elektrischen Spannungsänderungen (= Potenzialen) einhergehen.

Wegen eines ungünstigen Signal-Rausch-Verhältnisses dieser Potenziale müssen meist mehrere Antworten auf einen Reiz gemittelt und verstärkt werden, um einen Potenzialverlauf messbar und sichtbar zu machen. Alle diese durch elektrische oder magnetische Stimulation ausgelösten („evozierten“) Potenziale (EP) lassen in ihrer Form, Amplitude (Höhe) sowie der Latenz (Laufzeit) Rückschlüsse auf die Leitfähigkeit und damit auf die Funktionsfähigkeit von Nervenbahnen zu. In der medizinischen Basis-Diagnostik werden vier Arten von evozierten Potenzialen unterschieden:

Visuell evozierte Potenziale (VEP) werden nach einem Lichtreiz von der Kopfhaut über der Sehrinde abgeleitet. Die sich dabei ergebenden Potenzialänderungen geben Hinweise auf die Funktionsfähigkeit der Sehbahn[17].

Akustisch evozierte Potenziale (AEP) geben Hinweise auf die Funktionsfähigkeit der Hörbahn und werden nach einem Schallereignis meist als Fernfeldpotenziale an verschiedenen Stellen der Schädeloberfläche, aber auch im äußeren Gehörgang oder intraoperativ am Hirnstamm, abgeleitet[18].

Somatosensorisch evozierte Potenziale (SEP bzw. SSEP) kommen zur Prüfung der Integrität somatosensibler Bahnsysteme in der neurologischen Diagnostik, aber häufig auch im Rahmen des intraoperativen Monitorings, zum Einsatz. Die Ableitung kann an der Kopfhaut oder direkt auf dem Gehirn erfolgen und ermöglicht eine Beurteilbarkeit sowohl von zentralen

somatosensiblen Leitungsbahnen als auch von peripheren sensiblen Neuronen.

Motorisch evozierte Potenziale (MEP) stellen eine spezielle Form von evozierten Potenzialen dar. Im Gegensatz zu den bisher vorgestellten nervalen Reizantworten handelt es sich um Muskelpotenziale, die nach direkter sowie indirekter Reizung der motorischen Hirnrinde bzw. der motorischen Bahnsysteme abgeleitet werden. Intraoperativ lässt sich damit z.B. die Integrität des kortikospinalen Trakts, d.h. der bei der Ausführung von Willkürbewegungen benutzten Bahn zum Motoneuron des Rückenmarks, überwachen.

2.1.4 Elektrische Schnittstellen zum ZNS

Eine neuroelektrische Schnittstelle ist eine Verbindung zwischen neuronalem Gewebe und einer Elektrodenstruktur.

2.1.4.1 Impedanz

Das Einbringen von elektrischen Schnittstellen in das Zentralnervensystem ermöglicht eine elektrische Stimulation von Neuronen. Durch repetitive elektrische Stimulation über neuroelektrische Schnittstellen kann man ähnliche wie die unter Kapitel 2.1.3 beschriebenen Potenzialschwankungen ableiten, die man dann als elektrisch evozierte Potenziale (EEP) bezeichnet. Im implantierten Zustand stellen solche Schnittstellen physikalisch und chemisch meist einen Festkörper-Elektrolyt-Übergang dar. Neben dem Eigenwiderstand der Zuleitung zum Stimulationskontakt (Rs) kommt dem Übergangswiderstand zwischen Elektrode und Gewebe (Rp), der sogenannten Impedanz, eine besondere Bedeutung zu. Die Eigenschaften dieses Übergangs werden von der so genannten Phasengrenze bestimmt. Vereinfacht kann diese als Parallelschaltung einer Kapazität (C) und eines Überganswiderstands (Rp) dargestellt werden (vgl. Abb. 3). Physikalisch ist hierbei C proportional und Rp

umgekehrt proportional zur elektrochemisch aktiven Oberfläche[19].

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10 S[µA/cm2] = I[mA] / Ageom[cm2]

Bei der Berechnung dieser letzten beiden Parameter wird hier auf die geometrische Oberfläche von Stimulationselektroden zurückgegriffen.

