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Marxistische Debatten: Antonio Gramscis „società civile“ und die Erneuerung sozialistischer Theorie

Im Dokument Rosa-Luxemburg-Stiftung Manuskripte 59 (Seite 187-192)

Zur Karriere und Widersprüchlichkeit eines demokratietheoretischen Konzepts

2. Marxistische Debatten: Antonio Gramscis „società civile“ und die Erneuerung sozialistischer Theorie

Antonio Gramsci ist einer der profiliertesten italienischen Theoretiker der Marxismus. Der Großteil seines theoretischen Werkes entstand im Gefäng-nis, wo er 1937 starb. Diese schwierigen Umstände mögen auch dafür verantwortlich sein, dass sein Werk eine relativ geringe Geschlossenheit aufweist und sehr unterschiedlich interpretiert werden kann. Es besteht aber insofern Einigkeit, dass er bedeutende Modifikationen an Karl Marx‘ Basis-Überbau-Theorem vornimmt und mit dem Begriff der „società civile“ einen Gegenentwurf zum ökonomistisch verkürzten Verständnis der „bürgerlichen Gesellschaft“ konstruiert, das insbesondere den orthodoxen Marxismus der II. Internationale kennzeichnet (vgl. Klein 2001: 116, Kebir 1991: 48ff.).

Seine Intention war es, marxistische Positionen zu aktualisieren und das Scheitern der revolutionären Bewegungen und Aufstände im Westen Europas – im Unterschied zur gelungenen Revolution in Russland – zu erklä-ren. In orthodox-marxistischer Fassung hätte die Revolution in westeuro-päischen Staaten aufgrund ihres Entwicklungsstandes viel eher gelingen müssen als im industriell „rückständigen“ Zarenreich (vgl. Emtmann 1998:

47ff.).

Das Konzept Zivilgesellschaft diente ihm als Erklärungsvariable: Das Vorhandensein einer öffentlichen gesellschaftlichen Sphäre, die nicht der ökonomischen Basis (bzw. Marx‘ „bürgerlicher Gesellschaft“) zuzurechnen, jedoch jenseits der „politischen Gesellschaft“ und dem Staatsapparat ange-siedelt ist, habe die revolutionären Bewegungen der Arbeiter und Bauern letztlich zum Stillstand gebracht und als Stabilitätsfaktor der bürgerlichen Gesellschaft gewirkt. Eine solche Sphäre existierte in Westeuropa in Form von mehr oder minder unzensierter Presse, Wissenschaft, Kultur, Assozia-tionen etc. Einen schwach kulturell verankerten Staat Russland konnte daher eine gut organisierte Arbeiterschaft relativ leicht im „Bewegungskrieg“

besiegen, während die Aufstände in Westeuropa in einem „Stellungskrieg“

innerhalb der Zivilgesellschaft endeten (vgl. Buttigieg 1994: 540ff., Jehle 1994: 515). Gerade in der Weimarer Republik stand die Arbeiterbewegung einer in weiten Teilen reaktionären und autoritären Zivilgesellschaft gegen-über, von militaristischem Denken in Verbänden und Vereinen und sym-bolisch militarisierten Sprechen gekennzeichnet, was sich bis in die und in

den Organisationen der Arbeiterbewegung reproduzierte (vgl. Brieler et al.

1986: 64f., Reichardt 2004b: 224ff., ).

Auf der Ebene der Zivilgesellschaft kämpfen unterschiedliche Akteure um kulturelle Hegemonie,1 um die Vorherrschaft bestimmter Deutungen in einem „nur auf Zeit stabilen Zustand in einem Feld beständiger Kämpfe“

(Keller 2004: 28, vgl. Haug 2003: 858). Kulturelle Hegemonie wirkt, in dem durch sie die bestehenden Herrschaftsverhältnisse als quasi-natürlich, selbst-verständlich, Konsens oder Notwendigkeit erscheinen, als zentraler gesell-schaftlicher Stabilitätsfaktor, der die Anwendung von unmittelbarem Zwang als Mittel der Durchsetzung allgemeinverbindlicher Regeln und der Herr-schaftssicherung im Idealfall weitgehend obsolet macht (vgl. Heins 2002: 31, Kebir 1991: 69f.). Während Gramsci den autoritären Staat nicht für fähig hält, neue Produktionsmethoden dauerhaft zu verankern, sieht er in der Zivilgesellschaft die Möglichkeit zu einer demokratischen Steuerung moderner Gesellschaften angelegt, die einerseits weitgehend auf Zwangs-mittel verzichten kann, andererseits die Triebstrukturen der Menschen gesellschaftlichen Regeln unterordnet, und somit für ihn innerhalb der Möglichkeit des Sozialismus ein Gegenmodell zum russischen Regime der

„Militarisierung der Arbeit“ (Heins 2002: 32) eröffnet. An bestehenden Zivilgesellschaften in kapitalistischen Gesellschaften formuliert er eine Kritik als überaus anti-emanzipatorisches Zusammenwirken zwischen Wissenschaft, Staatsapparat und anderen öffentlichen Institutionen, betrach-tet sie aber zugleich als den Ort, von dem emanzipatorische Momente ausge-hen können, die, sofern ihre alternativen Deutungen weder in den herr-schenden Konsens integriert noch unterdrückt werden können, eine poten-zielle Gefahr für die Herrschaftsverhältnisse darstellen (vgl. Demirovic 1991: 44). Die Zivilgesellschaft ist somit dem Kern der politischen Herr-schaft vorgelagert, sie bildet den kulturellen Unterbau des Staates und muss, sofern sie existiert, „erobert“ werden, bevor alternative Gesellschafts-entwürfe institutionell verankert werden können. Somit sind aus seiner Perspektive die revolutionären Bewegungen in Westeuropa gescheitert, da es nicht gelang, eine kulturelle Gegenhegemonie in der Zivilgesellschaft

1 Hegemonie ist bei Gramsci als „nicht bloß herrschaft im sinne von gewalt und repression“ (Brieler et al 1986: 63), als arbeitsteilige Klassenherrschaft zu verstehen, die einerseits auf einer bestimmten ökonomischen Basis, Kontrolle über das Produkutionsverhältnis, beruht, andererseits in den Überbauten auf politischer Hegemonie (Vorherrschaft im Staatsapparat), welche jedoch über die kulturelle Hegemonie oder Konsens (Vorherrschaft in Deutungskämpfen, auf die etwa juristische, religiöse, wissenschaftliche und politische Praxen einwirken) abgesichert wird (vgl. Brieler et al 1986: 62).

bauen, bzw. über den Kommunikationsraum Zivilgesellschaft den „Alltags-verstand“ der Menschen insoweit zu verändern, dass ein revolutionäres Projekt erfolgreich hätte sein können (vgl. Kebir 1991: 113).

Diese Konzeption von Zivilgesellschaft verknüpft den Begriff also anders als viele spätere, nicht primär mit Demokratie und Freiheit, sondern mit einer Form der Herrschaftsausübung, nämlich der Herstellung von kultureller Hegemonie oder Konsens über die Herrschaftsform (vgl. Jehle 1994: 520f., Buttigieg 1994: 533). Er beinhaltet aus kritisch-materialistischer Sicht unter-schiedliche Aussagen über die Beschaffenheit der Zivilgesellschaft und ihr Verhältnis zu den anderen gesellschaftlichen Sphären, die auch ihr Potenzial für emanzipatorische gesellschaftliche Veränderungen bestimmen:

- Die Zivilgesellschaft als pluraler, konflikthafter Raum des Kampfes um Deutungshoheiten ist historisch flexibel und eigenständig handlungsfähig, und im Gegensatz zu den herrschenden Interpreta-tionen von Marx‘ bürgerlicher Gesellschaft nicht einseitig und mecha-nisch durch die ökonomische Basis determiniert, sondern steht in komplexen Interdependenzverhältnissen zu Staatsapparat und Öko-nomie, die sich in der Zivilgesellschaft auf eine spezifische Weise, nämlich als Konsens, ausdrücken (vgl. Alheit 1994: 601).

- Die Zivilgesellschaft ist kein geschlossener Akteursraum, sondern eine analytische Unterscheidung, die „die funktionelle Dimension hegemo-nierelevanter Aktivitäten in allen Bereichen der Gesellschaft bezeich-net“ (Haug 1999: 49). Sie besitzt dementsprechend auch kein homo-genes Ziel und ist grundsätzlich von Ungleichheit der kommunikativen Mittel durchzogen. Wenn auch alle gesellschaftlichen Strukturen als Akteure der Zivilgesellschaft in Frage kommen, sollten „Assozi-ationen“ oder „Korpor„Assozi-ationen“ als der spezifische Akteurstypus betrachtet werden, von dem gegenhegemoniale (emanzipatorische, sozialistische) Projekte ausgehen könnten und müssten (vgl. Jehle 1994: 515, Buttigieg 1994: 540ff., Kebir 1991: 58ff.).

- Der Staatsapparat reagiert flexibel auf Herausforderungen durch die Zivilgesellschaft: die Herrschaftsausübung im Staat besteht entsprechend nicht in der mechanischen Durchsetzung von Interessen der „herrschenden Klasse“, sondern in einer Vermittlung zwischen Allgemeininteresse und besonderen Interessen bzw. im Herstellen einer Balance zwischen Zivilgesellschaft, ökonomischer Basis und Staat (vgl. Kößler/Melber: 72, Kebir 1991: 58ff).

- Akteure handeln in der Zivilgesellschaft nicht unabhängig von ihrer Klassenlage oder ihrer Position in der „bürgerlichen Gesellschaft“. Die Deutungskämpfe in der Zivilgesellschaft beinhalten somit immer auch Aspekte des „Klassenkampfes“. Akteure der Zivilgesellschaft sind zugleich als Akteure der politischen Gesellschaft zu betrachten, insofern die Auseinandersetzung um kulturelle Hegemonie oder gesell-schaftliche Konsense und der Kampf um Interessenrepräsentation auf politisch-institutioneller Ebene parallel laufen (vgl. Kebir 1991: 69).

Dem gegenüber steht als utopisches Modell die „società regulata“, welche jedoch einerseits sehr unbestimmt ist, andererseits auf wesentliche theore-tische Vorbehalte trifft. Die hiermit verknüpfte Vorstellung der Absorbtion des Staates in die Zivilgesellschaft steht in offensichtlichen Kontrast zu solchen späteren Konzeptionen von Zivilgesellschaft, die aufgrund der grundsätzlichen Konflikthaftigkeit sozialer Beziehungen und der zuneh-menden funktionalen Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften keine universalistische Perspektive der Selbstregulierung für denkbar halten (vgl.

Demirovic 1991: 51). Im Konzept der „società regulata“, so Klein, scheint eine totalitäre Perspektive auf, die in der Stellung des „organischen Intellek-tuellen“, welcher einen avantgardistischen Führungsanspruch begründet, angelegt ist. Gramsci habe sie „eher als eine re-integrierte Staatsgesellschaft denn als eine pluralistische, demokratische Zivilgesellschaft“ (2001: 115) verstanden und scheue offenbar eine endgültige Ablösung von sowjetischen Konzeptionen (vgl. Klein 2001: 114ff.). Alex Demirovic betont im Konzept der „società regulata“ hingegen ein grundlegend anderes Moment: In einer konflikthaft anzunehmenden Gesellschaft könnte die (konsensuale) zivil-gesellschaftliche Regelung bestimmter Fragen „vom Zwang zur Politik befreien – nicht um in Stumpfsinn und privatisierende Apathie zu verfallen, sondern um die markt- und zivilgesellschaftliche Drohung, möglicherweise zu kurz zu kommen, zu überwinden“ (1991: 52).

Während Klein resümiert: „Die hier aufgezeigten Einschränkungen machen es unmöglich, in Gramscis Konzeption der Zivilgesellschaft eine grund-legende Überwindung der Marxschen Aporien zu sehen“ (Klein 2001:

115f.), sieht z.B. Peter Alheit

„eine hochinteressante Variante des Marxschen Konzepts. [Es]

schließt an die Klassiker an und geht doch deutlich über sie hinaus. Die Idee einer ökonomisch und politisch zwar determi-nierten, zugleich aber handlungs- und reaktionsfähigen zivilen

Gesellschaft könnte ein kritisches Korrektiv für die aktuellen Auseinandersetzungen um die Zivilisierung moderner Gesell-schaften werden“ (1994: 600f.).

