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Die überwiegende Zahl der Interviewpartner glaubte, kein Wunschkind gewesen zu sein und/oder nicht den Erwartungen ihrer Eltern21 entsprochen zu haben, oder war sich dessen nicht sicher. Diese Angaben lassen den Schluß zu, daß die Voraussetzungen zur Entwicklung eines stabilen Selbstwertgefühls, wie sie die Säuglings- und Kleinkindforschung (vgl. Lorenz, zitiert bei: Grossmann & Grossmann, 1995, 172), die Theorie der Motivation menschlichen Handelns und Sozialverhaltens und die Existentielle Psychotherapie (Yalom, 1989) beschreiben, nicht gegeben waren. Die Interviewpartner hatten in der frühen Kindheit mehrheitlich nicht die Möglichkeit, aufgrund eines bedingungslosen Angenommenseins durch die Eltern ein Gefühl der eigenen Besonderheit und des Schutzes vor dem existentiellen Terror zu entwickeln. Dies führte dazu, daß sie als Jugendliche oder Erwachsene Anerkennung bei den Angehörigen der Drogensubkultur suchten. Denn „die Frage, ob Jugendliche gerade eine solche Gruppe [die der Drogenabhängigen] attraktiv finden und unbedingt in eine solche Gruppe aufgenommen werden wollen, hängt aber wiederum mit der Art und Weise zusammen, wie sie sich selber und ihre Umwelt erleben und ob sie positive oder negative Basiseinstellungen zu sich selbst gewonnen haben. Dieses wiederum ist in den ersten Lebensjahren entschieden worden“ (Seifert, 1999, 278).

Bisherige sozialpsychologische Studien berücksichtigen nicht, wie Drogenabhängige das Verhalten ihrer Eltern in der frühen Kindheit erlebt haben. Sofern in den Interviews der vorliegenden Untersuchung Angaben zu den ersten Lebensjahren gemacht wurden, deuten sie in den meisten Fällen auf einen unsicher-ambivalenten Bindungsstil hin (vgl. Puls-Thorburn, 1983, 304). Hinweise ergeben sich auch aus den Angaben der Interviewpartner zum Erziehungsverhalten ihrer Eltern. Dieses wird spätestens dann relevant, wenn ein Kind über die Möglichkeit verfügt, die Erwartungen anderer zu antizipieren, das eigene Verhalten daran zu orientieren und es gegebenenfalls entsprechend zu modifizieren. Erste Selbsteinschätzungen dieser Art sind bereits während des zweiten Lebensjahres möglich (vgl. Neubauer, 1993, 309). Selbstwertrelevanz besteht ab dem dritten Lebensjahr, wenn es einem Kind möglich wird, das eigene Verhalten unter Berücksichtigung internalisierter Normen zu beurteilen (ebd.). Voraussetzung hierfür ist, daß eindeutige, situationsübergreifende und überdauernde Regeln für das kindliche Verhalten vorgegeben werden.

Die hier befragten Drogenabhängigen beschrieben den Erziehungsstil ihrer Eltern überwiegend als streng, unberechenbar oder verwöhnend. So berichteten sie von Schlägen und Prügeln, deren Grund für sie oft nicht zu erkennen war, und/oder plötzlichen,

21 Im folgenden wird zur besseren Lesbarkeit ausschließlich von den Eltern gesprochen, wenn die primären Bezugspersonen in der Kindheit gemeint sind, auch wenn es sich in Einzelfällen um alleinerziehende Mütter, Großeltern, Pflegeeltern oder Heimerzieher handelt. Neun Interviewpartner wuchsen zumindest zeitweise nicht bei ihren leiblichen Eltern auf.

unvorhersehbaren Stimmungsumschwüngen der Eltern. In zahlreichen Fällen wurden die Eltern in der Erziehung als inkonsistent erlebt. Dies lag zum Teil daran, daß sich ein Elternteil nicht am Erziehungsprozeß beteiligte und dem anderen die Führung überließ oder versuchte, die Strenge des Partners zu kompensieren, was von den Betreffenden oft als nicht ausreichend konsequent erlebt wurde. Für die Validität der unter retrospektivem Blickwinkel geschilderten Erfahrungen der Interviewpartner sprechen unter anderem die Ergebnisse von Puls-Thorburn. Die Eltern ihrer ausschließlich weiblichen drogenabhängigen Interviewpartner verwendeten bei ihren Erziehungsmethoden deutlich mehr „stark angsterzeugende Bestrafungsmethoden (schlagen, drohen, anschreien) als für die seelische Entwicklung förderliche Erziehungsmethoden wie Lob oder Erklärungen“

(Puls-Thorburn, 1983, 305) als die der nichtabhängigen Kontrollgruppe. Sie berichteten, auch seltener Erklärungen oder eine Korrektur ihres Verhaltens erhalten zu haben.