2.2 Biokompatibilität

2.2.1 Gewebeverträglichkeit von elektrischen Schnittstellen

2.2.1.1 Biokompatibilität von Medizinprodukten

Aus seinen mechanischen, physikalischen als auch chemischen Wechselwirkungen mit dem Organismus und dessen Reaktionen ergibt sich die Gewebsverträglichkeit eines Materials. Bei Implantation von Medizinprodukten dürfen im Allgemeinen weder akute bzw. chronische Entzündungen noch Veränderungen des anatomischen Zielgewebes verursacht werden[22, 23]. Dies gilt auch für eine funktionelle Beeinflussung des Organismus, wie z. B. durch elektrische Stimulation mittels neuroelektrischer Schnittstellen. Ausgenommen davon sind natürlich die durch Stimulation ausgelösten, erwünschten Veränderungen wie die Aktivierung von Neuronen.

Zur Klassifikation der Biokompatibilität von Medizinprodukten werden spezielle Anforderungen gestellt. Die damit verbundene biologische Beurteilung der Implantate erfolgt anhand der Art und der Dauer des Körperkontaktes und entspricht der DIN EN ISO 10993[24].

2.2.1.2 Oberflächen- und Tiefenelektroden

Zur Wiederherstellung von Sinnesfunktionen durch Bioimplantate werden oft Oberflächenelektroden eingesetzt, die dem zu stimulierenden neuronalen Gewebe aufliegen. Während diese Oberflächenelektroden für das Gewebe schonend sind, weisen sie auch verschiedene Nachteile auf. Ranck et al. konnten beispielsweise zeigen, dass bei Stimulation mit Oberflächenimplantaten bereits eine zarte Gewebsschicht wie die Pia Mater aufgrund ihrer Ohmschen und kapazitiven Eigenschaften zu einer signifikanten Streuung der elektrischen Ladung führt[25].

Infolgedessen steigen die Schwellenreizstärken, um neuronale Zielstrukturen effektiv zu stimulieren.

Im tierexperimentellen Vergleich von Oberflächen- und Tiefenelektroden bei der direkten Stimulation des Nervus cochlearis zeigten sich die Reizschwellen für Oberflächenelektroden im Gegensatz zu denen penetrierender Elektroden um das fünf- bis sechsfache erhöht[26]. Demgegenüber stellten sich die Schwellen für neuronale Schädigung bei Dauerstimulation mittels Oberflächenimplantaten erheblich niedriger dar als bei penetrierenden Elektrodenträgern[27-32]. Die Arbeitsgruppe um Douglas McCreery konnte im Rahmen einer Versuchsreihe zur elektrischen Stimulation des Kortex der Ratte zeigen, dass Oberflächenimplantate im Gegensatz zu penetrierenden Elektrodenträgern bei gleichen Stimulationsparametern deutlichere morphologische Schädigungen verursachten[28]. Da Tiefenelektroden näher an den neuronalen Zielstrukturen implantiert werden können und sich die Schwellen für die elektrische Stimulation exponentiell proportional zum Abstand der Elektrodenträger verhalten, führten die aufgeführten Arbeiten letztendlich zur Entwicklung von penetrierenden Bioimplantaten[9, 33].

2.2.1.3 Existierende Elektrodendesigns

Die Herausforderung, Elektrodenkontakte direkt an die zu stimulierenden Neuronenpopulationen anzukoppeln und die Reaktion dieser Nervenzellen auf chronisch elektrische Stimulation zu untersuchen, inspirierte eine Anzahl von Forschungsgruppen, penetrierende Mehrkanalelektroden zu entwickeln. Für diese experimentell eingesetzten Tiefenelektroden wurden Mikrodrähte[30, 34-42], spezielle Polymere[43-47] sowie unterschiedliche Typen siliziumbasierter Bioimplantate[48-51]

eingesetzt.

Von diesen Arten von neuroelektrischen Schnittstellen, die derzeit eingesetzt werden, sind die aus Mikrodrähten bestehenden Elektroden am weitesten verbreitet. Die implantierten Drähte bestehen dabei aus einem leitenden Metall wie Platin, Gold[52], Wolfram[53], Iridium[54] oder Edelstahl[55]. Isoliert sind diese mit einem nicht-zytotoxischen Material, wobei die Spitze des Drahtes frei liegt, um darüber stimulieren oder elektrische Signale aus dem Zielgewebe empfangen zu können. Die Anzahl der aus Draht bestehenden Mikroelektroden auf einem Elektrodenträger reicht dabei von vier[52] bis über mehreren hundert[55] (vgl. Abb. 6).

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14 2.2.1.4 Isolationsmaterialien

Sowohl Mikrodrahtelektroden als auch siliziumbasierte Bioimplantate erfordern eine Isolierung. Da der direkte Kontakt zwischen dem Implantat und dem neuronalen Zielgewebe vornehmlich über diese Isolierschicht erfolgt, muss sie aus einem nicht-zytotoxischen Material bestehen, um eine möglichst geringe Fremdkörperreaktion zu gewährleisten.

Mehrere unterschiedliche Materialien sind hierfür bereits als biokompatibel identifiziert und zur Isolation von Tiefenelektroden verwendet worden. Mit großem Erfolg werden beispielsweise Mikrodrähte mittels einfacher Beschichtung aus Teflon oder S-isonel, einem dem Teflon ähnlichen Polyesterlack, isoliert[55, 66]. Epoxydharze wurden ebenfalls erfolgreich bei Mikrodrahtelektroden eingesetzt[54]. Auch wenn bisher in vivo nicht getestet, konnte das im Plasma gelagerte Diamond-Like Carbon (DLC) in vitro seine Eigenschaft als chemisch inerter Isolator sowie gutes bioaktives Substrat für eine reduzierte Fremdkörperreaktion unter Beweis stellen[67, 68].

Bei der Herstellung von mikromechanischen siliziumbasierten Bioimplantaten werden neben der Isolierung aus Siliziumnitrid oder Siliziumdioxid[49, 59] zusätzlich noch Polyesterimid oder häufiger Polyimid zur Beschichtung verwendet[49, 52, 53, 61]

.

Zur Verringerung möglicher Fremdkörperreaktionen werden die Isolierschichten teilweise mit entzündungshemmenden Verbindungen modifiziert, z.B. mit Adhäsionsproteinen oder bioaktiven Molekülen[51, 69-77]

. Ferner finden auch biologische Modifikationen zur Verbesserung der Ankopplung wie beispielsweise die Beschichtung mit Hyaluronsäure, Peptiden, Zucker oder Wachstumsfaktoren[69, 78-80]

Anwendung.

2.2.1.5 Biokompatibilität der Elektrodenträger

Während viele Elektrodendesigns in Kurzzeitstudien bestimmungsgemäß funktionieren, fielen sie in Langzeitversuchen durch eine erhebliche Varianz in ihrer Funktionsfähigkeit auf[36, 54, 55, 63]

. Bei der Entwicklung klinisch einsetzbarer Technologien ist das problematisch, weil Bioimplantate zur Wiederherstellung von Sinneseindrucken über einen langen Zeitraum funktionell verlässlich arbeiten müssen[81].

Die Beständigkeit von intrakortikalen Elektroden hängt dabei maßgeblich von der biologischen Unbedenklichkeit der für die Elektrodenträger verwendeten Materialien gegenüber dem neuronalen Zielgewebe ab[82].

Vor diesem Hintergrund erscheint es notwendig, einen Überblick über die an der Gewebereaktion auf den Vorgang der Insertion und auf die Elektrodenträger beteiligten Vorgänge im ZNS zu geben[83, 84].

2.2.1.6 Biokompatibilität des Insertionsvorgangs

Das durch den Vorgang der Implantation einer neuroelektrischen Schnittstelle entstehende biologische Schädigungsmuster hängt wesentlich von der Form und Dimensionierung der Elektrode ab[45, 55, 56, 69, 85]

.

Eine entscheidende Bedeutung bei der Reduzierung von Gewebsverletzungen durch den Implantationsvorgang kommt dabei dem Design der Elektrodenspitze zu.

Während die bei Einführung von neuroelektrischen Schnittstellen in das Zielgewebe direkt getroffene Neuronen und Kapillaren zwangsläufig verletzt werden, soll durch eine entsprechende Spitzenform eine Ausweitung der Schädigung in das angrenzende Gewebe verhindert werden. Dies wird am besten dann erreicht, wenn während der Penetration das Hirngewebe mit den Neuronen und Kapillaren sauber geschnitten wird, ohne dass auf das angrenzende Gewebe Zug oder Kompression ausgeübt wird. Dadurch kann ein Zerreißen von Neuronen, Glia, Fasern und Blutgefäßen, welches auch zu einer sekundären Schädigung benachbarter Strukturen führen würde, weitgehend vermieden werden.

Im Rahmen einer tierexperimentellen Versuchsreihe entwickelte die Forschungsgruppe um David Edell eine Spitzenform als optimales Design, um bei der Insertion Zug und Kompression des Gewebes weitgehend zu vermeiden[56]. Da das von Edell et al. favorisierte Design der Schwert-Spitze in ihrer Herstellung nur sehr schwer zu realisieren war, entschied man sich die technisch leichter zu realisierende Meißel-Spitze zu verwenden (vgl. Abb. 8).

Insertionsgeschwindigkeit sowie die Art der Einführung von penetrierendem Fremdmaterial in das neuronale Zielgewebe.

Die Arbeitsgruppe um Nicolelis beispielsweise führte die hohe Rate an funktionsfähigen Elektroden des UEA auf dessen gleichmäßig langsames Einführen mit einer Geschwindigkeit von 100 µm/s in das Nervengewebe zurück[55]. Die Theorie, die dieser Annahme zugrunde liegt, besagt, dass das Zielgewebe durch langsame Insertion besser in der Lage sei, sich dem mechanischen Trauma anzupassen. Allerdings berichten Gruppen, die dieser Annahme ebenfalls gefolgt waren, von erheblichen Gewebsschäden infolge langsamer Implantation[56].

Demgegenüber steht die Strategie einer raschen Einführung von penetrierendem Fremdmaterial. Diese geht davon aus, dass die Kraft der zügigen Insertion das betroffene Gewebe zwar schneiden würde, dieses aber keinen Einfluss auf umliegendes Gewebe hätte[49]. So stellten andere Forschungsgruppen, die auch das UEA verwendeten, fest, dass durch eine hohe Insertionsgeschwindigkeit (8,3 m/s) keine signifikanten Gewebsschäden an der kortikalen Oberfläche zu verzeichnen waren[49, 64, 86]. Andere Gruppen wie die um Turner und Szarowski verwenden Insertionsgeschwindigkeiten zwischen diesen beiden Extremen (2 mm/s) und fanden ebenfalls keine insertionsbedingten Schäden am Zielgewebe vor[60, 62].

Die Art der Einführung von penetrierendem Fremdmaterial in das neuronale Zielgewebe erfolgt ebenfalls nicht nach einer einheitlichen Methodik. Einige Gruppen führen Elektroden mit der Hand ein[52-54, 62, 87]

, während andere Gruppen so genannte

„Microdrives“ – mechanische Vorrichtungen mit gleichmäßigem Vorschub - nutzen, um eine möglichst schonende Insertion zu gewährleisten[55, 58, 62, 64]

.

Edell et al. (1992) sowie Kewley et al. (1997) sahen in der senkrechten Implantation eine wesentliche Grundvoraussetzung für die Funktionsfähigkeit von neuroelektrischen Schnittstellen. In diesem Zusammenhang berechnete Edell, dass ein insertionsbedingter Versatz um nur 1 Grad bei einer 1 mm tiefen Implantation des Elektrodenträgers zu einer Abweichung von 17 µm im Zielgewebe führt[56].

2.2.1.8 Initiale Gewebsreaktion

Die initialen Auswirkungen des Insertionsvorgangs haben insgesamt nur wenige Studien histologisch untersucht. Das mechanische Trauma initiiert eine frühe

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18 Wundheilungsreaktion des ZNS, ein biologischer Mechanismus, der Ähnlichkeiten mit der Wundheilung anderer Gewebe aufweist[86].

Bereits einen Tag nach Insertion erscheinen aktivierte, proliferierende Mikroglia um das Implantat herum[62, 77, 82, 88-92]

. Ein perifokales Ödem sowie Erythrozyten verbleiben auch 4 Tage nach Implantation der neuroelektrischen Schnittstelle, obwohl immer mehr Flüssigkeit und Zelltrümmer infolge der Aktivierung von Mikroglia allmählich lysiert und phagozytiert werden[82, 87]. Erythrozyten-Abbauprodukte sowie Nekrosen konnten sogar 6 Wochen nach Insertion nachgewiesen werden[60, 82, 87]

. Typische entzündliche Zellen oder Blutungen fanden sich in histologischen Untersuchungen zu späteren Zeitpunkten nicht mehr[52]. Lediglich einige Makrophagen konnten noch 16 Wochen nach Implantation um die Stichkanäle diagnostiziert werden[60, 62, 87, 93]

.

Wurden in tierexperimentellen Studien penetrierende Elektrodenträger kurzzeitig inseriert und sogleich explantiert, konnten nach mehreren Monaten nicht einmal mehr Stichkanäle nachgewiesen werden, was als ein Beleg für die Reversibilität dieser mechanisch induzierten Schädigungen betrachtet wird[45, 52, 58, 82, 93, 94]. Folglich sollte die anhaltende Präsenz von neuroelektrischen Schnittstellen im ZNS eine erweiterte Gewebsreaktion nach sich ziehen.

