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2   Elektrische Schnittstellen im Zentralnervensystem

2.2   Biokompatibilität

2.2.1   Gewebeverträglichkeit von elektrischen Schnittstellen

2.2.1.3   Existierende Elektrodendesigns

Die Herausforderung, Elektrodenkontakte direkt an die zu stimulierenden Neuronenpopulationen anzukoppeln und die Reaktion dieser Nervenzellen auf chronisch elektrische Stimulation zu untersuchen, inspirierte eine Anzahl von Forschungsgruppen, penetrierende Mehrkanalelektroden zu entwickeln. Für diese experimentell eingesetzten Tiefenelektroden wurden Mikrodrähte[30, 34-42], spezielle Polymere[43-47] sowie unterschiedliche Typen siliziumbasierter Bioimplantate[48-51]

eingesetzt.

Von diesen Arten von neuroelektrischen Schnittstellen, die derzeit eingesetzt werden, sind die aus Mikrodrähten bestehenden Elektroden am weitesten verbreitet. Die implantierten Drähte bestehen dabei aus einem leitenden Metall wie Platin, Gold[52], Wolfram[53], Iridium[54] oder Edelstahl[55]. Isoliert sind diese mit einem nicht-zytotoxischen Material, wobei die Spitze des Drahtes frei liegt, um darüber stimulieren oder elektrische Signale aus dem Zielgewebe empfangen zu können. Die Anzahl der aus Draht bestehenden Mikroelektroden auf einem Elektrodenträger reicht dabei von vier[52] bis über mehreren hundert[55] (vgl. Abb. 6).

Kapitel 2 Elektrische Schnittstellen im Zentralnervensystem

14 2.2.1.4 Isolationsmaterialien

Sowohl Mikrodrahtelektroden als auch siliziumbasierte Bioimplantate erfordern eine Isolierung. Da der direkte Kontakt zwischen dem Implantat und dem neuronalen Zielgewebe vornehmlich über diese Isolierschicht erfolgt, muss sie aus einem nicht-zytotoxischen Material bestehen, um eine möglichst geringe Fremdkörperreaktion zu gewährleisten.

Mehrere unterschiedliche Materialien sind hierfür bereits als biokompatibel identifiziert und zur Isolation von Tiefenelektroden verwendet worden. Mit großem Erfolg werden beispielsweise Mikrodrähte mittels einfacher Beschichtung aus Teflon oder S-isonel, einem dem Teflon ähnlichen Polyesterlack, isoliert[55, 66]. Epoxydharze wurden ebenfalls erfolgreich bei Mikrodrahtelektroden eingesetzt[54]. Auch wenn bisher in vivo nicht getestet, konnte das im Plasma gelagerte Diamond-Like Carbon (DLC) in vitro seine Eigenschaft als chemisch inerter Isolator sowie gutes bioaktives Substrat für eine reduzierte Fremdkörperreaktion unter Beweis stellen[67, 68].

Bei der Herstellung von mikromechanischen siliziumbasierten Bioimplantaten werden neben der Isolierung aus Siliziumnitrid oder Siliziumdioxid[49, 59] zusätzlich noch Polyesterimid oder häufiger Polyimid zur Beschichtung verwendet[49, 52, 53, 61]

.

Zur Verringerung möglicher Fremdkörperreaktionen werden die Isolierschichten teilweise mit entzündungshemmenden Verbindungen modifiziert, z.B. mit Adhäsionsproteinen oder bioaktiven Molekülen[51, 69-77]

. Ferner finden auch biologische Modifikationen zur Verbesserung der Ankopplung wie beispielsweise die Beschichtung mit Hyaluronsäure, Peptiden, Zucker oder Wachstumsfaktoren[69, 78-80]

Anwendung.

2.2.1.5 Biokompatibilität der Elektrodenträger

Während viele Elektrodendesigns in Kurzzeitstudien bestimmungsgemäß funktionieren, fielen sie in Langzeitversuchen durch eine erhebliche Varianz in ihrer Funktionsfähigkeit auf[36, 54, 55, 63]

. Bei der Entwicklung klinisch einsetzbarer Technologien ist das problematisch, weil Bioimplantate zur Wiederherstellung von Sinneseindrucken über einen langen Zeitraum funktionell verlässlich arbeiten müssen[81].

