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2.1 Überlegungen zum Selbstwertgefühl aus anthropologisch-existentialistischer Perspektive

2.2.2 Grundannahmen der Existentiellen Psychotherapie

Der Begründer der Existentiellen Psychotherapie, Irvin D. Yalom, beschreibt die Bedeutung der Angst vor der eigenen Endlichkeit unter einem klinischen Blickwinkel. Die

5 Das Wort Heroin stammt von dem deutschen Wort "heroisch, meaning large or powerful" (Gay, 1971, 31, Hervorhebung im Original).

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Existentielle Psychotherapie definiert er als einen „dynamischen Zugang zur Therapie, der sich auf die Gegebenheiten konzentriert, welche in der Existenz des Individuums verwurzelt sind“ (Yalom, 1989, 15). Eine präzisere Definition zu geben, lehnt er ab, da er die Grundlagen der Existentiellen Psychotherapie nicht als empirisch, sondern als intuitiv betrachtet (ebd.).

Yalom beschreibt wie Becker und die Vertreter der Terror Management Theorie das Bewußtsein der eigenen Sterblichkeit und die Angst vor dem eigenen Tod als das zentrale und nicht zu negierende Moment, das das Menschsein ausmacht. „Leben und Tod sind interdependent; sie existieren gleichzeitig, nicht in Folge; der Tod surrt ständig unterhalb der Membran des Lebens und übt einen großen Einfluß auf die Erfahrung und das Verhalten aus“ (ebd., 43). Das Wissen um die eigene Sterblichkeit bedingt die Notwendigkeit, die Angst zumindest zeitweise zu verleugnen oder zu verdrängen, und damit den Einsatz von Abwehrmechanismen. Neben individuellen frühen Erfahrungen ist auch für die Existentielle Psychotherapie die Eingebundenheit in ein „gemeinsames Glaubenssystem von dem‚ ‚was getan werden muß‘“ (ebd., 546), von großer Bedeutung.

Aus Sicht Yaloms geben soziale Normen, die auf dem Konsens innerhalb einer Gruppe oder Gesellschaft beruhen, ein „Sinnschema“ (ebd.) oder Wertesystem vor, das die Grundlage für die Bewertung des eigenen und des Handelns anderer beinhaltet. Eine sonst unvorhersagbare Welt erhält damit Struktur und Sinn. Die bereits in Zusammenhang mit der Theorie der Motivation menschlichen Handelns und Sozialverhaltens und der Terror Management Theorie vorgestellten Postulate werden hier in einem klinisch-therapeutischen Kontext betrachtet.

Yalom beschreibt zwei zentrale Abwehrstrategien, die beide in unterschiedlichem Maß und zu unterschiedlichen Zeitpunkten von allen Menschen eingesetzt werden: die

„Besonderheit“ und den „letzten Retter“. Die Abwehrstrategie der Besonderheit entwickelt sich aus der frühkindlichen Egozentrik, die bereits in Zusammenhang mit der Theorie der Motivation menschlichen Handelns und Sozialverhaltens beschrieben wurde, in der Zeit, in der alle Wünsche und Bedürfnisse des Kleinkindes, aus seiner Perspektive ohne Mühe und Anstrengung, durch andere wahrgenommen und befriedigt werden. „Man ist durchdrungen von einem Gefühl der Besonderheit, und man greift diesen leicht verfügbaren Glauben als Schild gegen die Todesangst auf“ (ebd., 120). Die Strategie des letzten Retters fußt auf der besorgten Aufmerksamkeit der Eltern, den „riesigen mütterlichen Flügeln“ (ebd.), die jederzeit bereit sind, rettend einzugreifen. Im folgenden wird die Abwehrstrategie vorgestellt und im Hinblick auf ihre Bedeutung für das Phänomen der Drogenabhängigkeit betrachtet.

Die Abwehrstrategie der Besonderheit erlaubt es dem Individuum, sich als von allen anderen Menschen unterschieden und damit in der letzten Konsequenz auch von der Wirkung der Naturgesetze und damit der Sterblichkeit befreit zu betrachten. Die unausweichliche und nicht zu beeinflussende Endlichkeit der individuellen Existenz kann

darüber zumindest über lange Phasen hinweg geleugnet werden. Yalom beschreibt fünf Phänotypen der Abwehrstrategie der Besonderheit.

Der „Workaholic“ versucht das Fortschreiten seiner Lebenszeit dadurch zu vermeiden, daß er sich dem „Werden“ und „Tun“ verschreibt, ohne zu merken, daß das Leben an ihm vorbeizieht. Zeit, die nicht genutzt wird, um Ziele zu erreichen, die sich direkt in materiellem oder anderem Erfolg messen lassen, ist für ihn vertane Zeit. Diese Strategie wird bedroht, wenn dem Workaholic bewußt wird, daß er trotz all seines rastlosen Tuns seine persönliche Zeit nicht anhalten kann und sie begrenzt bleibt.