Elterliche Unterstützung durch Erklärungen hingegen fördert bei Kindern und Jugendlichen die Entwicklung einer positiven Einstellung zu sich selbst (Openshaw et al., 1984, 269). Die Eltern Drogenabhängiger werden häufig in dieser Weise beschrieben (Streit, Halsted & Pascale, 1974, 752; Uchtenhagen, Zimmer & Widmer, 1981, 62).

In jedem Fall waren für die Interviewpartner der vorliegenden Untersuchung die Möglichkeiten, aufgrund der Wertschätzung durch signifikante andere ein sicheres Gefühl für den eigenen Wert zu erreichen, bereits früh stark eingeschränkt. Von ihnen wurde in vielen Fällen erwartet, auf die Bedürfnisse der Erwachsenen einzugehen, was ihnen den Eindruck vermittelte, ihre Bedürfnisse und Eigenheiten seien von geringerer Bedeutung als die der anderen. Gleichzeitig hatten sie dadurch kaum die Möglichkeit, sich in für sie beängstigenden Situationen an die Eltern als „letzte Retter“ zu wenden. Das zweite wiederholt beschriebene Muster bestand darin, ihnen widersprüchliche oder ungenaue Verhaltensregeln vorzugeben, was die Möglichkeiten zur Modifikation des eigenen Verhaltens im Sinne der Erfüllung der antizipierten Erwartungen bedeutsamer anderer äußerst begrenzte. Vor diesem Hintergrund erschienen die Voraussetzungen für die Entwicklung eines klaren Selbstbildes und stabilen Selbstwertgefühls deutlich reduziert, da die Individualität der Kinder wenig wahrgenommen wurde und ihnen kaum Orientierungsmöglichkeiten für die Einschätzung des eigenen Verhaltens als situationsadäquat zur Verfügung gestellt wurden. Darüber hinaus war es für sie schwierig, sich selbst als „gut“ und „wertvoll“ und die Welt als einen gerechten Ort mit vorhersagbaren Regeln zu erleben und darüber einen individuellen Schutz gegen den existentiellen Terror zu entwickeln.

Die überwiegende Zahl der Befragten gab an, sich in ihrer Kindheit wenig geborgen, einsam und/oder unverstanden gefühlt zu haben. Die einzige Ausnahme bildeten die Interviewpartner im Maßregelvollzug. Nur drei von ihnen fühlten sich nach eigener Aussage wenig geborgen. Hier könnte eine Rolle spielen, daß sie, angeregt durch die Maßnahme, eine erneute Annäherung an ihre Ursprungsfamilie anstrebten und sich daher an frühere negative Empfindungen und Erlebnisse teilweise nicht erinnerten oder nicht

darüber berichteten. Für eine situationsbedingte Verleugnung negativer Erfahrungen und Gefühle spricht auch, daß sie ausnahmslos nicht glaubten, als Kind den Erwartungen ihrer Eltern entsprochen zu haben.

In der Kindheit der Befragten wurde überwiegend wenig über Empfindungen und Bedürfnisse der Familienmitglieder gesprochen oder aufrichtiges Interesse am anderen gezeigt. Ähnliche Kommunikationsstrukturen von Drogenabhängigen zeigen sich auch in anderen Untersuchungen. So berichtet Puls-Thorburn (1983) von weniger positiver und mehr negativer „Fremdbekräftigung“ durch die Eltern Drogenabhängiger (ebd., 304).

Uchtenhagen et al. (1981, 62) beschreiben, daß Drogenabhängige sehr viel seltener glauben, Probleme mit ihren Eltern besprechen zu können, als die Angehörigen nichtabhängiger Kontrollgruppen (vgl. auch Kappeler et al., 1999, 189; Kindermann, 1993, 8). Dies wird auch in den Angaben der Interviewten der vorliegenden Untersuchung zur Erziehung eigener Kinder deutlich. Neben dem Setzen eindeutigerer oder weniger rigider Grenzen und der Ablehnung von Prügeln als Erziehungsmittel gaben zahlreiche Befragte an, mehr mit ihren Kindern zu reden beziehungsweise reden zu wollen und dabei auch die eigenen und die Gefühle der Kinder offen anzusprechen. Die Abgrenzung von den Eltern wird in den Mittelwertsunterschieden zwischen den Konzepten des realen Selbst und dem der Eltern, wie sie früher waren, im Semantischen Differential ebenfalls deutlich, wenn auch statistische Signifikanz nicht erreicht wird.

Die Beschreibungen gemeinsamer Unternehmungen mit den Eltern, sofern sie stattfanden, lassen ebenfalls Rückschlüsse auf die Kommunikationsstrukturen innerhalb der Ursprungsfamilien der Interviewpartner zu. Sie berichteten überwiegend, selten und/oder ungern etwas mit ihren Eltern unternommen zu haben. Als Gründe nannten sie, daß die Aktivitäten vor allem an den Interessen der Eltern orientiert und für Kinder wenig attraktiv gewesen seien (vgl. auch Verthein & Degkwitz, 1999, 76). Einige schilderten die Unternehmungen, als hätten die Eltern versucht, den allgemeinen Vorstellungen von einer Familie zu entsprechen, ohne allerdings besonderes Interesse an dem gemeinsamen Tun zu haben oder dabei die Bedürfnisse ihrer Kinder zu berücksichtigen. Die geringe Beachtung ihrer Interessen dürfte sich ebenfalls negativ auf ihr Selbstwertgefühl ausgewirkt haben, da sie sich auch hier nicht in ihrer Besonderheit wahrgenommen fühlten. Der Schluß liegt nahe, daß die Betreffenden für sich selbst keine Hobbys aufnahmen und ihre Zeit ohne klares Ziel alleine oder mit Gleichaltrigen verbrachten (vgl. auch Kappeler et al., 1999, 186).

Die von den Interviewpartnern berichteten Erfahrungen ergeben ein Bild von ihnen als Kindern, die durch die primären Bezugspersonen in ihrer Individualität und Besonderheit nicht in ausreichendem Maß wahrgenommen oder unterstützt wurden, denen keine oder keine konsistenten Regeln für die Beurteilung des eigenen Verhaltens vermittelt wurden und denen damit die Voraussetzungen zur Entwicklung eines stabilen Selbstwertgefühls fehlten. „Wenn der Selbstwert aus der Erfüllung der Regeln und Standards resultiert, die

der einzelne mit anderen im gleichen kulturellen Umfeld teilt, dann ist das Individuum von der permanenten konsensuellen Validierung seines Verhaltens durch andere Mitglieder der Gesellschaft abhängig“ (Ochsmann, 1993, 152). Gleichzeitig standen die Eltern als Gesprächspartner und damit als Retter in der Not nicht zur Verfügung, was zu einer weiteren Verunsicherung führte.

Die in anderen Studien wiederholt beschriebenen besonderen Belastungen in der Kindheit Drogenabhängiger, wie das Aufwachsen in einer „broken home“-Situation (Küfner, Duwe, Schumann & Bühringer, 2000, 37; Uchtenhagen et al., 1981, 56; Zimmer-Höfler &

Uchtenhagen, 1990, 107), erscheinen bei den Interviewpartnern der vorliegenden Untersuchung mit Ausnahme der Teilnehmer am Methadonprogramm von untergeordneter Bedeutung (vgl. auch Knecht, 1994, 153). Sie wuchsen überwiegend in unter diesem eher formalen Aspekt als intakt zu bezeichnenden Familien auf. Auch „major events“ wie

„Verlust durch Trennung oder Tod eines Elternteils“, „Verlust eines nahestehenden Freundes“, „eigene schwere Krankheit“ (Verthein & Degkwitz, 1999, 73) scheinen als Mitursachen für den späteren Drogenkonsum hier von untergeordneter Bedeutung (vgl.

auch Kuntz, 2000, 94).

Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung bestätigen allerdings auch nicht die Sicht-weise Brys et al., daß ausschließlich die Anzahl belastender Faktoren für die Entwicklung süchtigen Verhaltens von Bedeutung ist und nicht die Art der Belastungen (Bry et al., 1982, 277). Sie sprechen im Gegenteil dafür, daß es den Interviewpartnern vor dem Hintergrund der von ihnen geschilderten Entwicklungsbedingungen kaum möglich war, der dem Menschen immanenten existentiellen Verunsicherung ein Gefühl persönlicher Sicherheit entgegenzusetzen. Die Theorie der Motivation menschlichen Handelns und Sozialverhaltens beschreibt den Menschen als „arme entblößte Kreatur, der [...] sich seine innere Sicherheit selbst erarbeiten [muß]“ (Becker, 1987, 90). Die dazu erforderlichen Voraussetzungen, vor allem die Entwicklung eines Gefühls von persönlicher Bedeutung und Wert, waren bei den Interviewpartnern offenbar nicht vorhanden.

Diese Bedingungen erscheinen allerdings nicht ausreichend zum Verständnis der von den Interviewpartnern gewählten Strategie, Drogen zu konsumieren. Daher werden im folgenden weitere Risikofaktoren besprochen, die den Aufbau eines stabilen Selbstwertgefühls im Verlauf des Heranwachsens für die Befragten erschwerten.

7.2 Möglichkeiten der Interviewpartner zur Stabilisierung des Selbstwertgefühls