Die Beständigkeit von intrakortikalen Elektroden hängt dabei maßgeblich von der biologischen Unbedenklichkeit der für die Elektrodenträger verwendeten Materialien gegenüber dem neuronalen Zielgewebe ab[82].

Vor diesem Hintergrund erscheint es notwendig, einen Überblick über die an der Gewebereaktion auf den Vorgang der Insertion und auf die Elektrodenträger beteiligten Vorgänge im ZNS zu geben[83, 84].

2.2.1.6 Biokompatibilität des Insertionsvorgangs

Das durch den Vorgang der Implantation einer neuroelektrischen Schnittstelle entstehende biologische Schädigungsmuster hängt wesentlich von der Form und Dimensionierung der Elektrode ab[45, 55, 56, 69, 85]

.

Eine entscheidende Bedeutung bei der Reduzierung von Gewebsverletzungen durch den Implantationsvorgang kommt dabei dem Design der Elektrodenspitze zu.

Während die bei Einführung von neuroelektrischen Schnittstellen in das Zielgewebe direkt getroffene Neuronen und Kapillaren zwangsläufig verletzt werden, soll durch eine entsprechende Spitzenform eine Ausweitung der Schädigung in das angrenzende Gewebe verhindert werden. Dies wird am besten dann erreicht, wenn während der Penetration das Hirngewebe mit den Neuronen und Kapillaren sauber geschnitten wird, ohne dass auf das angrenzende Gewebe Zug oder Kompression ausgeübt wird. Dadurch kann ein Zerreißen von Neuronen, Glia, Fasern und Blutgefäßen, welches auch zu einer sekundären Schädigung benachbarter Strukturen führen würde, weitgehend vermieden werden.

Im Rahmen einer tierexperimentellen Versuchsreihe entwickelte die Forschungsgruppe um David Edell eine Spitzenform als optimales Design, um bei der Insertion Zug und Kompression des Gewebes weitgehend zu vermeiden[56]. Da das von Edell et al. favorisierte Design der Schwert-Spitze in ihrer Herstellung nur sehr schwer zu realisieren war, entschied man sich die technisch leichter zu realisierende Meißel-Spitze zu verwenden (vgl. Abb. 8).

Insertionsgeschwindigkeit sowie die Art der Einführung von penetrierendem Fremdmaterial in das neuronale Zielgewebe.

Die Arbeitsgruppe um Nicolelis beispielsweise führte die hohe Rate an funktionsfähigen Elektroden des UEA auf dessen gleichmäßig langsames Einführen mit einer Geschwindigkeit von 100 µm/s in das Nervengewebe zurück[55]. Die Theorie, die dieser Annahme zugrunde liegt, besagt, dass das Zielgewebe durch langsame Insertion besser in der Lage sei, sich dem mechanischen Trauma anzupassen. Allerdings berichten Gruppen, die dieser Annahme ebenfalls gefolgt waren, von erheblichen Gewebsschäden infolge langsamer Implantation[56].

Demgegenüber steht die Strategie einer raschen Einführung von penetrierendem Fremdmaterial. Diese geht davon aus, dass die Kraft der zügigen Insertion das betroffene Gewebe zwar schneiden würde, dieses aber keinen Einfluss auf umliegendes Gewebe hätte[49]. So stellten andere Forschungsgruppen, die auch das UEA verwendeten, fest, dass durch eine hohe Insertionsgeschwindigkeit (8,3 m/s) keine signifikanten Gewebsschäden an der kortikalen Oberfläche zu verzeichnen waren[49, 64, 86]. Andere Gruppen wie die um Turner und Szarowski verwenden Insertionsgeschwindigkeiten zwischen diesen beiden Extremen (2 mm/s) und fanden ebenfalls keine insertionsbedingten Schäden am Zielgewebe vor[60, 62].

Die Art der Einführung von penetrierendem Fremdmaterial in das neuronale Zielgewebe erfolgt ebenfalls nicht nach einer einheitlichen Methodik. Einige Gruppen führen Elektroden mit der Hand ein[52-54, 62, 87]

, während andere Gruppen so genannte

„Microdrives“ – mechanische Vorrichtungen mit gleichmäßigem Vorschub - nutzen, um eine möglichst schonende Insertion zu gewährleisten[55, 58, 62, 64]

.