Die Strategie der „Aggression und Kontrolle“ beruht auf einem ähnlichen Mechanismus.

Aggression gegen andere in ihrer subtilen wie unmittelbar physischen Ausprägung ermöglicht es, die Angst vor der eigenen endgültigen Vernichtung zu verdrängen, indem ein symbolisches oder im äußersten Fall reales „Opfer“ dargebracht wird. Die Ausübung von Macht, als subtilere Form der Aggression, dient dazu, das „Gefühl der eigenen Begrenztheit“ (ebd., 156) zu verleugnen.

„Narzißmus“ (ebd., 154 ff.) als Abwehrstrategie beinhaltet, sich selbst als allen anderen Menschen überlegen zu betrachten und sie abzuwerten. Daraus resultieren häufig Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen, denn die Bedürfnisse und Wünsche der anderen werden nicht wahrgenommen oder nicht respektiert. Die narzißtische Grundhaltung entspricht der eines Kleinkindes, das die uneingeschränkte Liebe und Aufmerksamkeit der Eltern einfordert, ohne dafür eine Gegenleistung zu erbringen.

In Zusammenhang mit dem Rauschmittelkonsum ist die Abwehrstrategie des

„zwanghaften Heroismus“ (ebd., 150 f.) von besonderem Interesse. Ein Mensch, der sich dem zwanghaften Heroismus überläßt, verleugnet seine Angst vor dem Tod, indem er sich selbst glauben macht, sich vor nichts zu fürchten, und fürchtet sich dabei wie wir alle im Grunde vor dem „Nichts“ (ebd.). Der Zusammenhang zwischen Heroismus und Drogenabhängigkeit wurde bereits bei der Theorie der Motivation menschlichen Handelns und Sozialverhaltens angesprochen (vgl. Kapitel 2.2.1).

Eine letzte Variation der Angstabwehr durch individuelle Besonderheit bildet die

„Individuation“, das Heraustreten aus der „Eingebundenheit“ oder der „Natur“ (ebd., 157), oder in der Terminologie der Terror Management Theorie die Abwendung von einem konsensuell vertretenen kulturellen Weltbild. Etwas originär Eigenes schaffen zu wollen, fordert allerdings einen hohen Preis, bedeutet es doch gleichzeitig, die mit der Besonderheit verbundene Isolation ertragen zu müssen, „ohne den Mythos des Retters oder Erlösers und ohne den Trost der menschlichen Gemeinschaft“ (ebd., 158). Aus Sicht der Theorie der Motivation menschlichen Handelns und Sozialverhaltens „besteht eben die geheime Motivierung der Spießbürgerlichkeit [darin], daß sie den Triumph über das Mögliche, über die Freiheit zelebriert. Die Spießbürgerlichkeit kennt den Erzfeind: Die Freiheit ist gefährlich. Folgt man ihr allzu bereitwillig, so könnte man den Boden unter den Füßen verlieren; entsagt man ihr ganz und gar, wird man zum Gefangenen der

Notwendigkeit. Darum ist es am sichersten, wenn man dem treu bleibt, was sozial möglich ist“ (Becker, 1987, 122, Hervorhebung im Original).

Die zweite von Yalom beschriebene zentrale Abwehrstrategie ist die des letzten Retters. Er versteht unter dem letzten Retter einen „persönlichen allmächtigen Fürsprecher: Eine Macht oder ein Wesen, das uns ewig beobachtet, liebt und beschützt“ (Yalom, 1989, 158).

Neben dem Glauben an eine übernatürliche Gestalt nennt er Ideologien, höhere Werte, die es zu vertreten gilt, oder andere Menschen, die als letzter Retter in Betracht kommen. In der vorliegenden Arbeit wird seine Sichtweise um die Zugehörigkeit zur Drogensubkultur und die psychologische und pharmakologische Wirkweise von Heroin ergänzt.

Die Verleugnung der Todesfurcht mit der Strategie des letzten Retters bedingt die Aufgabe des eigenen Selbst und der individuellen Entwicklung. Letzten Endes bedeutet diese Abwehrstrategie, dem Tod über die Verweigerung des Lebens auszuweichen (ebd., 161).

Dieser Verzicht wird aber gerne geleistet, wenn dadurch das Gefühl aufrechterhalten werden kann, daß es einen Beschützer gibt und man nicht alleine und ohne „Schild gegen das Schicksal des Todes“ (ebd., 171) ist. Die Grenzen dieser Strategie werden deutlich, wenn sich eine Ideologie als falsch erweist, zum Beispiel im Falle der Trennung von einem Partner, für dessen Liebe und Unterstützung alles getan wurde. Kurz, wenn der oder das, was als letzter Retter betrachtet wurde, seine Aufgabe nicht mehr wahrnehmen kann oder will. Die Reaktion darauf besteht häufig in Depressionen, dem Gefühl, zu wertlos und schlecht zu sein, um den Schutz des letzten Retters zu verdienen, so Yalom. Sich auf die eigenen Ressourcen zu besinnen, stellt ebenfalls keine Alternative dar, denn das würde bedeuten, jede Hoffnung auf Sicherheit aufzugeben, weil Selbstaufopferung für die Betreffenden als die einzige Möglichkeit erscheint, geliebt zu werden und damit sich als geschützt zu erleben.

