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3.1 Körperhaltung und Stabilität

3.1.5 Muskuläre Balance und Dysbalancen

Die Körperhaltung des Menschen wird beschrieben durch die räumliche Beziehung der Körperteile bzw. der Skelettelemente zueinander und/oder zur umgebenden Umwelt.

Dabei werden selten einzelne Muskeln bei der Wirkung des aktiven auf das passive Sys-tem betrachtet. Der Blick liegt sowohl auf den synergistisch arbeitenden als auch anta-gonistisch arbeitenden Muskeln in einer gesamten kinematischen Kette (vgl. TITTEL

1994).

Die Körperhaltung erfordert das harmonische Zusammenwirken aller ein Gelenk beein-flussender Muskeln und Strukturen an, insbesondere im Wirken gegen die Schwerkraft (vgl. KLEE 1995A). Diese Zusammenarbeit wird als muskuläre Balance bezeichnet (vgl.

LINDEL 2006). Sie ist gekennzeichnet durch eine physiologisch normale Stellung des Gelenks. Die Aufrechterhaltung dieser Stellung erfolgt durch die, das gelenküberzie-henden, antagonistischen Muskeln und deren Drehkraft Verhältnisse. Das Gelenk befin-det sich somit in einer arthro-muskulären Balanceposition (Abb. 12). Voraussetzung hierfür ist ein einwandfrei funktionierendes Muskel- und Nervensystem. Allerdings kann bei jedem Menschen die Muskelbalance unterschiedlich ausgeprägt sein und sich die Muskelaktivität jederzeit an die aktuell gegebenen Bedürfnisse anpassen (vgl.

LINDEL 2006).

Abbildung 12: Schematische Darstellung des Zustandes einer muskulären Balance und Dysbalance (aus:KLEE 1995A, S. 14). Auf der linken Abbildung ist der Zustand einer muskulären Balance dargestellt.

Die antagonistischen Muskeln A und B halten durch ihr Verkürzungsverhältnis das um den Drehpunkt D drehbare Gelenk im Gleichgewicht. Die mittlere Abbildung zeigt eine muskuläre Dysbalance durch Mus-kelverkürzung. Der Muskel B hat sich einem spezifischen Reiz mit einer höheren Spannung angepasst.

Muskel A ist keinem Reiz ausgesetzt worden, seine Spannung bleibt gleich. Das Verkürzungsverhältnis hat sich verändert, die muskuläre Balance ist gestört. Auf der rechten Abbildung ist eine muskuläre Dys-balance durch Muskelverlängerung zu erkennen. Der Muskel A hat sich einem spezifischen Reiz mit einer niedrigeren Spannung angepasst. Muskel B ist keinem Reiz ausgesetzt worden, seine Spannung bleibt gleich. Das Verkürzungsverhältnis hat sich verändert, die muskuläre Balance ist gestört.

Durch Einflüsse, wie Traumata und Immobilität, wird diese Balance gestört und es tre-ten Dysbalancen auf (Abb. 12). Hierbei wirken negative Kräfte, die zu Verschleißer-scheinungen am Gelenk führen können (vgl. KLEE 1995B). So dominieren uneffektive und belastende Bewegungsabläufe. Die Folge sind Abweichungen des Muskeltonus, strukturelle Veränderungen des Gewebes, Ungleichgewicht zwischen den wirkenden Agonisten und Antagonisten an den Gelenken sowie zwischen den Muskeln in der Muskelschlinge. (vgl. LINDEL 2006,ZIPPRICH 2005). Zudem treten Störungen zwischen

linker und rechter Körperseite sowie Störungen linker und rechter Extremitäten auf (vgl.

ZIPPRICH 2005).

In Bezug auf die Leistungsfähigkeit beschreibt VAN DE VELDE (1995) den Begriff der muskulären Dysbalance als ein Defizit der konditionellen Faktoren im Bereich der Be-weglichkeit, Kraft und Koordination. Demzufolge wird die Belastbarkeit des Bewe-gungsapparates herab gesetzt und es kommt zwangsläufig zu einer körperlichen Leis-tungsminderung.

Muskelfasern werden je nach Neigung unterschieden (Tab. 1) in einen tonischen, postu-ralen Typ, der zur Verkürzung neigt, und einen phasischen Typ, der zur Abschwächung neigt (vgl. LINDEL 2006). Die posturalen Muskelgruppen tendieren unter bestimmten Bedingungen zu einer Tonuserhöhung mit der Folge einer Muskelverkürzung. Phasische Muskelgruppen hingegen tendieren zu einer Tonusminderung mit einer Reduktion der Kraftfähigkeit. Der Vorgang stellt eine normale physiologische Reaktion durch Verän-derung dar, mit dessen Hilfe der menschliche Körper seine arthro-muskuläre Einheit verändern kann (vgl. WYDRA 2000). Im menschlichen Körper liegen ausschließlich Mischformen vor. Trotzdem kann eine Unterscheidung bei gewissen Muskeln aufgrund ihrer Reaktion auf Fehl- und Überbelastungen vorgenommen werden (vgl. VAN DE

VELDE1995).

Tabelle 1: Verteilungsmuster der in der Muskulatur vorkommenden Fasertypen (nach: LINDEL 2006, S.19)

Verteilungsmuster der Muskulatur

Überwiegend Typ I (ST)-Fasern (tonisch, postural) Überwiegend Typ II (FT)-Fasern (phasisch)

Schultergürtel und obere Extremitäten

M. pectoralis major M. levator scapulae

M. trapezius, Pars descendens M. biceps brachii

Mm. rhomboidei

M. trapezius, Pars ascendens und Pars transversa M. triceps brachii

Mm. Scaleni

Rumpf

M. erector spinae (lumbal und zervikal) M. erector spinae (thorakal)

M. quadratus lumborum Mm. abdomines

Becken und untere Extremitäten

M. biceps femoris M. gluteus maximus

M. semitendinosus M. gluteus medius

M. semimembranosus M. gluteus minimus

M. iliopsoas M. vastus medialis

M. rectus femoris M. vastus lateralis

Mm. adductores longus, brevis und magnus M. tibialis anterior

M. gracilis Mm. peronei

M. piriformis M. tensor fasciae latae

M. gastrognemius M. soleus

In den 1990er Jahre wurde der Begriff der neuromuskulären Balance und Dysbalance von FREIWALD & ENGELHARDT eingeführt. Sie begründen ihre begriffliche Weiterfas-sung und Differenzierung darauf, dass die Muskulatur nervös angesteuert und dass auf jede Veränderung der Muskulatur und der zugeordneten Gelenke mit einer entsprechen-den Veränderung des innervierenentsprechen-den Systems reagiert wird. Neben der nervösen An-steuerung erhält die Muskulatur zusätzlich Informationen über den internen Zustand des biologischen Systems, welche über interneuronale Verschaltungen auf die zentrale An-steuerung Einfluss nehmen. Als weitere beeinflussende Faktoren kommen individuelle, psychische und soziale Aspekte hinzu. Dabei stehen das Nerv-Muskel-System, das Bin-degewebe und das humorale System in einem untrennbaren Funktionszusammenhang (vgl. ENGELHARDT & FREIWALD 1996, FREIWALD &ENGELHARDT 1996, 1999).

Die Muskulatur adaptiert schnell an trainings- und umweltbedingte Einwirkungen, was nicht immer den für eine optimale Leistungsfähigkeit geltenden Normwerten entspricht.

Diese biologischen Grundsätze gelten auch für die Entstehung neuromuskulärer Dysba-lancen. Neuromuskulären Dysbalancen entstehen gerade im Hochleistungssport in Sportarten mit ontogenetischer Entwicklung und einseitiger Trainingsbelastung mit Spezialisierungen auf bestimmte Bewegungen oder Positionen (z.B. im Volleyball beim Zuspieler) und Sportarten mit hohem Trainingsaufwand. Im Vergleich dazu sind neu-romuskuläre Dysbalancen bei Sportarten mit natürlichen eher phylogenetisch angeleg-ten Bewegungen selangeleg-tener vorzufinden. Mit der sportlichen Leistungsfähigkeit steigt die tendenziell größere Einseitigkeit der Belastungen. In vielen Bereichen ist eine einseitige

neuromuskuläre Anpassung aber nötig, um Leistungen im Spitzenbereich zu erbringen.

Trainer sollten daher zwischen wünschenswerten, trainingsbedingten und leistungsvo-raussetzenden Adaptationen und nicht wünschenswerten Veränderungen mit schädlicher Wirkung auf den Körper der Sportler unterscheiden können und die Trainingsplanung entsprechend vornehmen (vgl. FREIWALD &ENGELHARDT 1996, 1999).

Genauso fließend wie die Grenzen zwischen gesundheitsförderndem und krankmachen-dem Training sind verschieden Definitionen des Begriffs muskuläre Dysbalance im Umlauf. Eine Besonderheit stellt die Definition von FREIWALD &ENGELHARDT (1999) dar, da diese versucht, die Definition in den Bezug zum Sport zu stellen. Sie fasst zu-dem die wesentlichen Fakten zusammen:

„Die neuromuskuläre Balance im Sport ist durch eine an die spezifischen Anforderungen gebundene Verschiebung der Homöostase mit physiologischer Potenz gekennzeichnet. Da-von betroffen sind die nervösen und/oder humoralen Funktionen und sekundär die Struktu-ren der arthronalen Systeme bzw. das gesamte biologische System. Die physiologische Verschiebung der Homöostase ist instabil und an die dafür verantwortlichen Trainingsreize gebunden. Erst wenn die durch Trainingsreize modifizierte arthro-neuromuskuläre Bezie-hung beschwerdeverursachend, strukturschädigend oder leistungseinschränkend wirkt, kann von einer neuromuskulären Dysbalance gesprochen werden“ (FREIWALD &ENGELHARDT 1999, S.48).