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4. Diskussion

4.8. Mögliche Wege aus der Krise der Leichenschau

Die seit nunmehr Jahrzehnten bekannten Missstände bei der derzeitig normierten Form der ärztlichen Leichenschau stehen schon lange unter massiver Kritik. Wie es um die Validität der klinischen Todesursachendiagnostik im Vergleich zum pathologischen Befund bestellt ist, macht die Görlitzer Studie eindrucksvoll deutlich. In dieser Studie lag die teilweise Übereinstimmung der eingetragenen Todesursache auf der Todesbescheinigung mit dem Obduktionsergebnis bei 15 % und in 37 % der Fälle kam es zu einer kompletten Fehleinschätzung (Modelmog et al. 1989).

Aus der Fehlerhaftigkeit der ärztlichen Leichenschau entsteht nicht nur eine Dunkelziffer bei der Tötungskriminalität, sondern auch bei Suiziden und Unfällen.

Mangelndes Wissen, geringe Erfahrung oder unzureichende Sorgfalt des Untersuchers sind nicht die einzigen Ursachen für Fehler bei der Leichenschau. Ein wichtiger Grund ist ebenso darin zu sehen, dass äußere Befunde eines nicht natürlichen Todes nur in geringer Ausprägung vorliegen oder gänzlich fehlen können (Große Perdekamp et al.

2009).

Die Ursachen der Unzulänglichkeit der ersten ärztlichen Leichenschau lassen sich am besten in drei Säulen verdeutlichen:

a) Strukturelle/ situative Ursachen

Ein Hauptfaktor für die derzeitige Misere der Leichenschau ist, dass die Leichenschaugesetzgebung in der Bundesrepublik in die konkurrierende alleinige Gesetzgebungskompetenz der Bundesländer fällt (Mallach und Weiser 1983).

Infolgedessen gibt es in den Bundesländern verschiedene Regelungen in unterschiedlicher Qualität. Dies steht der Einführung eines einheitlichen Leichenschauscheins im Wege (Schneider 1987).

Zu den strukturellen kommen situative Ursachen hinzu. Mangelnde Beleuchtung, Bekleidung der Leiche, fehlende Hilfspersonen, Zeitdruck, fortgeschrittene Leichenerscheinungen, übergroßes Körpergewicht, Leichen im Freien oder in der Öffentlichkeit sind Umstände, die eine sorgfältige Leichenschau erschweren.

Sollte nach der ärztlichen Leichenschau die Todesursache ungeklärt bleiben, wird in Deutschland trotzdem nicht regelmäßig obduziert (Madea und Rothschild 2010a).

b) Ursachen auf Seiten des Arztes

Gründe für die Misere der ärztlichen Leichenschau sind ebenfalls auf Seiten des leichenschauenden Arztes zu suchen. Meist führt der Hausarzt, der behandelnde Arzt im Krankenhaus oder ein niedergelassener Arzt die Leichenschau durch. Deren Aufgabe besteht in erster Linie in der Heilung von Krankheiten, so dass die Bereiche

Rechtsmedizin und Pathologie in den Hintergrund treten. So wird die Leichenschau oft nicht als ärztliche Aufgabe und Teil des Heilauftrages wahrgenommen und nur

„widerwillig“ und „wenig sorgfältig“ ausgeführt. Auch die unzureichende Honorierung für diese Tätigkeit führt dazu, dass Ärzte die Leichenschau nur oberflächlich durchführen.

Hinzu kommt, dass in den meisten Fällen Ärzte die Leichenschau vornehmen, die hierzu nur selten herangezogen werden. Vor allem in ländlichen Bereichen führen unzureichende Ausbildung und wenig Erfahrung auf dem Gebiet der ärztlichen Leichenschau zu Unsicherheiten im Umgang mit der Leiche, dem Fundort, den Angehörigen, den Heimleitern und Behörden. Die daraus häufig resultierende mangelnde Sorgfalt bei der Durchführung der Leichenschau führt zu Falschklassifizierungen der Todesart (Westphal 2007).

Um Unannehmlichkeiten aus dem Weg zu gehen, beugt sich der Arzt dem Willen der Polizei eine zweite Todesbescheinigung auszufüllen oder direkt einen natürlichen Tod zu bescheinigen. Dies zeigt eine im Bereich der Ärztekammer Westfalen-Lippe durchgeführte anonyme Befragung. Dort berichteten 41 % der niedergelassenen Ärzte sowie 47 % der Notärzte von derartigen Beeinflussungsversuchen (Madea und Rothschild 2010a).

c) Ursachen auf Seiten der Ermittlungsbehörden

In der Kriminalistik werden die Todesfälle als nicht natürlich definiert, bei denen das Vorliegen eines Fremdverschuldens in Betracht kommt. Diese Definition führt gelegentlich zu Unverständnis auf Seiten der Polizei, wenn bei alten Menschen eine ungeklärte bzw. nicht natürliche Todesart angegeben wird. Infolgedessen kommt es in einigen Fällen durch die Ermittlungsbeamten zur Beeinflussung der Ärzte, einen natürlichen Tod zu bescheinigen, um so für unnötig angesehene Ermittlungstätigkeiten zu vermeiden. Es sind durchaus Fälle bekannt, bei denen die Polizei einen weiteren Arzt herangezogen hat, der schließlich einen natürlichen Tod bescheinigte. Allerdings macht sich der leichenschauhaltende Arzt in einem solchen Fall nach dem Strafgesetzbuch der Urkundenfälschung bzw. Urkundenunterdrückung strafbar (Madea 2009).

Nach Berg und Ditt gibt es in 48 Prozent der Fälle keine Übereinstimmung zwischen Leichenschau und Obduktionsdiagnosen, 6 Prozent der Klinikärzte kreuzen regelmäßig und ausschließlich einen natürlichen Tod an sowie 30 Prozent bescheinigen selbst bei Gewalteinwirkung, Vergiftung, Suizid oder ärztlichem Eingriff einen natürlichen Tod (Berg und Ditt 1984). Die Kritik an der Effektivität der Leichenschau ist also mehr als berechtigt.

Um eine Änderung herbeizuführen, bedarf es vieler verschiedener Ansatzpunkte:

Notwendig und sinnvoll ist eine klare Anweisung, dass die Leichenschau an der vollständig entkleideten Leiche von allen Seiten, insbesondere im Bereich der behaarten Kopfhaut, des Rückens und des Nackens zu erfolgen hat. In diesem Zusammenhang ist das im Freistaat Bayern existierende, zusätzliche Informationsblatt zum Formularsatz der Todesbescheinigungen hilfreich, das genaue Anweisungen zur Durchführung der Leichenschau enthält, die Klassifikation der Todesart erläutert und die Untersuchung der Leiche - wie oben beschrieben - zur Feststellung der Todesart als zwingend voraussetzt. Auch die Todesbescheinigung des Landes Baden-Württemberg, in der eine Entscheidungshilfe zur Todesartklassifikation in Form einer ausführlichen Beschreibung der einzelnen Todesarten angegeben wird, erweist sich für den Leichenschauarzt als äußerst hilfreich

Kanne forderte bereits 1975 die Einführung von Sanktionen und bewies mit seiner Studie, dass die Leichenschau von Ärzten im Münsterland in 80% der Fälle an der bekleideten Leiche durchführt wurde (Kanne 1975). Zur Sicherstellung der korrekten Durchführung der Regelungen, wird in vielen Bundesländern ein Verstoß mit einer Geldstrafe (z.B. bis zu 25.000 Euro) belegt.

Eine Verbesserung der Qualität der ärztlichen Leichenschau ist weiterhin durch erhöhte Sektionsquoten zu erreichen, denn zurzeit werden zumeist nur die nicht natürlichen und ungeklärten Todesfälle einer Leichenöffnung unterzogen. Dabei ist bekannt, dass die Tötungsdelikte und andere verkannte nicht natürliche Todesfälle vor allem unter den als natürlich bescheinigten Todesfällen zu finden sind, wobei die Obduktionszahlen in der Pathologie im Verlauf der letzten Jahre drastisch abnahmen und auch hier eine Kontrollinstitution wegbricht (Madea 2009). Dennoch erfolgt nur in einem kleinen Teil der Fälle, bei denen eine ungeklärte oder nicht natürliche Todesart auf der Todesbescheinigung angegeben worden ist, eine Obduktion. Bei einer Obduktionsfrequenz von ca. 2 % in der Bundesrepublik Deutschland (im Vergleich 20-30 % in England, Wales, Schweden, Finnland) kann man davon ausgehen, dass keine hinreichende Qualitätskontrolle bezüglich klinischer Diagnosen oder Leichenschaudiagnosen gegeben ist (Madea und Rothschild 2010a). Ärzte, die trotz Widerstand auf Seiten der Angehörigen oder Polizei eine nicht natürliche bzw.

ungeklärte Todesart attestierten, zweifeln deshalb an der Sinnhaftigkeit ihrer Entscheidung. Damit besteht die Gefahr, dass diese dazu übergehen, wider besseren Wissens einen natürlichen Tod zu bescheinigen. Um diese Situation zu vermeiden und die Motivation der Ärzte zu steigern, wäre eine Rückkopplung der

Obduktionsergebnisse an den leichenschauhaltenden Arzt sinnvoll (Bajanowski et al.

2010). Die äußere Leichenschau ist außerdem gerade bei plötzlichen, unerwarteten Todesfällen eine Untersuchung mit geringer diagnostischer Validität, welche nicht die gleiche Aussagekraft wie eine Obduktion haben kann, da hierbei histologische, molekularpathologische, postmortalbiochemische und toxikologische Anschluss-untersuchungen erfolgen (Madea und Rothschild 2010). Zur Anhebung der Sektions-zahlen sprachen sich Madea et al. (2006) für die Einführung von Verwaltungssektionen aus, für die in Deutschland bislang keine rechtsgültige Definition besteht.

Verwaltungssektionen sind Sektionen, die zur Klärung der medizinischen Todesursache durchgeführt werden könnten, wenn die Möglichkeit der Angabe der genauen Todesursache und Todesart bei der Leichenschau nicht gegeben ist.

Medizinisch unklare Fälle werden so einer objektiven Klärung zugeführt, so dass die Todesursache keine Vermutungsdiagnose mehr wäre. Die Einführung von Verwaltungssektionen würde zusätzlich zu einer Verbesserung der Daten für die Todesursachenstatistik, einer Qualitätssicherung im Hinblick auf die außerklinische ärztliche Behandlung sowie die Mortalitätsstatistik und daraus abgeleiteten Maßnahmen, einer erhöhten Rechtssicherheit und einer Vermeidung von Auseinandersetzungen mit den Ermittlungsbeamten um die Qualifikation der Todesart führen (Madea et al. 2006). In der von Brinkmann et al. durchgeführten multizentrischen Studie wurde nachgewiesen, dass in Deutschland mit 11.000-22.000 nicht-natürlichen Todesfällen zu rechnen ist, darunter 1.200-2.400 unerkannt bleibende Tötungsdelikte sowie 2.000-4.000 Todesfälle im Zusammenhang mit medizinischen Maßnahmen (Brinkmann et al. 1997). Mit dem Rückgang der Sektionen fehlt somit ein wichtiges Instrument zur Überführung Tatverdächtiger und Beurteilung qualifizierter ärztlicher Handlungen (Bundesärztekammer 2005)

Während es für eine zeitgerechte Aufnahme der polizeilichen Ermittlungen von besonderer Bedeutung ist, möglichst schnell über Verdachtsfälle informiert zu werden, vertreten die Ärzte die Meinung, dass eine Unterbrechung der Sprechstunde nicht zumutbar und eine sofortige Leichenschau in vielen Fällen nicht nötig sei. Fehlende finanzielle Anreize verstärken dieses Spannungsfeld, denn die Leichenschau wird durch die geltende Gebührenordnung (GOÄ) nicht adäquat honoriert und das Ausfüllen der Todesbescheinigung kann nicht gesondert abgerechnet werden, obwohl es mit einem hohen bürokratischen Aufwand verbunden ist (Gerg und Baier 2009).

Ein weiterer Ansatzpunkt für eine korrekte Todesart- und Todesursachendiagnostik sowie ordnungsgemäße Durchführung der Leichenschau auch in schwierigen Fällen ist

die Verbesserung der Aus- und Weiterbildung von Medizinstudenten und Ärzten auf dem Gebiet der Leichenschau (Brinkmann et al. 1997; Bajanowski et al. 2010). Zurzeit beschränkt sich die Ausbildung zur ordnungsgemäßen Durchführung der Leichenschau meist nur auf einen Leichenschaukurs während des Studiums. Die Intensivierung der Ausbildung im Medizinstudium und verpflichtende Fortbildungen zur Leichenschau für alle Ärzte sind von großer Bedeutung (Rothschild 2009). Die Universität Münster entwickelt vor diesem Hintergrund ein E-Learning Schulungsprogramm, bei dem die Ärzte anhand virtueller und simulierter Fälle ihre Systematik des Vorgehens bei der Leichenschau üben und optimieren können (Gerg und Baier 2009). In diesem Zusammenhang wäre auch eine Vereinheitlichung der Todesbescheinigungen in den Bundesländern sowie allgemeinverbindliche Definitionen von „ungeklärten“ und „nicht natürlichen“ Todesfällen von Vorteil, um die Leichenschau auch für Ärzte, die sehr selten als leichenschauhaltender Arzt benannt werden, zu vereinfachen.