Edell et al. (1992) sowie Kewley et al. (1997) sahen in der senkrechten Implantation eine wesentliche Grundvoraussetzung für die Funktionsfähigkeit von neuroelektrischen Schnittstellen. In diesem Zusammenhang berechnete Edell, dass ein insertionsbedingter Versatz um nur 1 Grad bei einer 1 mm tiefen Implantation des Elektrodenträgers zu einer Abweichung von 17 µm im Zielgewebe führt[56].

2.2.1.8 Initiale Gewebsreaktion

Die initialen Auswirkungen des Insertionsvorgangs haben insgesamt nur wenige Studien histologisch untersucht. Das mechanische Trauma initiiert eine frühe

Kapitel 2 Elektrische Schnittstellen im Zentralnervensystem

18 Wundheilungsreaktion des ZNS, ein biologischer Mechanismus, der Ähnlichkeiten mit der Wundheilung anderer Gewebe aufweist[86].

Bereits einen Tag nach Insertion erscheinen aktivierte, proliferierende Mikroglia um das Implantat herum[62, 77, 82, 88-92]

. Ein perifokales Ödem sowie Erythrozyten verbleiben auch 4 Tage nach Implantation der neuroelektrischen Schnittstelle, obwohl immer mehr Flüssigkeit und Zelltrümmer infolge der Aktivierung von Mikroglia allmählich lysiert und phagozytiert werden[82, 87]. Erythrozyten-Abbauprodukte sowie Nekrosen konnten sogar 6 Wochen nach Insertion nachgewiesen werden[60, 82, 87]

. Typische entzündliche Zellen oder Blutungen fanden sich in histologischen Untersuchungen zu späteren Zeitpunkten nicht mehr[52]. Lediglich einige Makrophagen konnten noch 16 Wochen nach Implantation um die Stichkanäle diagnostiziert werden[60, 62, 87, 93]

.

Wurden in tierexperimentellen Studien penetrierende Elektrodenträger kurzzeitig inseriert und sogleich explantiert, konnten nach mehreren Monaten nicht einmal mehr Stichkanäle nachgewiesen werden, was als ein Beleg für die Reversibilität dieser mechanisch induzierten Schädigungen betrachtet wird[45, 52, 58, 82, 93, 94]. Folglich sollte die anhaltende Präsenz von neuroelektrischen Schnittstellen im ZNS eine erweiterte Gewebsreaktion nach sich ziehen.

2.2.1.9 Chronische Implantation

Die Gewebsreaktion auf chronisch implantierte Materialien im ZNS würde weniger ein Problem darstellen, wenn sich die oben beschriebenen, initialen zellulären Prozesse nach einigen Wochen – analog bei erlittenen Stichwunden – rückläufig darstellen würden. Histologisch ist jedoch festzustellen, dass nach Abklingen dieser ersten Reaktion auf implantierte Elektrodenträger eine chronische Fremdkörperreaktion, auch als “foreign body reaction” bezeichnet, zu beobachten ist.

Es gibt unterschiedliche Zellpopulationen, die an der chronischen Gewebsreaktion im ZNS beteiligt sind. Neben den Neuronen, die weniger als 25 % der Zellen im Gehirn ausmachen[95], besteht das ZNS vornehmlich aus Gliazellen (Oligodendrozyten, Astrozyten und Mikroglia) und gefäßassoziiertem Gewebe.

Kapitel 2 Elektrische Schnittstellen im Zentralnervensystem

22 Gliose führen, bei stimulierten Form, Frequenz und Stärke der einlaufenden elektrischen Reize.

Mehrere Forschungsgruppen haben sich mit der von Edell et al. beschriebenen “kill zone” beschäftigt. Die Angaben über das Ausmaß dieser Region variieren zwischen 1 µm und mehr als 100 µm[60, 87, 116]

.

Änderungen der Neuronendichte um Bioimplantate werden auch durch Hydratation und Ödembildung verursacht. Druckänderungen im Gewebe konzentrieren sich an den Elektrodenspitzen. Gewebepulsationen (z.B. Atmung, Blutdruck) führen zu einer Zerstörung an die Elektrode angrenzender Neurone. Diese Zellen werden abgebaut und durch Glia ersetzt. Dadurch wächst die Distanz zwischen Elektrodenspitze und stimulierbarem Gewebe[51, 82, 92]. Normale Neurone finden sich nach Stimulation im Bereich der Elektrodenspitze weiter entfernt als im Bereich des Schaftes[56].

Die Arbeitsgruppe um Roy Biran kam mit chronischen Insertionsversuchen zu dem Ergebnis, dass dieser Zellverlust letztlich in direkter Verbindung mit der oben beschriebenen Fremdkörperreaktion zu sehen ist[93].

2.2.2 Gewebeverträglichkeit der elektrischen Stimulation

2.2.2.1 Reversible Ladungstransferlimits

Durch die elektrische Stimulation des Zentralnervensystems mittels biokompatibler Stimulationselektroden fließt Ladung in das biologische Zielgewebe. Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung sprechen dafür, dass dabei für verschiedene Elektrodenträgermaterialien unterschiedliche Grenzwerte für jene Ladung existieren, die reversibel in das Gewebe eingebracht werden kann. In diesem Zusammenhang stellt die Reversibilität alle chemischen Prozesse dar, die während einer Stimulationsphase ablaufen und durch eine Phase entgegen gesetzter Polarität wieder aufgehoben werden.

Neben dem Material hängen diese so genannten reversiblen Ladungstransferlimits (RLTL; engl.: „reversible charge injection limit“) maßgeblich von der Größe und der Form des Elektrodenträgers im Zentralnervensystem ab.

Ferner nehmen die Zusammensetzung des umgebenden Mediums als auch die bei

elektrischer Stimulation verwendeten Parameter einen direkten Einfluss auf die Höhe dieses Grenzwerts[21].

Bezogen auf die effektive oder geometrische Fläche des Elektrodenträgers erfolgt die Angabe als Ladungsdichte pro Phase (µC/cm2/Phase). Brummer und Turner (1997) beispielsweise ermittelten bei einer Pulsdauer von >600 µs ein reversibles Ladungstransferlimit von 300 ± 20 µC/cm2 für eine anodennahe sowie 350 ± 50 µC/cm2 für eine kathodennahe Stimulation mit Platinelektroden[117].

Kommt es zu einer Überschreitung dieser zulässigen Grenzwerte ist mit einer Schädigung des biologischen Zielgewebes oder der Stimulationselektrode zu rechnen[21]. wobei werden, die im nächsten Kapitel behandelt werden.

2.2.2.2 Mechanismen der Gewebeschädigung

In der Wissenschaft werden zwei mögliche Mechanismen der Gewebeschädigung in Betracht gezogen. Bei der Massenaktionstheorie („mass action theory“) wird von der Annahme ausgegangen, dass eine massive Aktivierung von Neuronenpopulationen durch intrinsische biologische Prozesse Gewebeschäden verursacht. Aus der elektrisch über eine längere Zeitspanne induzierten Hyperaktivität vieler Neuronen würden dieser Hypothese nach durch Sauerstoff- bzw.

Glucosemangel oder Änderungen der intra- sowie extrazellulären Ionenkonzentrationen (z. B. einem Anstieg der extrazellulären Kaliumkonzentration) – ähnlich wie bei prolongierten zerebralen Krampfanfällen - Gewebeläsionen entstehen. So kann infolge einer Überstimulation von erregenden Neuronen eine übermäßige Freisetzung von Neurotransmittern wie Glutamat zu einer so genannten Exzitotoxizität führen, wodurch das umgebende Nervengewebe geschädigt werden kann. Gemäß der Massenaktionstheorie gilt: Je mehr Neurone massenaktiviert und überstimuliert werden, desto größer ist der resultierende Gesamtschaden des Gewebes.

Der zweite Mechanismus der Gewebeschädigung berücksichtigt die Annahme, dass im Rahmen elektrochemischer Prozesse bei Stimulation eine Anhäufung toxischer Redoxprodukte an der Elektrodenoberfläche entsteht. Übersteigt diese das physiologisch tolerierbare Maß, treten auch hier Schäden im Bereich des Zielorgans auf.

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24 Zusätzlich störend für die Effektivität einer neuroelektrischen Schnittstelle sind die ebenfalls durch elektrochemische Vorgänge an der Elektrode ausgelösten Veränderungen in Form von Korrosion. Ein Beispiel für eine solche Reaktion stellt die Korrosion von Platin in einem chloridhaltigen Medium wie der extrazellulären Flüssigkeit dar (vgl. Abb. 13).

Pt + 4Cl- => [PtCl4]2- + 2e

-Abb. 13 Elektrochemische Reaktion der Korrosion

Redoxreaktion der Korrosion von Platin in einem chloridhaltigen Medium[96].

Die elektrochemische Reaktion der Korrosion stellt dabei einen irreversiblen Prozess dar. Die entstehenden Produkte können entweder gelöst ins umgebende Gewebe gehen (und hier ebenfalls eine Reaktion hervorrufen) oder durch Bildung einer festen Oxidschicht auf der Elektrode eine Veränderung der Stimulationsoberfläche bewirken, die zu einer messbaren Beeinträchtigung der Funktion des Elektrodenträgers führen kann.

In einer tierexperimentellen Studie mit identischen Stimulationsparametern jedoch unterschiedlichen Elektrodenträgermaterialien (Platin vs. Tantalpentoxid) stellte die Arbeitsgruppe um Douglas McCreery (1988) fest, dass der elektrisch induzierte Gewebeschaden am Kortex der Katze sich über die unterschiedlichen Materialien statistisch nicht signifikant unterschied[115]. McCreery et al. folgerten daraus, dass das Auftreten neuronaler Schädigung durch die Stimulation weniger von den elektrochemischen Reaktionsprodukten, die sich am Elektrolyt-Gewebe-Übergang anhäufen[21], als vielmehr von jenen Prozessen, die im Zusammenhang mit dem Fluss des Stimulationsstroms durch das Gewebe entstehen, zu begründen sei. Die Forschungsgruppe um Agnew kam zu ähnlichen Ergebnissen[27, 118]. In Studien zur elektrischen Stimulation am Kortex der Katze beschrieb sie einen histologisch gesicherten morphologischen Schaden durch intrakortikale Stimulation mit zwei von elf eingebrachten Mikroelektroden. Allerdings setzten sie diesen Gewebeschaden im Gegensatz zu McCreery zusätzlich noch zu toxischen Redoxprodukten von Platin und Iridium in Beziehung, da sie bei der Stimulation mit reinen Iridium-Elektroden keine Gewebeläsion nachweisen konnten.

2.2.2.3 Betrachtung von Schädigungsschwellen

In weiterführenden Studien stellte die Arbeitsgruppe um McCreery 1990 fest, dass bei konstanter Reizfrequenz (50 Hz) und Dauer der Stimulation (7 Stunden) mit Oberflächen- und Tiefenelektroden am Kortex der Katze die Ladungsdichte (charge density) sowie die Gesamtladung pro Phase (charge per phase) die entscheidenden Determinanten für die Schädigung von neuronalem Gewebe sind[28]. Im Hinblick auf die „mass action theory“ bestimmt die Ladung pro Phase das Gesamtvolumen innerhalb welcher Neuronen angeregt werden und die Ladungsdichte den Anteil der aktivierten Neuronen in unmittelbarer Nähe zum Elektrodenträger.

Die Daten von McCreery et al. zeigten, dass sobald sich die Gesamtladung pro Phase erhöhte, die Ladungsdichte für eine sichere und somit gewebsverträgliche Stimulation sank. Ist die Gesamtladung pro Phase – wie bei einer penetrierenden Mirkoelektrode – klein, kann folglich eine relativ große Ladungsdichte für eine sichere Stimulation verwendet werden.

Shannon et al. gelang es, die von McCreery ermittelten Daten aufzubereiten und einen mathematischen Ausdruck für die Schädigungsschwelle im Zentralnervensystem zu entwickeln[119]. Dabei wird diese durch das Verhältnis der Kofaktoren Ladungsdichte und Gesamtladung pro Phase bestimmt (vgl. Abb. 14)[28,

115].

log (Q / A) = k - log (Q)

Abb. 14 Schädigungsschwelle im Zentralnervensystem

Mathematischer Ausdruck der Schädigungsschwelle im ZNS wobei Q die Gesamtladung pro Phase (µC pro Phase), Q / A die Ladungsdichte pro Phase (µC/cm2 pro Phase) darstellen.

Unterschiedliche Forschungsgruppen[28, 32, 120, 121] wiesen bei der Stimulation mit elektrischen Schnittstellen im Zentralnervensystem nach, dass sich histologische Schädigungen in einem Bereich fanden, bei dem der Parameter k stets größer als 2 war[115] (vgl. Abb. 15).