2.2.1.9 Chronische Implantation

Die Gewebsreaktion auf chronisch implantierte Materialien im ZNS würde weniger ein Problem darstellen, wenn sich die oben beschriebenen, initialen zellulären Prozesse nach einigen Wochen – analog bei erlittenen Stichwunden – rückläufig darstellen würden. Histologisch ist jedoch festzustellen, dass nach Abklingen dieser ersten Reaktion auf implantierte Elektrodenträger eine chronische Fremdkörperreaktion, auch als “foreign body reaction” bezeichnet, zu beobachten ist.

Es gibt unterschiedliche Zellpopulationen, die an der chronischen Gewebsreaktion im ZNS beteiligt sind. Neben den Neuronen, die weniger als 25 % der Zellen im Gehirn ausmachen[95], besteht das ZNS vornehmlich aus Gliazellen (Oligodendrozyten, Astrozyten und Mikroglia) und gefäßassoziiertem Gewebe.

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22 Gliose führen, bei stimulierten Form, Frequenz und Stärke der einlaufenden elektrischen Reize.

Mehrere Forschungsgruppen haben sich mit der von Edell et al. beschriebenen “kill zone” beschäftigt. Die Angaben über das Ausmaß dieser Region variieren zwischen 1 µm und mehr als 100 µm[60, 87, 116]

.

Änderungen der Neuronendichte um Bioimplantate werden auch durch Hydratation und Ödembildung verursacht. Druckänderungen im Gewebe konzentrieren sich an den Elektrodenspitzen. Gewebepulsationen (z.B. Atmung, Blutdruck) führen zu einer Zerstörung an die Elektrode angrenzender Neurone. Diese Zellen werden abgebaut und durch Glia ersetzt. Dadurch wächst die Distanz zwischen Elektrodenspitze und stimulierbarem Gewebe[51, 82, 92]. Normale Neurone finden sich nach Stimulation im Bereich der Elektrodenspitze weiter entfernt als im Bereich des Schaftes[56].

Die Arbeitsgruppe um Roy Biran kam mit chronischen Insertionsversuchen zu dem Ergebnis, dass dieser Zellverlust letztlich in direkter Verbindung mit der oben beschriebenen Fremdkörperreaktion zu sehen ist[93].

2.2.2 Gewebeverträglichkeit der elektrischen Stimulation

2.2.2.1 Reversible Ladungstransferlimits

Durch die elektrische Stimulation des Zentralnervensystems mittels biokompatibler Stimulationselektroden fließt Ladung in das biologische Zielgewebe. Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung sprechen dafür, dass dabei für verschiedene Elektrodenträgermaterialien unterschiedliche Grenzwerte für jene Ladung existieren, die reversibel in das Gewebe eingebracht werden kann. In diesem Zusammenhang stellt die Reversibilität alle chemischen Prozesse dar, die während einer Stimulationsphase ablaufen und durch eine Phase entgegen gesetzter Polarität wieder aufgehoben werden.

Neben dem Material hängen diese so genannten reversiblen Ladungstransferlimits (RLTL; engl.: „reversible charge injection limit“) maßgeblich von der Größe und der Form des Elektrodenträgers im Zentralnervensystem ab.

Ferner nehmen die Zusammensetzung des umgebenden Mediums als auch die bei

elektrischer Stimulation verwendeten Parameter einen direkten Einfluss auf die Höhe dieses Grenzwerts[21].

Bezogen auf die effektive oder geometrische Fläche des Elektrodenträgers erfolgt die Angabe als Ladungsdichte pro Phase (µC/cm2/Phase). Brummer und Turner (1997) beispielsweise ermittelten bei einer Pulsdauer von >600 µs ein reversibles Ladungstransferlimit von 300 ± 20 µC/cm2 für eine anodennahe sowie 350 ± 50 µC/cm2 für eine kathodennahe Stimulation mit Platinelektroden[117].

Kommt es zu einer Überschreitung dieser zulässigen Grenzwerte ist mit einer Schädigung des biologischen Zielgewebes oder der Stimulationselektrode zu rechnen[21]. wobei werden, die im nächsten Kapitel behandelt werden.

2.2.2.2 Mechanismen der Gewebeschädigung

In der Wissenschaft werden zwei mögliche Mechanismen der Gewebeschädigung in Betracht gezogen. Bei der Massenaktionstheorie („mass action theory“) wird von der Annahme ausgegangen, dass eine massive Aktivierung von Neuronenpopulationen durch intrinsische biologische Prozesse Gewebeschäden verursacht. Aus der elektrisch über eine längere Zeitspanne induzierten Hyperaktivität vieler Neuronen würden dieser Hypothese nach durch Sauerstoff- bzw.

