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Der Anfang einer gesellschaftskritischen Theologie

Die Armen und die Fähigkeit, Mensch zu werden

2. Der Anfang einer gesellschaftskritischen Theologie

Das oben zitierte Gespräch stammt aus den Erinnerungen von Gustavo Gutierréz. Gutiérrez ist katholischer Theologe und Sozialwissenschaftler aus Peru und hat wesentlichen schöpferischen und gestaltenden Einfluss auf diejenige gesellschaftskritische lateinamerikanische Denkströmung ausgeübt, die ab den 70er Jahren unter der Bezeichnung „Befreiungstheologie“ bekannt wurde.2

2.1 Theologisch denken: dogmatisch oder geschichtlich

Die Befreiungstheologie ist eine bestimmte Art des theologischen Denkens und Arbeitens, die in Lateinamerika in Abgrenzung und Kritik von „traditi-onellen“ theologischen Ansätzen entsteht. Ihre Rezeption findet ent-sprechend der konfessionellen Prägung des Kontinents hauptsächlich im katholischen Bereich statt - wenn auch starke Verbindungen mit anderen

2 Siehe das Grundlagenwerk: Gustavo Gutiérrez, Theologie der Befreiung, Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz, 10., erweiterte und neubearbeitete Auflage, 1992.

konfessionellen Gruppen existieren.3 TheologInnen, die befreiungs-theologisch arbeiten, kritisieren die traditionelle katholische Theologie als

„dogmenorientiert“, als „ortho-dox“.4 Man wirft ihr vor, theologische Behauptungen willkürlich festzulegen bzw. sie einfach aus der theologischen Tradition zu übernehmen, dabei aber nicht die Lebenswirklichkeit der Menschen zu berücksichtigen, die als so genannte „historische Wirklichkeit“

vor jeder dogmatischen Wahrheit liegt. Die theologischen Behauptungen seien „a priori“ angestellt, ohne eine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zu haben, und dass würde die traditionsorientierte Theologie dazu nutzen, bestehende Machtverhältnisse zu unterstützen und zu deren und ihren eigenen Gunsten strukturelle Ungerechtigkeiten ideologisch zu rechtfertigen.

Damit aber würde sie ihre eigenen Wurzeln verraten, in denen Gerechtigkeit da stattfinden würde, wo die Witwen und Waisen Aufmerksamkeit und Zuwendung bekämen, weil Gott für sie Partei ergreife.

VertreterInnen der Befreiungstheologie begannen demgegenüber, ein

„geschichtlich-historisch“ orientiertes theologisches Denken zu entwickeln.

Sie stellen die Lebenswirklichkeit der Menschen in das Zentrum ihres theo-logischen Denkens, und konzentrieren sich den biblischen Leitlinien entspre-chend auf diejenigen Menschen, die in Armut und Elend leben. Sie versu-chen, theologisches Denken in Übereinstimmung mit der Bedürftigkeit dieser Menschen und nicht den Ansprüchen der Macht zu entwickeln.

Theologie gilt für sie nicht mehr als „orthodox“, sondern sie muss

„orthopraktisch“ sein: es geht nicht darum, „Gesetze“ zu befolgen, sondern das Leben der bedürftigen Menschen gegenüber solchen „Mächten“, die sich in der menschlichen Geschichte absolut setzen, zu Wort kommen zu lassen.

Die Geschichtsbezogenheit charakterisiert diese Theologie mehr als eine Dogmentreue.

Diese Theologie steht deshalb an keiner „ersten Stelle“ mehr – weder im Kanon der Wissenschaften noch in den Vorlesungsverzeichnissen – sondern an „zweiter Stelle“, sie ist der konkreten Lebenswirklichkeit bedürftiger Menschen, ihrer gelebten „Erfahrung“ nachgeordnet; ihre Worte haben nur

3 Tatsächlich liegen die Wurzeln der Befreiungstheologie in Auseinandersetzungen zwischen TheologInnen protestantischer (evangelischer, methodistischer, reformierter etc.) und katholischer Konfession, die aus der sogenannten 1. und 3. Welt stammten. Von protestantischer Seite wären z.B.

Jürgen Moltmann, Rubem Alves und Hugo Assmann zu nennen, für die katholische Seite Gustavo Gutiérrez und Johann Baptist Metz.

4 Franz Hinkelammert, Kultur der Hoffnung. Für eine Gesellschaft ohne Ausgrenzung und

Sinn, wo sie dazu dienen, den Sinn von deren Leben zu transportieren. Das entsprechende theologische Arbeiten kann folglich auch nicht in Form einer

„selbstgenügsamen“ Wissenschaft durchgeführt werden, sondern es wird immer versuchen, mit anderen Gesellschaftswissenschaften zu kooperieren – und zwar mit denjenigen, die die Lebens- und Todeswirklichkeit der bedürf-tigsten Menschen am besten aufzeigen können. Die Befreiungstheologie ist selber keine Gesellschaftswissenschaft – aber sie ist eine Wissenschaft, die wie jede andere dazu dienen kann, die menschliche Lebenswirklichkeit zu verstehen. Insofern Wissenschaft versuchen will, verschiedene Dimensionen der menschlichen Wirklichkeit aufzuzeigen, besteht die Aufgabe der Theologie als Wissenschaft darin, die „theologische Dimension“ der geschichtlichen Wirklichkeit aufzuzeigen – die weder „Methodologie“ noch

„Metarahmen“ der Gesellschaftswissenschaften ist, sondern deren „Gegen-stand“ oder „Feld“ das „Transzendente“ ist, die Fähigkeit des Menschen zu transzendieren, Transzendenz verschiedener Art wahrzunehmen („Gott des Lebens“/ „unsichtbare Hand des Marktes“), und das als konkreter geschicht-licher Mensch zu tun.