Abb. 16 SIDNE in Abhängigkeit von der Stimulationsrate und dem Stimulationszyklus Graphische Darstellung der Abhängigkeit von SIDNE von der Rate und dem Zyklus einer siebenstündigen Stimulation[31]. Unter SIDNE wird ein höherer Stimulationsstrom benötigt, um Potenzialänderungen elektrisch evozieren zu können.

Obwohl SIDNE nach mehreren Tagen reversibel ist und ohne histologisch nachweisbare Gewebeschädigung auftritt, ist sie bei der Gestaltung von elektrischen Schnittstellen im Zentralnervensystem zu berücksichtigen. Um Potenzialänderungen elektrisch evozieren zu können, wird unter SIDNE ein höherer Stimulationsstrom notwendig. Im Rahmen einer chronisch hochfrequenten Stimulation würde dies eine kontinuierliche Erhöhung der Gesamtladung erfordern – mit entsprechenden Folgen für die Biokompatibilität der Stimulation.

In einer experimentellen Machbarkeitsstudie zur Entwicklung von humanen Gehörprothesen führte die Gruppe um McCreery aktivierte Iridiumelektroden in den Nucleus cochlearis ventralis (NCV) der Katze ein. Im Rahmen der mehrtägigen Untersuchung der neuronalen Erregbarkeit – hierzu wurden die Potenzialschwankungen des Colliculus inferior als Antwort auf den auslösenden elektrischen Reiz im NCV herangezogen – stellten McCreery et al. fest, dass sich in Intervallen während der Dauerstimulation auch eine vorübergehende Refraktärität der neuronalen Erregbarkeit (SANR, short-acting neuronal refractivity) nachweisen ließ, die kürzer anhält, als die oben beschriebene SIDNE. SANR wurde bisher in ihrem zeitlichen Ausmaß noch nicht ausreichend charakterisiert, allerdings zeigte sie in dieser Versuchsanordnung – wie SIDNE – eine Proportionalität zur Stimulationsrate und –zyklus der elektrischen Stimulation[122].

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28 2.2.2.5 Histologische Beurteilung

In der aktuellen Literatur existiert bislang kein einheitlicher Standard, um das Ausmaß der durch elektrische Stimulation des ZNS resultierenden Gewebereaktion zu beurteilen.

Aufgrund erheblicher Unterschiede in den Versuchsanordnungen der einzelnen Forschungsgruppen in Bezug auf die biologischen (zugrundeliegendes Tiermodell) und physikalischen Variablen (verwendete Elektroden, Handhabung, Implantation, Fixierung sowie Stimulationsparameter) ist eine Vergleichbarkeit der erzielten Ergebnisse nur eingeschränkt möglich[32, 43, 56, 86, 123]

.

Ferner sind viele der Experimente nicht innerhalb kontrollierter Studien und oft unter Verwendung einer zu geringen Anzahl von Tieren durchgeführt worden.

Aussagekraft und Evidenzgrad solcher Untersuchungen sind daher eingeschränkt [56,

63, 124]

.

Alle bisher vorliegenden histologischen Bewertungsschemata sind ursprünglich mithilfe großflächiger, inaktiver Oberflächenelektroden erstellt worden[32]. Weiterführende tierexperimentelle Studien unterschiedlicher Arbeitsgruppen passten dann diese so genannten „Damage Scores“ für penetrierende neuroelektrische Schnittstellen an[43, 56, 86, 125-127]

.

Die Arbeitsgruppe um David Edell beispielsweise führte die Dichte von Neuronen im Zielgewebe als sensibelste morphologische Veränderung für die chronische Funktionsfähigkeit von inaktiven neuroelektrischen Schnittstellen auf. In diesem Zusammenhang führte sie den Begriff einer sogenannten „kill zone“ ein, in der die Neuronendichte auf dem statistischen 10 % Niveau signifikant niedriger als in der Region um die Schnittstelle zu erwarten war (vgl. Kap. 2.2.1.9)[56, 93, 114].