Glucosemangel oder Änderungen der intra- sowie extrazellulären Ionenkonzentrationen (z. B. einem Anstieg der extrazellulären Kaliumkonzentration) – ähnlich wie bei prolongierten zerebralen Krampfanfällen - Gewebeläsionen entstehen. So kann infolge einer Überstimulation von erregenden Neuronen eine übermäßige Freisetzung von Neurotransmittern wie Glutamat zu einer so genannten Exzitotoxizität führen, wodurch das umgebende Nervengewebe geschädigt werden kann. Gemäß der Massenaktionstheorie gilt: Je mehr Neurone massenaktiviert und überstimuliert werden, desto größer ist der resultierende Gesamtschaden des Gewebes.

Der zweite Mechanismus der Gewebeschädigung berücksichtigt die Annahme, dass im Rahmen elektrochemischer Prozesse bei Stimulation eine Anhäufung toxischer Redoxprodukte an der Elektrodenoberfläche entsteht. Übersteigt diese das physiologisch tolerierbare Maß, treten auch hier Schäden im Bereich des Zielorgans auf.

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24 Zusätzlich störend für die Effektivität einer neuroelektrischen Schnittstelle sind die ebenfalls durch elektrochemische Vorgänge an der Elektrode ausgelösten Veränderungen in Form von Korrosion. Ein Beispiel für eine solche Reaktion stellt die Korrosion von Platin in einem chloridhaltigen Medium wie der extrazellulären Flüssigkeit dar (vgl. Abb. 13).

Pt + 4Cl- => [PtCl4]2- + 2e

-Abb. 13 Elektrochemische Reaktion der Korrosion

Redoxreaktion der Korrosion von Platin in einem chloridhaltigen Medium[96].

Die elektrochemische Reaktion der Korrosion stellt dabei einen irreversiblen Prozess dar. Die entstehenden Produkte können entweder gelöst ins umgebende Gewebe gehen (und hier ebenfalls eine Reaktion hervorrufen) oder durch Bildung einer festen Oxidschicht auf der Elektrode eine Veränderung der Stimulationsoberfläche bewirken, die zu einer messbaren Beeinträchtigung der Funktion des Elektrodenträgers führen kann.

In einer tierexperimentellen Studie mit identischen Stimulationsparametern jedoch unterschiedlichen Elektrodenträgermaterialien (Platin vs. Tantalpentoxid) stellte die Arbeitsgruppe um Douglas McCreery (1988) fest, dass der elektrisch induzierte Gewebeschaden am Kortex der Katze sich über die unterschiedlichen Materialien statistisch nicht signifikant unterschied[115]. McCreery et al. folgerten daraus, dass das Auftreten neuronaler Schädigung durch die Stimulation weniger von den elektrochemischen Reaktionsprodukten, die sich am Elektrolyt-Gewebe-Übergang anhäufen[21], als vielmehr von jenen Prozessen, die im Zusammenhang mit dem Fluss des Stimulationsstroms durch das Gewebe entstehen, zu begründen sei. Die Forschungsgruppe um Agnew kam zu ähnlichen Ergebnissen[27, 118]. In Studien zur elektrischen Stimulation am Kortex der Katze beschrieb sie einen histologisch gesicherten morphologischen Schaden durch intrakortikale Stimulation mit zwei von elf eingebrachten Mikroelektroden. Allerdings setzten sie diesen Gewebeschaden im Gegensatz zu McCreery zusätzlich noch zu toxischen Redoxprodukten von Platin und Iridium in Beziehung, da sie bei der Stimulation mit reinen Iridium-Elektroden keine Gewebeläsion nachweisen konnten.

2.2.2.3 Betrachtung von Schädigungsschwellen

In weiterführenden Studien stellte die Arbeitsgruppe um McCreery 1990 fest, dass bei konstanter Reizfrequenz (50 Hz) und Dauer der Stimulation (7 Stunden) mit Oberflächen- und Tiefenelektroden am Kortex der Katze die Ladungsdichte (charge

In weiterführenden Studien stellte die Arbeitsgruppe um McCreery 1990 fest, dass bei konstanter Reizfrequenz (50 Hz) und Dauer der Stimulation (7 Stunden) mit Oberflächen- und Tiefenelektroden am Kortex der Katze die Ladungsdichte (charge