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Die metaphysisch-dynamische Erklärungsart des Begriffs der Materie Kants Anliegen ist es, Newtons Mechanik auf die Basis einer dynamischen

Im Dokument Begriff und Konstruktion (Seite 76-79)

5. Der Begriff der Konstruktion in Kants Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft

5.4. Die metaphysisch-dynamische Erklärungsart des Begriffs der Materie Kants Anliegen ist es, Newtons Mechanik auf die Basis einer dynamischen

Naturphilosophie zu stellen, zu deren metaphysischen Grundannahme es gehört, der Materie wesentlich eigene Grundkräfte zuzuschreiben. In der "Vorrede" der MANW vertritt Kant die These, daß 'alle Naturphilosophen, welche in ihrem Geschäfte mathematisch verfahren wollten, sich jederzeit (obschon sich selbst unbewußt) metaphysischer Prinzipien bedient hätten.'(17) Kant geht es nicht nur darum, diesen 'unbewußten' und daher unkritischen Gebrauch metaphysischer Prinzipien auf erkenntnistheoretische Mängel hin zu untersuchen. Er versucht darüber hinaus aus der Art, wie sich der Rückgriff auf metaphysische Prinzipien als notwendig ausweisen läßt, Argumente für den Vorrang für das von ihm gegen die Atomisten verfochtene Materiemodell zu gewinnen.

"So konnten also jene mathematische Physiker metaphysischer Prinzipien gar nicht entbehren, und unter diesen auch nicht solcher, welche den Begriff ihres eigentlichen Gegenstandes, nämlich der Materie, a priori zur Anwendung auf äußere Erfahrung tauglich machen, als des Begriffs der Bewegung, der Erfüllung des Raums, der Trägheit, u.s.w." (17)

Der Begriff der Materie ist dann 'a priori zur Anwendung auf äußere Erfahrung tauglich', wenn er in objektiver Beziehung bestimmt ist. Die objektive Bestimmung folgt aus der 'Durchführung' des Begriffs in den ersten drei Hauptstücken der MANW, nämlich aus der Bestimmung der Materie als des Beweglichen im Raume (Phor.Erkl.1), das einen Raum erfüllt (Dyn.Erkl.1) und als solches bewegende Kraft hat (Mech.Erkl.1). Die Reihenfolge dieser Bestimmungen ist Ausdruck eines Bedingungsgefüges, nach dem die Dynamik die phoronomische Erklärung, die Mechanik wiederum die dynamische Erklärung 'voraussetzen'(47, 100). Diese Zuordnung der Hauptstücke gibt Aufschluß über die Funktionen, die die phoronomische und dynamische Erklärung des Begriffs der Materie im

Begründungsgang der MANW haben: Zwar wird der Begriff der Materie im Kontext der Prinzipien dessen, was zum Dasein eines Dinges gehört, entwickelt, jedoch in Begriffen, die in der objektkonstituierenden Funktion quantifizierbar sind. Die Erklärung der Bewegung als Größe in den MAPhor soll daher 'zum Behuf der angewandten Mathematik' aufzeigen, wie 'die Regeln der Verknüpfung der Bewegungen durch physische Ursachen, d.h. Kräfte, rein mathematisch' beschrieben werden kann.(34)

Diese Kräfte, deren Wirkweise in den MAMech unter dem Stichwort 'Mitteilung der Bewegung' abgehandelt wird, sind von den in den MADyn eingeführten Grundkräften der Repulsion und Attraktion zu unterscheiden. Die Wirkweise solcher Kräfte erfordert Kant zufolge nämlich die Annahme von Grundkräften, da erst deren Konflikt und gegenseitige Einschränkung so etwas wie 'Raumerfüllung' (das, was die Atomisten als 'das Solide' schon zu den wesentlichen Eigenschaften der Materie zählen) uns begreifen lassen. Wenn der Mathematiker nun das Solide "als ein erstes Datum der Konstruktion des Begriffs der Materie, welches sich selbst nicht weiter konstruieren lasse", annehme (49), dann benutze er eine ontologische Hypothese, die im Unterschied zur metaphysisch-dynamischen Erklärungsart "die Richtigkeit der unserer Vernunfterkenntnis vergönneten Elemente der Konstruktion" (75) nicht gewährleisten könne. Die folgenden Untersuchungen sollen zeigen, wie Kant den von ihm behaupteten Vorrang der metaphysisch-dynamischen Erklärungsart begründet und welche Funktion der Konstruktionsbegriff bei diesem Begründungsversuch erfüllt. Aus den Analysen zu Absicht, Durchführung und Grenzen dieser Erklärungsart geht hervor, daß Kant in den MANW keinen anderen Begriff als den der mathematischen Konstruktion anwendet.