Drogenabhängige versuchen den Weg der Individuation zu gehen, denn sie befinden sich außerhalb des konsensuellen Weltbildes und Wertesystems der Gesellschaft, in der sie leben. Die mit der Individuation verbundene Isolation ist allerdings auch für sie nicht auf Dauer zu ertragen, und so wenden sie sich zwangsläufig immer intensiver einer neuen Gemeinschaft zu, der Drogensubkultur. Das erlaubt ihnen, sich über die Ablehnung des allgemein akzeptierten kulturellen Weltbildes der eigenen Besonderheit zu versichern und sich durch den Konsum von Heroin innerhalb ihrer neuen Bezugsgruppe als weit oben in der Hierarchie zu betrachten, da sie das als am „gefährlichsten“ geltende Rauschmittel konsumieren. Gleichzeitig setzen sie die pharmakologische Wirkung von Heroin analog der Abwehrstrategie des letzten Retters ein. Geben sie den Rauschmittelkonsum aus eigenem Entschluß oder aufgrund äußerer Umstände für eine Zeit auf, finden sie sich auf sich alleingestellt. Damit sind sie der Todesfurcht, dem existentiellen Terror, ausgeliefert und verfügen nicht über eine alternative Strategie, sie zu verleugnen. Die Folge ist eine hohe Rückfallquote.

Wie bereits erläutert, setzen die meisten Menschen zu unterschiedlichen Zeitpunkten beide Abwehrstrategien ein. Sie „wehren sich gegen die Todesangst sowohl mit einem illusionären Glauben an ihre eigene Unverletzlichkeit als auch einem Glauben an die Existenz eines letzten Retters“ (ebd., 173, Hervorhebungen im Original). Dabei oszillieren sie zwischen den beiden Polen, Besonderheit und letztem Retter, mal mit der Tendenz zur einen und mal zur anderen Seite. Wenn die Bestätigung der eigenen Besonderheit zu weit zu gehen scheint und zu große Angst auslöst, wird die Individuation aufgegeben und Trost in der Verschmelzung mit einem als beschützend erlebten anderen gesucht. Von neurotischem Verhalten spricht Yalom, wenn der Versuch, die Todesangst abzuwehren, rigide Formen annimmt und die eine oder die andere Abwehrstrategie in extremer und ausschließlicher Weise eingesetzt wird. Die dadurch bedingten Einschränkungen der Spontaneität und Kreativität führen dazu, daß „die Abwehr gegen den Tod selbst ein teilweiser Tod [ist]“ (ebd., 179). Daraus resultiert ein Gefühl „existentieller Schuld“, das Gefühl, das ein Mensch erfährt, der „seinen angeborenen Vorrat an Fähigkeiten und Potentialen“ (ebd., 332) nicht nutzt und sein ursprüngliches Wissen darum verleugnet.

Drogenabhängige scheinen zum einen in das Extrem der jeweiligen Abwehrstrategie zu gehen. Sie wenden sich vollständig vom konsensuellen Wertesystem ab und setzen damit die Strategie der Individuation ein. Andererseits geben sie mit ihrer Sucht nach Heroin jede Möglichkeit zur Eigenständigkeit zugunsten eines letzten Retters auf. Überspitzt gesagt haben sie eine Möglichkeit gefunden, beide Strategien gleichzeitig einzusetzen, wobei die pharmakologische Wirkung des Heroins die durch die Besonderheit evozierte Angst auf ein erträgliches Maß zu reduzieren scheint. „Drogen sind hier als die Krücken des notwendig scheiternden Versuchs zu interpretieren, ‚Entferntes und Gegensätzliches in eins zu bringen‘, ein Ausdruck der ‚Sehnsucht nach dem Absoluten‘, nach ‚Gleichzeitigkeit von Unabhängigkeit und Abhängigkeit‘“ (Dörner et al., 1980, zitiert nach: Schmieder, 1988, 26, Hervorhebung im Original). Das ermöglicht ihnen, die „existentielle Schuld“

zumindest zu Beginn der Abhängigkeit, wenn sie wegen der geringen Toleranzbildung die Drogenwirkung noch sehr deutlich wahrnehmen und die Zugehörigkeit zur Drogensubkultur ihr Selbstwertgefühl noch deutlich steigert, nicht zu spüren. Sie tritt möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt ins Bewußtsein, wenn die Drogenwirkung nachläßt und die zunehmende soziale und psychische Verelendung als Preis für die Individuation zu hoch erscheint. An diesem Punkt der Drogenkarriere kann die Suche nach Alternativen einsetzen, die Abwehrstrategien des letzten Retters oder der Besonderheit als Schutz gegen den existentiellen Terror zu nutzen.