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Das Motiv der „übergossenen Alm“

3. Hans Haid – „Porträt eines Querdenkers“

4.4 Das Motiv der „übergossenen Alm“

Im Alpenraum gibt es zahlreiche Geschichten über Dörfer, die unter dem Eis verschwunden sind. Im Werk „Mythos und Gletscher“ beschreibt Haid das Motiv der „Blümlisalp“219, in Österreich „übergossene Alm“ genannt.220 Dabei handelt es sich um einen internationalen Sammelbegriff für Orte, die durch das Vordringen von Gletscherzungen oder Muren zerstört wurden. Es kann sich um ein Dorf, eine Alm oder ein Haus handeln, die von einer Naturkatastrophe bedroht werden. Historische Eiszeiten sowie Vorstöße und Rückzüge von Gletschern konnten in früheren Zeiten nicht rational erklärt werden, weshalb

transzendente Mächte, die die Menschen bestraften, dafür verantwortlich gemacht wurden.221 Haid

215 Haid, Tanneneh 1986, S. 48, Zeile 26.

216 Siehe: www.sagen.at

217 Adrian Karl, Alte Sagen aus dem Salzburger Land, Wien-Zell am See-St.Gallen 1948, S. 81–82.

218 Siehe: Die Trud, sagen.at, [http://sagen.at/texte/sagen/oesterreich/tirol/brixental/trud.html], eingesehen 01.10.2020.

219 Siehe: Wie Blumen unter das Eis gerieten, [https://myswissalps.ch/story/464], eingesehen 01.11.2020.

220 Hans Haid, Über Gletscherbannungen, Bittgänge, scharfe Gelübde, Kinderprozessionen zum Ferner usw., in: Ist es der Sindtfluss? Kulturelle Strategien & Reflexionen zur Prävention und Bewältigung von Naturgefahren, Reinhard Lackner/Maria Walcher/Roland Psenner (Hrsg.), Innsbruck 2008, S. 73–81, hier S. 79.

221 Christoph Horst, Berg- und Talwärts, Almsagen: Die sündigen Weiberleut, Klimasagen aus dem Alpenraum künden von einer Zeit, in der Eiszeiten noch als göttliche Strafe gedeutet wurden, in: Der Standard, 2011,

[https://www.derstandard.at/story/1319181330272/berg--und-talwaerts-almsagen-die-suendigen-weiberleut], eingesehen 01.09.2020.

greift dabei zurück auf die „Drei Saligen Fräulein“, die in ihren Kristallpalästen im Gletscher wohnten. Sie konnten der Bevölkerung Gutes bringen, aber auch schlechtes Verhalten bestrafen.222 Die mythische Dreiheit von Gletscherfrauen ist im ganzen Alpenraum bekannt.223 Die Bewohner und Bewohnerinnen des Landes beteten vor allem zu Gott und den „Saligen Fräulein“. Diese sollten sie vor Naturkatastrophen beschützen. Sie stehen für die Mütter der Erde und sorgten für Fruchtbarkeit von Land und Mensch. Je nach Region gab es zahlreiche Namen, wie Mater Magna, Tanna oder Donna für sie.224 In vielen Sagen erfolgt die Bestrafung moralisch verwerflichen Handelns durch Gott oder eine höhere Macht.

In dem hier behandelten Typoskript führt der Autor zwei mögliche Ausgänge des Stücks an. Beim ersten Ende beginnt es plötzlich zu schneien. Das Dorf wird mit Seppl und seinen Anhängern unter einer

Schneedecke begraben. In diesem Ausgang besiegelt die Bötin als transzendente Macht das Schicksal des Dorfes.225 Die Handlung folgt dem Motiv „der übergossenen Alm“ oder, besser gesagt, dem des

„übergossenen Dorfes“.

Ein zweiter Vorschlag des Autors ist das Freisetzen der „Schnee-Bakterie“ durch die Bötin. In diesem Fall wäre die vermeintlich gewinnbringende technische Errungenschaft, die „Schnee-Bakterie“, der Auslöser des Untergangs und nicht die transzendente Macht.

4.4.1 Transzendente Mächte

Die Tiroler Sagen über „Frau Hitt“ und „König Serles“ sind nur zwei Beispiele von vielen, in denen verschwenderisches und unmenschliches Verhalten bestraft wird. Für Haid gehören Sagen zum immateriellen Kulturerbe.226

Im Nachlass Haids findet man einen Artikel von Gertrut Krömer, der in der Furche im August 1986 abgedruckt wurde. Dort setzt sie die Überlieferung über die Stadt „Vineta“ in Bezug zur Sage

„Tanneneh“.227

Es handelt sich um eine Stadt an der Ostseeküste, die auch „das Atlantis des Nordens“ genannt wurde.

Deren Bewohner und Bewohnerinnen wurden für ihren ungezügelten Lebensstil und ihre Gier nach Geld bestraft. Die Stadt wurde vom Meer verschluckt und sie warten bis heute auf ihre Erlösung.228

Die Auseinandersetzung mit Naturkatastrophen fand vor allem im ländlichen Raum auf einer religiösen oder mythischen Ebene statt. Gerade am Land war man der Natur eher ausgeliefert als in der Stadt.

Deshalb entwickelten sich vor allem im ländlichen Bereich Praktiken gegen diese Katastrophen. Dort

222 Haid 2004, S. 51+54.

223 Haid 2004, S. 73+158.

224 Haid 1990, S. 148–149.

225 Haid, Tanneneh 1986, S. 80, 3. Akt, Szene 10.

226 Hans Haid, Über Gletscherbannungen 2008, S. 80.

227 Getrut Kröm+er, Vineta in Tirol, in: Die Furche, 22.08.1986, in: Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Hans Haid:

Sig.200-8-7.

228 Siehe: Sage Vineta: [http://www.sagen.at/texte/sagen/deutschland/mecklenburg_vorpommern/vineta.html], eingesehen 01.10.2019.

wurden dem Volksglauben magische Kräfte zugeschrieben.229

Haids Recherchen dazu zeigen, dass vor allem das Verhalten des Gletschers unvorhersehbar war230 und im 17. Jahrhundert Hexenmeister oder „Wettermacher“ dafür verantwortlich gemacht und angeklagt wurden. Besonders in der Periode der „Kleinen Eiszeit“ von 1590 bis 1850 gab es eine rasante Zunahme an Meldungen über das Hexenwesen.231 Zur Bewältigung oder Prävention solcher Naturkatastrophen wurden neben Gott auch Heilige angebetet. Kulturelle Strategien wie Wallfahrten und Bittprozessionen sollten das Dorf und dessen Bewohner und Bewohnerinnen beschützen.232 In Zusammenhang mit dem Drama „Tanneneh“ kann festgestellt werden, dass Haid auf den „Sintflutmythos“ zurückgreift und die nicht Gläubigen, die Sünder, unter dem Schnee begraben werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in den Sagen der Alpen meistens transzendente Mächte Naturkatastrophen bewirkten, um frevelhaftes Verhalten zu bestrafen. Im Christentum wurde großer Wert auf „Schuld und Sühne“233 gelegt und deshalb der Sinn und Zweck dieser Katastrophen mit dem menschlichen Handeln in Verbindung gebracht. In „Tanneneh“ verflucht die Bötin bereits zu Beginn des Stücks das Dorf.

„Ich geb viel her auf diese Weis Verzaubere, und geh dann leis Aus diesem Tal, verfluchtes Nest […]

Morgen sind sie zugeschneit Und bleibens bis in Ewigkeit.“234

Dass die Figur als transzendente Macht wirkt, erfährt man durch die oben angeführte Zeile „Verzaubere, und geh dann leis“. Die Bötin hat übernatürliche Kräfte, welche den plötzlichen starken Schneefall im Hochsommer erklären würden.

Nach näherer Behandlung des dem Stück zugrunde liegenden Motivs und einer ausführlichen

Beschreibung der Sage soll nun das Drama analysiert werden. Zu beantworten ist, inwiefern Haid seine und damit zeitgenössische Tourismuskritik in diesem Werk verarbeitet hat.

229 Gerlinde Haid, Klänge gegen Naturgefahren, in: Ist es der Sindtfluss? Kulturelle Strategien & Reflexionen zur Prävention und Bewältigung von Naturgefahren, Reinhard Lackner/Maria Walcher/Roland Psenner (Hrsg.), Innsbruck 2008, S. 55–72, hier S.

55.

230 Haid, Über Gletscherbannungen 2008, S. 73.

231 Haid, Über Gletscherbannungen 2008, S. 75–76.

232 Elisabeth Bockhorn/Olaf Bockhorn, Von Umgängen, Prozessionen und Wallfahrten, in: Ist es der Sindtfluss? Kulturelle Strategien & Reflexionen zur Prävention und Bewältigung von Naturgefahren, Reinhard Lackner/Maria Walcher/Roland Psenner (Hrsg.), Innsbruck 2008, S. 83–95, hier S. 85.

233 Bernd Rieken, Wütendes Wasser, bedrohliche Berge. Naturkatastrophen in der populären Überlieferung am Beispiel südliche Nordseeküste und Hochalpen, in: Ist es der Sindtfluss? Kulturelle Strategien & Reflexionen zur Prävention und Bewältigung von Naturgefahren, Reinhard Lackner/Maria Walcher/Roland Psenner (Hrsg.), Innsbruck 2008, S. 97–117, hier S. 112.

234 Haid, Tanneneh 1986, S. 57, Zeile 18–23.

5. „Tanneneh – eine alpine Legende“ – Analyse

„[...] eine Politkomödie, eine Kultkomödie, eine Tragikomödie, eine Satire, ein widerliches Spiel, ein großer Spaß, ein Ärgernis, ein Denkanstoß und überhaupt ein Schauspiel anno 1995.“235 So bezeichnet Hans Haid sein Stück und lässt die genaue Einordnung von „Tanneneh“ offen. Zuordnen kann man sein Stück zu den „kritischen“ Volksstücken, womit er sich zwischen weiteren Vertretern der Gattung, wie Peter Turrini, Rainer Werner Faßbinder, Martin Sperr und Felix Mitterer, einreiht. Die Wende hin zum kritischen Volksstück markiert Ödön von Horváth, der das Volksstück in eine neue Form bringen wollte. Mit dem Theaterstück „Geschichten aus dem Wienerwald“ aus den 1930er Jahren demaskiert er die Klischees des gemütlichen Wieners und zeigte die Alltagsprobleme des Volks auf.236 Seine Protagonisten entnahm er aus dem zeitgenössischen Volk und stattete diese mit einer künstlichen und überzogenen Umgangssprache, dem sogenannten „Bildungsjargon“, aus. Die Intention seiner Stücke war die „Demaskierung des Bewusstseins“, so dass der Zuschauer und die Zuschauerinnen sich selbst in den Figuren erkennen konnten.237 Sein Volkstheater ist ein Lehrtheater und kritisierte Probleme der Gesellschaft. Dabei zeigte er einfache Charaktere, die in für das Publikum durchschaubare

Konfliktsituationen gerieten.238 Die Kritik richtete sich gegen die Verursacher sozialer

Abhängigkeitsmechanismen, wie sie bereits Ludwig Anzengruber ansprach.239 Die Stücke Horváths wurden häufig als Anti-Volksstücke bezeichnet, die das Gegenmodell zu unterhaltenden und

anspruchslosen Volksstücken waren. Anzengrubers Motiv „Dorf als Modell“ und Horváths neue Idee vom

„kritischen Volksstück“ wurden in den 1970er und 1980er Jahren von Haid, Mitterer und weitere Autoren und Autorinnen wieder aufgenommen. Die beliebteste Form des Volksstücks war der Drei- und Vierakter. In den 1980er Jahren kamen Themen wie die Kritik am Fremdenverkehr mit seinen

Auswirkungen auf soziale Strukturen und die Umwelt dazu.240

Laut Gerhard Kluge macht das Volksstück in erster Linie die Wirklichkeit anschaubar.241 Es behandelt einen Ausschnitt aus dem Leben des Volks. Viele Figuren und häufige Szenen- und Ortswechsel sind Merkmale der Gattung. Es werden Mittel wie Lieder beziehungsweise Couplets verwendet, um das Publikum miteinzubeziehen. Das klassische Stück spielt in einer Provinz und thematisiert zeitgenössische

235 Hans Haid, Tanneneh, Kühlboxen zum Transport […], in: Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Hans Haid: Sig. 200-8-1.

236 Thomas Schmitz, Das Volksstück, Stuttgart 1990, S. 43–50.

237 Ebd., S. 43–50.

238 Mertz 1985, S. 39–40.

239 Holger Sandig, Spielstile des kritischen Volkstheaters, in: Das zeitgenössische deutschsprachige Volksstück, Akten des internationalen Symposiums, University College Dublin, 28. Februar – 02. März 1991, Ursula Hassel/Herbert Herzmann (Hrsg.), Tübingen 1992, S. 23–34, hier S. 27–28.

240 Mertz 1985, S. 102.

241 Gerhard Kluge, Ist das neue Volksstück' noch ein Volksstück? Vorüberlegungen zu einer Frage, Unter Mitarbeit von Labroisse, Gerd/Knapp, Gerhard. Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Amsterdam 1988., S. 337.

gesellschaftliche, politische und geschichtliche Spannungen.242

Haids „Tanneneh“ lässt sich durch einige Merkmale in die Gattung „Neues Kritisches Volksstück“

einordnen. Das Drama ist ein Dreiakter, in dem ein Szenenwechsel im zweiten und ein Ortswechsel im dritten Akt stattfindet. Der Dorfplatz ist der Hauptort der Handlung, welcher nach jedem Zeitsprung leicht verändert wird. Der zunächst in einer zeitgenössischen Form ausgestattete Platz befindet sich fünf Jahre Später in einer Umbauphase, bevor er schlussendlich zehn Jahre darauf als Supertourismus-Ort gezeigt wird.

Haid greift auf das übliche Themenrepertoire der 1980er Jahre zurück. Das Aufzeigen von Folgen des Massentourismus wie das Entstehen von Abhängigkeiten im Tourismus, die Chancenlosigkeit der Jugend und die Umweltzerstörung durch Bescheiungsanlagen und Kunstschnee, waren Themen dieser

Volksstücke.243 Dabei legte er den Fokus auf den Ausverkauf materieller und immaterieller Güter. Er verarbeitet darin vorwiegend real gehaltene Reden der vergangenen Jahre. Sein Ziel war es, die vorherrschende „Pervertiertheit“ möglichst authentisch zu präsentieren.

Laut Georg Forcht ist ein Merkmal des Volksstücks eine starke Kontrastwirkung im Drama. 244 Die Figuren in Haids Stück stehen im Kontrast zueinander, sei es durch ihr Äußeres, den Sprachstil, aber vor allem durch ihre klischeehaften Charakteristika.

Damit seine Botschaft bei den Zuschauern und Zuschauerinnen ankam, war dem Autor die Identifikation des Publikums mit den Figuren und der Handlung sehr wichtig. Der musikalische Rahmen unterstützte nochmals die Message. Dafür fertigte Haid eine Liste mit traditionellen Liedern an, welche mit neuen Texten versehen wurden. Nachstehend ein kleiner Auszug daraus:

„Is schiaßn die Schützn, es schpeibt der Verein die Trachtler marschieren dem Fahn hinterdrein“

„Beton und die Lobby, Franz Josef dazua

der Strauß und der Stecher, dann habts a Rua“245

Diese Verbindung von traditionellem Liedgut und Texten, die sich auf aktuelle Themen bezogen, intensivierte die vom Autor gewünschte Identifikation. Dabei nahm er Bezug auf einen von Dr. Luis Zingerle verfassten Artikel aus dem Jahr 1980. Dieser schrieb, dass der traditionelle Gesangsverein, wie beispielsweise der in Brixen, eine Kraftquelle sei, aus der die Muttersprache und das Liedgut gepflegt werden sollten. Verfällt das Musikleben, würde ein bedeutender Zweig der Volkskultur verfallen.246 Auffallend bei den Liedtexten ist das Miteinbeziehen von namhaften Politikern, den Schützenvereinen und der Baulobby. Wie Andreas Lechner, ein Mitglied der Band „Guglhupfa“, mitteilte, wurden die Texte

242 Ebd., S 336–338.

243 Mertz 1985, S. 102.

244 Georg W. Forcht, Frank Wedekind und die Volksstücktradition. Basis und Nachhaltigkeit seines Werks, Freiburg 2012, S. 7.

245 Hans Haid, Gstanzln, in: Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Hans Haid: Sig. 200-8-6.

246 Luis Zingerle Dr., Vom Wert unseres deutschen Liedes, Juli/August 1980, S. 177, in: Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Hans Haid: Sig. 200-8-6.

in Zusammenarbeit mit Haid neu geschrieben. Im letzten Akt vertonte Lechner ein Lied mit einer neuartigen Techno-Musik.247

Nachdem das Drama als „kritisches Volksstück“ eingeordnet und der musikalische Rahmen kurz

angerissen wurde, soll nun die „Dramatis Personae“ kurz beschrieben werden, bevor der Ausverkauf der Heimat im Werk thematisiert wird.