Eine gute Alternative wäre der von vielen Autoren geforderte unabhängige Leichenschauer als hauptamtlich beauftragter Arzt, da dieser über die nötige Sachkenntnis verfügen würde und aufgrund seines eingegrenzten Aufgabenfeldes auch wesentlich mehr Routine im Erkennen zweifelhafter Todesfälle hätte (Brinkmann et al 1997). Zur Feststellung des Todes bliebe jeder approbierte Arzt verpflichtet, die darauffolgende Leichenschau sollte allerdings speziell ausgebildeten Leichenschauern vorbehalten sein. Voraussetzung für die Befugnis als Leichenschauer tätig zu werden, sollten der Erwerb der entsprechenden Qualifikation sowie regelmäßige Fortbildungs-maßnahmen sein (Madea und Rothschild 2010). Hinzu kommt, dass es zu langen Wartezeiten kommen kann, wenn verstorbene Personen gemeldet werden, da häufig kein Arzt zu einer zeitnahen Leichenschau gefunden wird. Dieser Zustand ist für die Einsatzkräfte der Polizei ebenso wie für die Angehörigen belastend. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil bestünde zudem in der persönlichen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit des Arztes gegenüber den Hinterbliebenen des Verstorbenen. Der Hausarzt steht so nur noch in der Pflicht, dem spezialisierten Leichenschauarzt die Anamnese des Verstorbenen zu übermitteln. Eine Speicherung der medizinischen Vorgeschichte und verschriebenen Medikamenten auf der Patientenkarte würde außerdem eine wesentliche Hilfe zur Ermittlung der Todesursache darstellen. Auch die negativen Reaktionen der Angehörigen bei Bescheinigung eines ungeklärten oder nicht natürlichen Todes tangiert einen professionell ausgebildeten Leichenschauer weniger als den betreuenden Hausarzt (Siegmund-Schultze 2010). Die externen Leichenschauärzte sollten nicht nur die Leichenschau in der Wohnung des Verstorbenen vornehmen, sondern auch in Krankenhäusern, Alten-/ Pflegeheimen und

Hospizen. Zurzeit stehen der Einführung eines spezialisierten Leichenschaudienstes die damit verbundenen hohen Kosten entgegen. Die zur Finanzierung dieses Modells erforderlichen Mittel könnten durch eine direkte Bezahlung durch die Hinterbliebenen gewährleistet werden. Sollten keine Angehörigen ermittelbar sein, wären die anfallenden Kosten durch den Nachlass des Verstorbenen zu decken. Das Sozialamt würde dann nur bei unbekannten Leichen oder in Fällen eines mittellos Verstorbenen die Gebühren übernehmen (Grabowski 2006).

Auch der eingeführte vorläufige Leichenschauschein, der vor allem die Situation der Ärzte im Notfall- und Rettungsdienst verbessert hat, ist als positiv zu bewerten. Schon 1997 forderten Du Chesne und Brinkmann den vorläufigen Leichenschein für alle Ärzte, die sich zur Durchführung der ordnungsgemäßen Leichenschau unter den gegebenen situativen Umständen nicht in der Lage sehen, einzuführen (Du Chesne und Brinkmann 1997). Der Arzt könnte die eigentliche Leichenschau später an einem geeigneten Ort durchführen oder eine Vertretung (z.B. aus dem Bereitschaftsdienst der Rechtsmedizin) in Anspruch nehmen. Der Arzt muss die Leichenschau zwar immer noch schnellstmöglich durchführen, kann aber beispielsweise noch dringende Aufgaben in seiner Praxis vorziehen. Somit ist kein Arzt mehr gezwungen, trotz schlechter äußerer Umstände, mangelnder Erfahrung bzw. unter Zeitdruck eine Leichenschau durchzuführen. Die Übernahme dieser Regelung in allen Bundesländern wäre erstrebenswert, da Ärzte so Leichenschauen auf qualifizierte Spezialisten übertragen könnten (Du Chesne und Brinkmann 1997).

In München wird der Leichenschaudienst schon durch Ärzte abgedeckt, die nebenberuflich als Leichenschauer tätig werden. Um als spezialisierter Leichenschauer beschäftigt zu werden, müssen die Ärzte an Leichenschaukursen teilnehmen, Obduktionen in der Rechtsmedizin beiwohnen sowie erfahrene Leichenschauer bei ihren Diensten begleiten. Eine Qualitätskontrolle findet durch einen Rechtsmediziner statt, indem die teilnehmenden Ärzte Fälle vorstellen, bei denen sie eine natürliche Todesart bescheinigt haben. Dieses System könnte zu einer Verbesserung der Qualität der ärztlichen Leichenschau führen (Fieseler et al. 2009).

Ausweislich Madea wurden im Jahr 2003 in Deutschland 853.946 Todesfälle registriert, wobei es sich in ca. 95 % der Fälle um eine natürliche und in 4-6,5 % der Fälle um eine nicht natürliche Todesart handelte (Madea 2006). Im Vergleich dazu wurde in München in 50 % eine natürliche, in 30 % eine ungeklärte und in 20 % der Fälle eine nicht natürliche Todesart bescheinigt. Somit zeigt sich, dass die spezialisierten Leichenschauer sich eher von der Attestierung eines natürlichen Todes distanzierten

und so eine größere Chance für die Entdeckung von nicht natürlichen Todesfällen besteht.