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Mit dem Heranwachsen von Kindern verlieren die Eltern als wichtige Instanz zur Stabilisierung und Sicherung eines positiven Selbstbildes und Selbstwertgefühls nicht an Bedeutung. Jugendliche orientieren sich bei ihrer Selbsteinschätzung an der Einstellung, von der sie glauben, daß ihre Eltern sie ihnen gegenüber hegen (vgl. Gecas & Schwalbe,

1986). Zusätzlich gewinnen jetzt die Gleichaltrigen und Freunde an Bedeutung (vgl. van Aken & Asendorpf, 1997).

In den Interviews wird deutlich, daß die Befragten sich in ihren Ursprungsfamilien bereits in der frühen Kindheit wenig geborgen und angenommen fühlten. Der Eindruck der eher schwachen Bindung an die Eltern setzte sich im Jugendalter fort. Das zeigt sich unter anderem darin, daß die meisten Interviewpartner als Kinder oder Jugendliche ein oder mehrmals von zu Hause fortgelaufen sind oder daran gedacht haben, was für eine

„frühzeitigere Lösung vom Elternhaus“ spricht (Verthein & Degkwitz, 1999, 77). Im Gegensatz zu der eher negativen Konnotation von Verthein und Degkwitz, die darin einen Aspekt des Einstiegs in „abweichende Karrieren“ (ebd.) sehen, wird dieses Verhalten hier als ein unter Umständen angemessener Versuch betrachtet, auf eine als sehr belastend erlebte Situation aufmerksam zu machen beziehungsweise sie zu verlassen. Neben der

„Flucht“ vor einer subjektiv schwer oder nicht auszuhaltenden Situation deutet sich die Suche nach einem anderen Lebensumfeld an.

Die aus Sicht der Interviewpartner unzureichende Unterstützung durch ihre Eltern setzte sich in der Präadoleszenz fort. Sie beschrieben ihre Eltern überwiegend als an ihrem schulischen Fortkommen nur wenig, einseitig nur an guten oder schlechten Schulnoten oder ausschließlich an den Zeugnissen interessiert. Befragte mit schwachen schulischen Leistungen erfuhren meist nur wenig Unterstützung durch ihre Eltern, diejenigen mit guten Leistungen wurden dafür nur selten gelobt. Diese Ergebnisse widersprechen nicht denen von Verthein und Degkwitz (1999), die keine Unterschiede bezüglich der „Pläne ehrgeiziger Eltern für ein begabtes Kind“ und der „Schulzentriertheit des Elternhauses“

(ebd., 76) zwischen Opiatabhängigen und Angehörigen einer jugendlichen

„Normalpopulation“ fanden. Den entscheidenden Unterschied machte die Aufmerksamkeit aus, die die Eltern den Jugendlichen entgegenbrachten. Ausbleibende oder nur an bestimmten Resultaten orientierte Reaktionen auf schulische Leistungen vermittelten den Interviewten nicht den Eindruck, daß wirkliches Interesse an ihren Bedürfnissen, Ängsten und Sorgen und damit an ihrer Person bestand. So bildeten auch gute schulische Leistungen für sie keine Möglichkeit, elterliche Anerkennung zu finden und darüber das Gefühl für den eigenen Wert zu stabilisieren.

Die geringe Anerkennung durch die Eltern konnte durch die zweite wichtige Bezugsgruppe, die Mitschüler (Peers), oft nicht kompensiert werden. Etwa die Hälfte der Interviewpartner fühlte sich von ihren Klassenkameraden wenig akzeptiert, was auch durch gute Beziehungen zu anderen Personen, sofern sie bestanden, nicht auszugleichen war (vgl. van Aken & Asendorpf, 1997, 89 f.). Sie nannten dafür verschiedene Ursachen, wie die von den Eltern vorgegebene konservative Kleidung, eigenes unangemessenes Verhalten wie „frech sein“ (METHA w1), aggressives Verhalten gegenüber den Mitschülern oder schlechte schulische Leistungen. Diese Situation trug ebenfalls nicht zur Stabilisierung des Selbstwertgefühls bei, denn „Außenseiter haben im allgemeinen eine

niedrigere Selbstwertschätzung“ (Neubauer, 1989, 524; vgl. auch Iben, 1971, 22). Einige versuchten, die Freundschaft anderer Kinder durch Geschenke zu gewinnen, fühlten sich aber nicht wirklich angenommen.

Mehr als die Hälfte der Befragten schwänzte gelegentlich bis häufig den Unterricht, nicht selten auch alleine. Einige berichteten in Zusammenhang mit dem Fernbleiben von der Schule von ersten delinquenten Handlungen (vgl. auch Bachmann, 1984, 148) oder ersten Kontakten zu Alkohol und/oder Cannabisprodukten. Von ihren Mitschülern unbeachtete wie auch aktiv abgelehnte Jugendliche tragen „ein erhöhtes Risiko, später mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen“ (von Salisch, 2000, 379; vgl. auch Schmidt, 1999, 69). Knecht (1994, 153) spricht von einem „socioscolaren Syndrom“. In einzelnen Fällen führte das Schuleschwänzen zum vorzeitigen Abgang von der Schule. Bei den Teilnehmern am Methadonprogramm wird dieser Zusammenhang besonders deutlich. Die spätere schwache Bindung an das konsensuelle kulturelle Weltbild, wie sie sozialpsychologische Theorien zum Drogenkonsum postulieren (vgl. Scherbaum & Reißner, 2000, 293), deutet sich hier bereits an.

Eine Entwicklung, die bereits in der Kindheit der Interviewpartner begonnen hatte, setzte sich während der Schulzeit fort: Es wurden Erwartungen an sie herangetragen, hier zumindest durchschnittliche schulische Leistungen zu erbringen, ohne daß die dafür erforderliche kontinuierliche Unterstützung gewährleistet schien (vgl. auch Bader, Rohrer, Neuburger & Ganser, 2000, 261, 266; Iben, 1971, 97). Die Theorie der Motivation menschlichen Handelns und Sozialverhaltens postuliert, daß die Übernahme eines kulturellen Weltbildes nicht zum Selbstzweck geschieht, sondern die Funktion erfüllt, den existentiellen Terror auf ein erträgliches Maß zu reduzieren, indem es den Bezugsrahmen bietet, innerhalb dessen sich das Individuum als gut und somit in gewisser Weise geschützt und „unverletzlich“ fühlen kann. Die Schule als zweite wichtige Instanz zur Vermittlung von Selbstwertgefühl, auf intellektueller Ebene durch Leistung und Vermittlung konsensueller Werte sowie auf emotionaler Ebene durch Akzeptanz und Freundschaft mit Gleichaltrigen, bot den Interviewten wie die Bedingungen in ihren Ursprungsfamilien keine hinlängliche Möglichkeit, sich als persönlich wertvoll zu erleben (vgl. auch Krappmann, 1998, 82; Kapitel 2.3.1).

Hinzu kommt, daß die Mehrzahl der Befragten zumindest einen Elternteil als mit seinem Leben unzufrieden erlebte und den Lebensstil der Eltern als wenig sinnerfüllt empfand.

Sie nahmen ihre Eltern überwiegend als an gesellschaftlichen Vorgaben orientiert wahr, an dem, „was sich gehört und was üblich ist“. Heidegger (1993) bezeichnet es als die

„Ausgelegtheit des Man. [...] Diese Auslegung hat im vorhinein die wahlfreien Möglichkeiten auf den Umkreis des Bekannten, Erreichbaren, Tragbaren, dessen, was sich gehört und schickt, eingeschränkt“ (ebd., 194). Aus Sicht der Interviewpartner schienen die Eltern der Beachtung eigener Vorstellungen, Maßstäbe und Interessen nur wenig Raum einzuräumen. Hierin werden möglicherweise ein Mangel an persönlichem Sinn im

Leben der Eltern und deren nur schwacher Schutz vor dem existentiellen Terror deutlich.