Die Priorität der dynamischen Erklärungsart in der Naturwissenschaft verdeutlicht Kant

"an der vornehmsten aller ihrer Aufgaben, nämlich der Erklärung einer ins Unendliche möglichen spezifischen Verschiedenheit der Materien"(95), d.h. der Erklärung der Möglichkeit der spezifischen Dichten von Materien. Zur Lösung des Problems verfüge man über "nur zwei Wege"(95): Die Atomistik erkläre die unterschiedlichen Dichten

"durch Verbindung des Absolutvollen mit dem Absolutleeren" (96) und bedürfe also der Annahme leerer Räume zwischen den Atomen. Diese Konzeption habe den Vorteil leichterer Anwendung der Mathematik, da sich die Möglichkeit der Konfigurationen und der leeren Zwischenräume 'mit mathematischer Evidenz' dartun lasse.(85) Doch werde dieser Vorteil um den Preis unhaltbarer Annahmen erkauft. Die mathematisch-mechanische Erklärungsart postuliere nämlich den 'leeren Begriff' der absoluten Undurchdringlichkeit der primitiven Materie, die absolute Gleichartigkeit des Stoffes sowie die absolute Unüberwindlichkeit des Zusammenhangs der Materie in den Grundkörperchen, die bloß durch die spezifische Gestalt voneinander unterschieden seien.

Zudem seien alle der Materie eigenen Kräfte aufzugeben.(85, 96f.)

Diese Annahmen geißelt Kant als "Schlagbaum für die herrschende Vernunft", die so "auf dem Polster dunkler Qualitäten zur Ruhe gebracht werde"(95). So versucht Kant "die erste und vornehmste Beglaubigung" des atomistischen Systems dadurch zu erschüttern, daß er eine Möglichkeit aufzeigt, "sich einen spezifischen Unterschied der Dichtigkeit der Materien ohne Beimischung leerer Räume zu denken"(97). Er schlägt den der Atomistik 'entgegengesetzten' dynamischen Weg ein, "durch die bloße Verschiedenheit in der

Verbindung der ursprünglichen Kräfte der Zurückstoßung und Anziehung alle Verschiedenheiten der Materien zu erklären." (96)

Die Voraussetzung dafür sieht Kant in einem 'transzendentalen Beweis' (A173f. B215), in dem er die Unmöglichkeit der Erfahrung leerer Räume aufweist und (ohne bereits auf das Konfliktmodell zweier Grundkräfte zu rekurrieren) einen Weg vorzeichnet, der die prinzipielle Vereinbarkeit der dynamischen Erklärungsart mit der kritischen Theorie des Erkenntnisvermögens aufweisen soll. Diesen Beweis führt Kant im 'Antizipationen der Wahrnehmung' genannten zweiten Grundsatzkapitel, das "die zweite Anwendung der Mathematik [...] auf Naturwissenschaft" begründen soll.37

"Das erste jener physiologischen Grundsätze subsumiert alle Erscheinungen, als Anschauungen im Raum und Zeit, unter den Begriff der Größe, und ist sofern ein Prinzip der Anwendung der Mathematik auf Erfahrung. Das zweite subsumiert das eigentlich Empirische, nämlich die Empfindung, die das Reale der Anschauungen bezeichnet, nicht geradezu unter den Begriff der Größe, weil Empfindung keine Anschauung ist, die Raum oder Zeit enthielte, ob sich gleich den ihr korrespondierenden Gegenstand in beide setzt; allein es ist zwischen Realität (Empfindungsvorstellung) und der Null, d.i. dem gänzlich Leeren der Anschauung in der Zeit, doch ein Unterschied, der eine Größe hat, da nämlich zwischen [...] jedem Grade der Erfüllung des Raumes und dem völlig leeren Raume, immer noch kleinere Grade gedacht werden können [...]; daher keine Wahrnehmung möglich ist, welche einen absoluten Mangel bewiese, [...] weswegen der Verstand so gar Empfindungen, welche die eigentliche Qualität der empirischen Vorstellungen (Erscheinungen) ausmachen, antizipieren kann, vermittelst des Grundsatzes, daß sie alle insgesamt, mithin das Reale aller Erscheinung Grade habe, welches die zweite Anwendung der Mathematik (mathesis intensorum) auf Naturwissenschaft ist."38

Der Grundsatz setzt voraus, daß sich etwas findet, "was sich an jeder Empfindung, als Empfindung überhaupt, (ohne daß eine besondere gegeben sein mag,) a priori erkennen läßt". (A167 B209) So soll der Grundsatz die graduelle Bestimmtheit des Realen oder der Qualität der Erscheinungen ausweisen, die einer Empfindung an einem Gegenstand korrespondiert. Antizipierbar ist nicht eine Mannigfaltigkeit von Empfindungen, die graduelle Unterschiede ihrer intensiven Größe aufweisen. Antizipierbar ist allein die intensive Quantität des Realen; von Größen überhaupt läßt sich nur ihre Kontinuität a priori aussagen.(A176 B218)39

Aufgrund der Beobachtung, daß die Quantität der Materie (Masse) unterschiedlicher Art bei gleichem Volumen veränderlich ist, folgern die Atomisten: "dieses Volumen (extensive Größe der Erscheinung) müsse in allen Materien, obzwar in verschiedenem Maße, leer sein." Diese Ansicht baut nach Kant auf der nicht ausgewiesenen metaphysischen Annahme, daß das Reale im Raum "allerwärts einerlei" sei und der spezifische Unterschied der Materien also auf das Volumen zurückgeführt werden müsse. Kant kritisiert, "daß man fälschlich das Reale der Erscheinung dem Grade nach als gleich, und nur der Aggregation und deren extensiven Größe nach als verschieden annehme"(A175 B216) und somit den spezifischen Unterschied der Materien vom Volumen abhängig macht.

37 P §24: AA IV 307 = WW III 174.

38 P §24: AA IV 306f. = WW III 173f. Nach der Formulierung der 2. Aufl. der KrV lauten der erste und zweite Grundsatz des reinen Verstandes "Axiome der Anschauung [...]: Alle Anschauungen sind extensive Größen." (B202) "Antizipationen der Wahrnehmung [...]: In allen Erscheinungen hat das Reale, was ein Gegenstand der Empfindung ist, intensive Größe, d.i. einen Grad." (B207)

39 Vgl. Cramer (1985) 205, 210f.

Kants Alternative ist in der KrV nur in vagen Strichen angedeutet. Danach soll aus der graduellen Bestimmtheit des Realen der Erscheinungen, gemessen am Moment des Widerstands oder Wiegens(A174 B216), die Verschiedenheit der Dichtigkeit der Materien volumenunabhängig hergeleitet werden. Kant weist jedoch darauf hin, daß sein Vorschlag bloß hypothetische Geltung hat: "Meine Absicht ist hier keineswegs, zu behaupten: daß dies wirklich mit der Verschiedenheit der Materien, ihrer spezifischen Schwere nach, so bewandt sei".(A174f. B216) Vielmehr wolle er bloß die Möglichkeit einer alternativen Erklärungsart, die mit den Theoremen der kritischen Theorie des Erkenntnisvermögens kompatibel sei, aufzeigen. Damit habe diese Erklärungsart, wie er in den MANW hervorhebt, den Vorzug, "die Naturphilosophie, so weit als es immer möglich ist, auf die Erforschung der dynamischen Erklärungsgründe zu leiten, weil diese allein [...] wahren Vernunftzusammenhang der Erklärungen, hoffen lassen." (98f.)

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