In diesem Sinne benutzen z.B. Kößler und Melber (1993), Emtmann (1998) und Haug (2003) es in Bezug auf die aktuellen Kontexte der Zivilgesell-schaftsdiskussion. Darin bietet das Konzept der „società civile“ Anwen-dungsmöglichkeiten

- als Erklärungsmodell für gesellschaftliche Stabilität oder Instabilität sowie Bedingungen eines Systemwandels im Sinne einer „sanften Revolution“, wie es Anette Emtmann (1998) in Bezug auf Mittel- und Osteuropa konzipiert,

- als Kritik der normativen Konzeptionen von Zivilgesellschaft in Hinblick auf die etwa bei Rödel/Frankenberg/Dubiel und Habermas nur untergeordnet behandelte Frage nach der materiellen Fundierung von Demokratie, wie sie Reinhart Kößler und Henning Melber (1993, vgl. insbes. 84ff.) in Bezug auf die Chancen einer „Internationalen Zivilgesellschaft“ ausarbeiten,

- als Revision marxistischer Positionen und eine Argumentation gegen etatistisch geprägte Revolutionstheorien und Reformdiskussionen. Als Diskussionsgrundlage zu Fragen der möglichen institutionellen Verfasstheit egalitärer Gesellschaften ist daher für Konzeptionen eines

„demokratischen Sozialismus“ von Bedeutung (vgl. Bobbio 1988a/b, Klein 2001: 116ff.).

Auch Helmut Dubiel hält, wie Norberto Bobbio, Gramscis Modifikationen am marxistischen Gedankengebäude für durchaus anschlussfähig an die radikalreformerischen Konzeptionen der neueren Debatte, in Hinblick auf

„die historisch überhaupt nicht ausgeschlossene Möglichkeit, den Kapita-lismus bis zu seiner Unkenntlichkeit zu zivilisieren“ (1994: 28). Gramsci habe vorgeschlagen,

„den staatlich vermittelten Kapitalismus nicht als ein homo-genes, feindlich besetztes Territorium zu konzipieren, sondern als bewegtes Kompromißfeld verschiedener Klassen und Gruppen, die unter Rekurs auf die Normen des bürgerlichen Verfassungsstaates um Vorherrschaft streiten. Antonio Gramsci hat diese Deutung zur Grundlage einer sozialistischen Strategie gemacht, welche die klassische Unterscheidung von Reform und Revolution unterläuft“ (1994: 27).

Mit Antonio Gramscis Konzeption der „società civile“, so lässt sich resü-mieren, ist die utopische Perspektive der Gesellschaft als notwendige Über-windung eines vor allem materielle Ungleichheit stützendem Herrschafts-komplexes aus kapitalistischer Ökonomie und bürgerlich-bürokratischem Staatsapparat und der Weg hierhin in der Schaffung einer kulturellen Gegen-hegemonie innerhalb der Zivilgesellschaft zu konzipieren. Die empirische Bestimmung der Zivilgesellschaft ist dabei weitgehend abgelöst von einer akteurslogischen Eingrenzung, wie sie neuere Definitionen oft beinhalten:

Reale Zivilgesellschaft ist wesentlich funktional bestimmt als der Raum kommunikativer Konfliktaustragung, und nicht wie etwa in der republika-nischen Demokratietheorie an ethische Konzeptionen des „Bürgers“ ange-bunden – normativ unterscheidet die Zivilgesellschaft eigentlich nichts von anderen Sphären. Strukturell hingegen beinhaltet die Sphäre Zivilgesellschaft hingegen die Möglichkeit der Erlangung kultureller Macht, die in gewissem Maße autonom von politisch-instrumenteller und ökonomischer Macht ist und jene stützen, aber auch delegitimieren kann.

3. Von den Neuen Sozialen Bewegungen zu demokratietheoretischen

Im Dokument Rosa-Luxemburg-Stiftung Manuskripte 59 (Seite 187-192)