Analog der Gewebsreaktion auf chronisch inaktive Implantate konnten bei aktivierten bzw. elektrisch das umgebende Zielgewebe stimulierenden Mikroelektroden ebenfalls histologische Veränderungen festgestellt werden. In den in der aktuellen Forschung vorliegenden tierexperimentellen Stimulationsstudien fanden sich neben einer Astrozyten- und Gliafaserproliferation sowohl eine deutliche neuronale als auch eine interstitielle Reaktion als Antwort auf die elektrische Stimulation des Zielgewebes[10, 97, 114]

. In unmittelbarer Nähe der aktiven Schnittstellen fielen Neurone durch eine generelle Schwellung und durch eine Hyperchromasie, einhergehend mit

einer Schrumpfung ihres Zellleibs, auf. Im umgebenden Interstitium kam es zu einer ödematösen Anschwellung mit hyperplastischen Gefäßen, gesteigerter Gefäßpermeabilität mit Hämorrhagien unterschiedlichen Ausmaßes sowie einer Einwanderung von Plasmazellen, Fibroblasten, Makrophagen und einer großen Anzahl von Lympho- und Granulozyten.

Um Schädigungsmuster in Kaninchenhirnen durch chronisch implantierte inaktive Kunststoffelektroden klassifizieren zu können, führte die Arbeitsgruppe um Stensaas und Stensaas 1976 eine histologische Typeinteilung der Gewebsreaktion ein[87]. Sie unterschieden dabei drei Typen von penetrierten Zielgeweben:

Typ 1 war durch eine fehlende Schädigung, allenfalls eine dezente Gliose charakterisiert.

Typ 2 fiel durch eine reaktive astrozytäre Zone um das Implantat auf

und

Typ 3 wies eine kompakte Bindegewebsschicht zwischen der reaktiven astrozytären Zone und dem Implantat auf, wobei eine Verdrängung von Neuronen um mehr als 100 µm von der Schnittstelle erkennbar war.

Aufbauend auf dieser Typisierung nahm das Forschungsteam vom Huntington Medical Research Institute 1998 eine dreiteilige Gradeinteilung der Gewebsreaktion vor[123]. Agnew und McCreery integrierten hierbei auch die von ihnen beschriebenen funktionellen Veränderungen durch aktive chronisch implantierte neuroelektrische Schnittstellen im ZNS wie SIDNE bzw. SANR:

Grad 1 ist durch eine (vorübergehende) Depression der neuronalen Erregbarkeit (SIDNE, SANR) ohne histologisch nachweisbare Gewebeschädigung gekennzeichnet,

Grad 2 ist durch histologische Veränderungen charakterisiert, die nicht zwangsläufig auf eine neuronale Schädigung hinweisen (z.B. Einwanderung von Lymphozyten in das Zielgewebe um die elektrische Schnittstelle)

und

Grad 3 weißt hingegen histologische Veränderungen auf, die eindeutig als Schädigungsreaktion des Zielgewebes zu deuten sind und darüber hinaus einen Schwellenanstieg für elektrisch evozierte Potenziale zur Folge haben.

Kapitel 2 Elektrische Schnittstellen im Zentralnervensystem

30 Anhand dieser Klassifikation der Schädigungsmuster können repräsentative Studien zur Gewebsverträglichkeit der elektrischen Stimulation mit penetrierenden Mikroelektroden unterschieden werden (vgl. Tab. 1).

Arbeitsgruppe Stimulations-ort / (2) auftretende Erosion der Kontakte

(3) Klassifikation nach Huntington Medical Research Institute (2)

Tab. 1 Gewebsverträglichkeit der elektrischen Stimulation

Modifizierte tabellarische Darstellung von repräsentativen Studien zur Gewebsverträglichkeit der elektrischen Stimulation mittels penetrierenden Mikroelektroden im ZNS[20].

3 Fragestellung und Zielsetzung

Eine effektive Stimulation mittels neuroelektrischer Schnittstellen ist nur dann durchführbar, wenn die anatomische Zielstruktur durch Elektroden und elektrische Reizung möglichst wenig beeinträchtigt wird. Um dieses Prinzip umzusetzen, müssen zwei grundsätzliche Fragekomplexe beantwortet werden:

Welche Elektrodenmaterialien bzw. -designs sind am besten für eine chronische Implantation geeignet? (Biokompatibilität der elektrischen Schnittstelle) und Bis zu welchen Grenzen ist die elektrische Reizung im ZNS biologisch unbedenklich? (Biokompatibilität der elektrischen Stimulation).

Daraus ergab sich für die vorliegende Arbeit eine doppelt gestaffelte Zielsetzung.

A. Untersuchung der Gewebeverträglichkeit von nicht-stimulierten

A. Untersuchung der Gewebeverträglichkeit von nicht-stimulierten