Diese „theologische Dimension“ der geschichtlichen Wirklichkeit sah man in den 70er Jahren im Kontext der lateinamerikanischen Länder vor allem da, wo die Armen – wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich ausgeschlossene Menschen – in steigender Anzahl den sensiblen Menschen ins Gesicht blickten und die damals aktuelle Gesellschaftsorganisation in Frage stellten.

2.2 Der Geburtsort der Befreiungstheologie

Den Kontext für diese thematische Konzentration stellt das Lateinamerika der ausgehenden 60er, Anfang der 70er Jahre dar. Der von Diktaturen gebeutelte Kontinent hatte seit den 50er Jahren versucht, im Rahmen seiner kürzlich gewonnenen Unabhängigkeit in seiner wirtschaftlichen Entwicklung zügig voranzukommen, was aufgrund der großen Armut als ein absolutes Muss verstanden wurde.

Verschiedene wirtschaftstheoretische Entwicklungsmodelle wurden propa-giert, um zu einer Lösung der gesellschaftlichen Probleme zu kommen.5 Die

5 Siehe hierzu u.a. Publikationen der Autoren Franz-J. Hinkelammert sowie Jung Mo Sung; beide beschäftigen sich intensiv mit dem wirtschaftspolitischen Kontext, der am Grund der Befreiungstheologie liegt und Anlass für ihr Entstehen wird; beide zeigen in anschaulicher Weise auf, inwiefern bestimmte befreiungstheologische Themen – die Götzendienerei, Schuldenfrage, Menschenrechte – in Reaktion auf diesen Kontext aufkommen und ihre Relevanz als Antwort auf den Kontext haben.

populärste Rolle spielte dabei die so genannte Dependenztheorie, denn sie machte deutlich, dass die Armut nicht einfach konjunktureller Art war (fehlende Modernität, im Sinn der „Modernisierungstheorie“, d.h. desar-rollismo/desenvolvimentismo), sondern ein strukturelles Problem darstellte.

Durch diese Behauptung wurden alle konjunkturell ansetzenden Lösungs-vorschläge als oberflächlich bzw. kaschierend kritisiert. Man erkannte an, dass es innerhalb der gegebenen asymmetrischen Strukturen des Kapita-lismus, die als solche die Unterentwicklung förderten, keine Möglichkeit gab, eine Entwicklung mit wirtschaftlicher und sozialer Integration zu schaffen. So versuchte man, andere Alternativen vorzuschlagen. Zuerst dachte man an die Möglichkeit, eine wie auch immer geartete nicht-kapita-listische Entwicklung durchzuführen, später kamen konkrete Modelle eher sozialistischen Profils ins Gespräch.

Diese Diskussionen wurden von der Mehrheit der BefreiungstheologInnen mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Sie befanden sich auf der Seite derje-nigen Menschen, die reichlich Erfahrungen mit der Ineffizienz kapitalis-tischer Strukturen und ihrer Logik gemacht hatten, und die deshalb versuch-ten, sich an dem Aufbau einer „anderen Gesellschaft“ zu beteiligen. Diese sollte sich dadurch auszeichnen, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der unteren Bevölkerungsgruppen angehen und sie lösen zu können. Die TheologInnen teilten aber auch die Ansicht der Dependenztheorie, dass eine solche Gesellschaftsveränderung nur mit Hilfe von strukturellen Verände-rungen erreicht werden könnte, die tatsächlich an die Wurzeln des kapita-listischen Systems greifen würden.

Aus theologischer Sicht stellte sich die Frage nach der Verbindung zwischen Glaube und Politik, zwischen Glaube und gesellschaftlichem Handeln. In sehr verkürzter Fassung6 lässt sich sagen, dass man zu der Einsicht kam, dass der theologische Diskurs den Skandal der Armut in der lateinamerikanischen Wirklichkeit nicht genügend zur Kenntnis nahm. Die theologische Tradition sprach in Anlehnung an die Bergpredigt (Evangelium des Matthäus, Kapitel 5 - 7) von den „geistig Armen“, denen das „Gottesreich“ sicher sei, und verlegte diese Sicherheit gerne auf das erwartete Leben nach dem Tod. Das Lateinamerika der 60er Jahre jedoch stellte einen solchen Skandal dar, dass ein Verschleiern durch theologische Wahrheiten und damit ein Aufschub von Lösungsversuchen eher einem Verbrechen gleichzukommen schien, als der

6 Für eine ausführlichere Darstellung siehe das bereits zitierte Buch von Gustavo Gutiérrez, Theologie

Versuch, die theologischen Ideen nicht mehr in Himmelshöhen zu suchen, sondern deren Wurzeln und Pflanzen auf dem Erdboden menschlicher Tatsachen zu säen und versorgen.

Diese Erkenntnis fand auf kirchlich-institutioneller Ebene in zwei Konfe-renzen ihren Niederschlag, in Medellín/Kolumbien 1968 und Puebla/Mexico 1979. Die hier versammelten lateinamerikanischen Bischöfe versuchten, die Herausforderung der Armut als Thema für die katholische Kirche zu formu-lieren. Aus ihren Diskussionen erwuchs ein Motto, das von nun an die Arbeit der lateinamerikanischen und Basis-verpflichteten Kirchen prägen würde: