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Kritische Psychologie: Bestimmung eines emanzipatorischen Standpunktes für psychologische Theorie und Praxis

Im Dokument Rosa-Luxemburg-Stiftung Manuskripte 59 (Seite 107-111)

Subjektwissenschaftliche Kritik eines postmodernen Konzepts

2. Kritische Psychologie: Bestimmung eines emanzipatorischen Standpunktes für psychologische Theorie und Praxis

Die "Grundlegung der Psychologie" (GdP) ist ein theoretischer Gesamt-entwurf zur Bestimmung des eigentlichen Gegenstandes der Psychologie:

dem Subjekt. Mit Bezug auf marxistische Herangehensweisen der Theorie-bildung leitet Holzkamp hier den Menschen als schon in seinen paläoanthro-pologischen Ursprüngen vergesellschaftetes Wesen her. Der Mensch – als Gattungswesen und als Individuum – ist ohne die Gesellschaft nicht vorstell-bar, ist immer schon ein Produkt der Gesellschaft und gestaltet diese ihn formende Gesellschaft zugleich mit. Daraus ergeben sich prinzipiell quasi unbegrenzte Möglichkeiten an Daseinsqualität und Individualitätsent-wicklung. Denn die zunehmenden gesellschaftlichen Fähigkeiten, durch Natur- und Gesellschaftsverständnis die Lebensbedingungen zu gestalten, können ein hohes Maß an Sicherheit und Freiräumen für die einzelnen gewährleisten. Voraussetzung für diese 'potenzielle Daseinsqualität' des Individuums ist freilich, von den gesellschaftlichen Möglichkeiten auch profitieren zu können. Deswegen kann Holzkamp die Verfügung des Indivi-duums über seine eigenen Lebensbedingungen in Teilhabe an der Verfügung über den gesellschaftlichen Prozess als personale Handlungsfähigkeit und diese als "erstes Bedürfnis" des Menschen bestimmen (vgl. GdP, 241ff).

Damit ist nicht nur ausgesagt, dass jedes noch so spezifische Bedürfnis erst aus der Eingebundenheit in eine Gesellschaft/Kultur entsteht und durch sie befriedigt werden kann. Vor allem geht es um die Einsicht, dass menschliche Bedürfnisbefriedigung bedeuten kann (und damit bedeutet), dass die Befrie-digung nicht von glücklichen Fügungen oder dem Wohlwollen anderer abhängen muss, sondern mittels Teilhabe an der Verfügung über den gesell-schaftlichen Prozess jedeR auch den Zugang zu den Quellen der Bedürfnis-befriedigung hat und damit prinzipiell angstfrei leben kann! Das ist m.E. der anthropologisch-emanzipatorische Kern des Subjektbegriffs der Kritischen Psychologie. 1

Die Kritische Psychologie ist zum einen – in den 1970er Jahren aber auch später noch – in der Auseinandersetzung mit dem Reiz-Reaktions-Paradigma des Behaviorismus entwickelt worden. Im Behaviorismus wird der Mensch

1 Hier werden natürlich gesellschaftstheoretische Voraussetzungen der Kritischen Psychologie deutlich, die ja grundsätzlich die Möglichkeit radikal-demokratischer Vergesellschaftung behauptet, was auf

als 'Organismus' betrachtet, der sich immer nur als Objekt äußerer Bedingungen 'verhalten' kann. So wird schon im grundlegendsten aller Begriffe das Wesentliche des Menschen gar nicht erfasst, nämlich Subjekti-vität im eben beschrieben Sinne als den Bedingungen unterworfenes aber diese Bedingungen zugleich gestaltendes Individuum. Auch von daher begründet sich die Betonung der Kritischen Psychologie als Subjektwissen-schaft.2 Zum anderen war die Erarbeitung der Theorie auch eine Auseinandersetzung mit der (Freudschen) Psychoanalyse. Mit der theorie-geleiteten Herleitung psychologischer Grundbegriffe konnten die psycho-analytischen Kategorien wie Trieb, Konflikt, Über-Ich etc. als theoretische Reproduktion und Legitimation gegenwärtiger gesellschaftlicher Herrschaft, also Beschränkung menschlicher Möglichkeiten kritisiert werden. Der Subjektbegriff der Kritischen Psychologie soll demgegenüber eine Befreiungsperspektive aufzeigen, also die theoretische Begründung und begrifflichen Mittel liefern, psychisches Leiden als Resultat (kapitalistischer) Herrschaftsverhältnisse begreifen zu können.

Der gesellschaftstheoretische (und gesellschaftskritische) Bezug der Kritischen Psychologie liegt vor allem im zentralen Begriffspaar Restriktive-Verallgemeinerte Handlungsfähigkeit. Daran schließen sich Begriffe wie

"Selbstfeindschaft", "Unbewusstes", "Instrumentalbeziehungen" an. Stoß-richtung und Gehalt dieser Kategorien lassen sich gut in Abgrenzung zur psychoanalytischen Theorietradition erläutern. In der Psychoanalyse sind die Abwehrmechanismen und das Unbewusste teils notwendiger Anteil der individuellen Entwicklung und Lebensbewältigung, teils traumabedingte Entwicklungsblockaden. Im letzteren Fall kommt es darauf an, durch eine therapeutische Beziehung beim Patienten funktionale Affektstrukturen aufzubauen bzw. soweit zu stärken, dass das Individuum die Realität symptomfrei verarbeiten kann.3 Die subjektwissenschaftliche Kritik4 sieht in dieser Logik das Einfallstor für die Personalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse, unter denen das Individuum leidet: Symptome zeigen eine Unzulänglichkeit des Individuums an, ein Sozialisationsdefizit, das ggf.

2 Ich verwende im folgenden der Einfachheit halber "Subjektwissenschaft" oder

"subjektwissenschaftlich" für Bezüge auf die Kritische Psychologie, ohne anderen Ansätzen ihren subjektwissenschaftlichen Charakter absprechen zu wollen. Genauer versteht sich der Ansatz vor allem aus methodologischen Implikationen seines Subjektbegriffs als "Psychologie vom Standpunkt des Subjekts", worauf ich hier nicht näher eingehen kann.

3 Das heißt, dass die Beziehung Eltern-Kind in der Beziehung TherapeutIn-PatientIn in gewisser Weise reinszeniert wird.

4 Natürlich ist ähnliche Kritik an der Psychoanalyse von anderen Ansätzen formuliert worden, nicht zuletzt in der Psychoanalyse-Rezeption der Kritischen Theorie.

therapeutischer Bearbeitung bedarf. Der Konflikt liegt dort innerhalb des Individuums. Demgegenüber verweist das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, wie es in den subjektwissenschaftlichen Begriffen verankert ist, auf die restriktiven Bedingungen, unter denen die meisten Menschen im Kapitalismus leben. Die Kritische Psychologie sieht also in zentralen Begriffen der Psychoanalyse ideologische, irreführende Denkweisen, die unser Weltverständnis bestimmen und dabei das Verhältnis von subjektiven Problemen und herrschaftsförmigen Lebensbedingungen verklären.5

In der subjektwissenschaftlichen Perspektive liegen die individuellen psychischen Probleme, die sich in psychopathologischen Symptomen, Realitätsabwehr und Unbewusstem manifestieren, in unbefriedigten (Entwicklungs-)Bedürfnissen oder in deren 'Zurichtung'. Dies verweist auf den zentralen Konflikt zwischen dem Leiden unter Restriktionen einerseits und der Angst vor Aufbegehren andererseits. Handlungsfähigkeit zu wahren, kann in restriktiver Weise erfolgen, indem ich mich anpasse, mich arrangiere, versuche, mit den Mächtigeren gut auszukommen u.ä. Auf diese Weise verfüge ich aber nicht selber über die Bedingungen, die für meine Bedürfnisse/Entwicklung bedeutsam sind, sondern bleibe abhängig vom Wohlwollen anderer. Ich handele so nicht in meinem wohlverstandenen Interesse, denn ich werde, da ich mich anderen ja ausliefere, zum Feind meiner selbst. Weil ich dies natürlich nicht bei vollem Bewusstsein – sozu-sagen "sehenden Auges" – tun kann, unterliegen alle Wahrnehmungen, die mich auf die Widersprüche meiner Handlungsweise hinweisen, der Abwehr.

So kann ich versuchen, schwelende Angst zu leugnen oder als 'neurotische' Angst abzuwehren; ich kann negative Erfahrungen anderer in ähnlichen Lebenssituationen als deren Unzulänglichkeiten abtun und so 'von mir fern halten'. Die nachhaltige Überwindung von Restriktionen meiner Entfal-tungsmöglichkeiten bzw. meiner Angst, in der Auseinandersetzung mit mächtigeren Personen/Instanzen 'alles' zu verlieren, verlangt in der Regel die Kooperation mit anderen Menschen. In ihrer je individuellen Situation sind diese ebenfalls von Auswirkungen spezifischer (kapitalistischer) Verhält-nisse betroffen. Von daher ist es einsichtig, wenn Holzkamp die nicht-restriktive, Isolation überwindende Bewältigung krankmachender Lebens-situationen als verallgemeinerte Handlungsfähigkeit bezeichnet (vgl. GdP, v.a. 367ff).

5 Eine umfassende Reinterpretation der Freudschen Psychoanalyse vom Standpunkt der Kritischen Psychologie hat Ute Holzkamp-Osterkamp (1976/1990, Kap. 5) vorgelegt. Siehe außerdem Aumann

Die allgemeinen Bestimmungen subjektwissenschaftlicher Grundbegriffe strukturieren die Wahrnehmung konkreter psychologischer Phänomene in der beschriebenen Richtung. Der genauere Gehalt der Begriffe erschließt sich in ihrem Gebrauch, das heißt in ihrer argumentativen und praktischen Verwendung. In Hinblick auf die psychologische Praxis, wo psychologische Theorien sich ja 'bewähren' sollen, ergibt sich allerdings das prinzipielle Problem, dass in subjektwissenschaftlicher Stoßrichtung Menschen zu kooperativem Handeln und Widerstand gegen restriktive Lebensbedingungen ermutigt werden sollen, obwohl das System der psychosozialen Versorgung grundsätzlich individualisierend wirkt und auf Anpassung der Individuen abzielt. Die kritisierten Denkweisen der traditionellen Psychologie (Psycho-analyse, humanistische Therapie, Verhaltenstherapie, Diagnostik usw.) entstanden und existieren ja in ihrer Eigenart gerade aus dem Druck heraus, Menschen an Verhältnisse anpassen zu sollen. Dies schlägt sich auch in den Rahmenbedingungen (Recht, Institutionen) für diese Arbeit nieder. Subjekt-wissenschaftliche Berufspraxis müsste also eigentlich – tendenziell – darauf abzielen, den berufspraktischen Rahmen ihres Handelns zu sprengen. Es ist allerdings eine für jedes Handlungsfeld im einzelnen zu klärende Frage, welche theoretischen Konzepte (z.B. der psychoanalytische Traumabegriff) und welche institutionellen Bedingungen (z.B. psychiatrische Tagesklinik) in welcher Weise – und inwieweit – emanzipatorischen Bemühungen im Wege stehen. Schließlich 'funktionieren' diese Institutionen und diese Theorien irgendwie, sie bieten also Handlungsspielräume, Menschen zu helfen, die man spätestens dann (schon berufsethisch) verpflichtet ist zu nutzen, wenn man sich auf die Institutionen einlässt.

Der emanzipatorische Standpunkt der Kritischen Psychologie zeichnet sich im Kern also dadurch aus, dass Gesellschaft und Individualität nicht per se als Konfliktverhältnis begriffen werden, wie es z.B. in der Freudschen Psychoanalyse der Fall ist. Vielmehr ermöglicht die menschliche Fähigkeit bewusst-kooperativer Umwelt- und Lebensgestaltung die Befriedigung indi-vidueller Bedürfnisse ("Triebe" müssen also nicht unterdrückt werden).

Symptome der Person werden als Defizite der gesellschaftlichen Lebens-bedingungen erkannt. Die Notwendigkeit, diese zu ändern, um (Entwicklungs-)Bedürfnisse befriedigen zu können, ist im Begriff

"Handlungsfähigkeit" erfasst. Dabei ist bedeutsam, dass Verfügung über bedeutsame Lebensbedingungen weder 'gar nicht' noch 'absolut' gegeben sein kann, so dass das Maß der Gewinnung an Handlungsfähigkeit als

Grad-messer für den emanzipatorischen Gehalt von Handlungsorientierungen gelten kann.6

Im Dokument Rosa-Luxemburg-Stiftung Manuskripte 59 (Seite 107-111)