Sie suchten wahrscheinlich Sicherheit in einer zu starken Anpassung an die von ihnen antizipierten Erwartungen anderer. Denn „das ‚Man‘ ist ein Zuhause. [...] Die öffentlich geltenden Regeln der Lebensführung beinhalten Antworten auf die den Menschen immer schon beunruhigenden Grundfragen des Existierens“ (Holzey-Kunz, 1987, 60; vgl. auch Iben, 1971, 90). Damit war es ihnen nicht möglich, ihren Kindern als Modell für den sicheren Schutz vor dem existentiellen Terror zu dienen. Im Hinblick auf die elterliche Aufgabe der Sozialisation der Kinder spricht Schmitz-Moormann (1981) in Anlehnung an Habermas von „postkonventionellen Ich-Identitäten“, die selbst „zumindest teilweise

‚entsozialisiert‘ [...] nicht mehr nach Werten leben, die ihr Leben mit Sinn zu erfüllen vermögen“ (ebd., 20 f.), und daher auch nicht mehr imstande seien, entsprechende Werte vorzuleben, die eine subjektive Sinngebung ermöglichen. Die Interviewpartner orientierten sich als Jugendliche weniger an den Einstellungen und Ansichten ihrer Eltern als an ihren eigenen Vorstellungen oder denen ihrer Freunde. Auch zum Interviewzeitpunkt konnten sich die Interviewpartner, mit vier Ausnahmen, nicht vorstellen, zu leben wie ihre Eltern.

Die Interviewten im Methadonprogramm und im Maßregelvollzug berichteten in der Mehrzahl von starkem Alkohol- oder Tablettenkonsum ihrer Eltern. Einige sahen deren Unzufriedenheit mit ihrem Leben in direktem Zusammenhang mit deren Rauschmittelkonsum. Diesen Interviewpartnern standen in der Präadoleszenz und Adoleszenz zusätzlich zu ihrem geringen Selbstwertgefühl „weniger stabilisierende Vorbilder einer nicht-pathologischen Konfliktbewältigung“ (Uchtenhagen et al., 1981, 61) zur Verfügung als Jugendlichen, die später keine Suchtproblematik entwickelten.

Möglicherweise bot sich ihnen hier ein Modell zum Umgang mit der eigenen mangelnden Bedürfnisbefriedigung (vgl. auch Freitag & Hurrelmann, 1999, 19). In dem Versuch, sich gleichzeitig von den Eltern und dem konsensuellen Weltbild abzugrenzen, experimentierten sie später zusätzlich mit illegalen Rauschmitteln.

Die Befragten wurden mit der in sich schon widersprüchlichen Aufgabe, den

„gesellschaftlichen Folgsamkeitsauftrag“ und den „Individuationsauftrag“ (vgl. Eder, 1996, 40) zu erfüllen, alleine gelassen und waren damit offensichtlich überfordert. Die Erfüllung des „gesellschaftlichen Folgsamkeitsauftrags“ mußte ihnen aufgrund ihrer Erfahrungen, die die Entwicklung eines stabilen Selbstwertgefühls auf der Grundlage eindeutiger Verhaltensmaßstäbe nicht zuließen, wenig nutzbringend oder sogar unmöglich erscheinen. Die ihnen vermittelten Verhaltensnormen waren auf unterschiedliche Art unklar: Im Rahmen eines „autoritär-repressiven“ Erziehungsstils (Stosberg, 1981, 11;

Kapitel 2.4.1) wurde ihnen zwar vermittelt, was als allgemein akzeptierte Wert- und Zielvorstellungen gelten kann. Eine Förderung der individuellen Fähigkeiten und Neigungen der Kinder und Jugendlichen fand aber nicht statt. Wohlverhalten wurde zwar erwartet, aber nicht anerkannt. Die Erfüllung der in sie gesetzten Erwartungen ergab damit für sie keinen Sinn, da es ihnen nicht möglich war, auf diesem Weg das Gefühl

persönlicher Wertschätzung zu erlangen. Einigen wurden auch aufgrund einer

„überliberalen“ Erziehung keine klaren Grenzen gesetzt (vgl. Stosberg, 1981, 11; Verthein

& Degkwitz, 1999, 75). Beide Bedingungen führten in Verbindung mit den Kommunikationsstrukturen innerhalb der Ursprungsfamilien zu Orientierungslosigkeit und massiver Verunsicherung den eigenen Wert betreffend.

Die eigenständige Bestimmung über die Berufswahl als einer bedeutsamen Entscheidung für die weitere Lebensgestaltung steht in direktem Zusammenhang mit dem

„Individuationsauftrag“ (vgl. Eder, 1996, 40). Hier stehen Jugendliche beziehungsweise Heranwachsende vor der Aufgabe, einen Beruf zu wählen, der für weite Bereiche ihres Lebens die Funktion eines sinnstiftenden Elements übernehmen soll und kann. Für die individuelle Zukunftsorientierung und Lebensplanung Jugendlicher kommt dabei den Eltern besondere Bedeutung zu (vgl. Neubauer, 1989, 529). Für die Familien der Interviewpartner können zwei Verhaltensmuster der Eltern unterschieden werden, die bereits bei der Beschreibung des Erziehungsstils deutlich wurden. Die meisten der Befragten entwickelten während ihrer Schulzeit eine Vorstellung von einem Beruf, den sie erlernen und ausüben wollten. Die Eltern machten aber rigide Vorgaben bezüglich der Berufswahl der Interviewpartner und lehnten deren Wünsche und Vorstellungen strikt ab.

Dies war insbesondere bei der Gruppe der Ex-User mit Aufgaben im professionellen Drogenhilfesystem der Fall. Den Interviewpartnern im Maßregelvollzug und den Teilnehmern am Heroinvergabeprogramm wurde die Entscheidung überwiegend selbst überlassen, ohne daß ihnen die Eltern beratend oder unterstützend zur Seite standen, wie es Iben (1971, 95) für Eltern beschreibt, die Randgruppen der Gesellschaft angehören.

Einige von ihnen hätten sich rückblickend ausdrücklich mehr Führung durch die Eltern gewünscht. In der Folge nahmen die Befragten überwiegend eine Ausbildung in einem anderen Bereich als dem von ihnen gewünschten oder keine Ausbildung auf. Sofern die Eltern die Initiative ergriffen, vermittelten sie den Jugendlichen einen Ausbildungsplatz, der zufällig angeboten wurde, ohne deren Neigungen und Interessen zu berücksichtigen.

Nur eine Interviewpartnerin schloß eine Ausbildung in ihrem Wunschberuf ab und ging anschließend einer entsprechenden Tätigkeit nach. Der Abschluß einer Ausbildung, selbst wenn sie den eigenen Interessen nicht entspricht, scheint Einfluß auf die langfristige Entwicklung der Drogenkarriere zu nehmen. Mit einer Ausnahme schlossen alle Ex-User mit Aufgaben im professionellen Drogenhilfesystem eine Berufsausbildung ab.

Verthein und Degkwitz (1999) gehen in Zusammenhang mit der schulischen und beruflichen Qualifikation davon aus, daß der Drogenkonsum „eher die Rolle eines

‚Katalysators‘“ spielt (ebd., 76), und fahren fort: „Der nicht bestehende oder niedrige Schulabschluß dürfte die Risiken ‚abweichender‘ Karrieren beim Suchen eines subjektiv sinnvollen Lebensweges beträchtlich erhöhen“ (ebd.). Dies soll hier um den Aspekt ergänzt werden, daß die fehlende oder nicht selbst gewählte berufliche Qualifikation die Gelegenheiten zur Selbstwertstabilisierung und -verwirklichung als Realisierung eigener Ziele weiter reduziert und die Hinwendung zu einer Subkultur fördern kann.

7.3 Zusammenhang zwischen Selbstwertgefühl und Beginn des Drogenkonsums