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1. Einleitung

1.4. Kritik an der ärztlichen Leichenschau

Die ärztliche Leichenschau ist einer starken und anhaltenden Kritik ausgesetzt. Es fehle eine einheitliche Gesetzgebung zur Leichenschau, der Ausbildungsstandard und das Engagement der Ärzte seien schlecht, und die Zuverlässigkeit und Aussagekraft der Diagnosen, welche im Laufe der Leichenschau gestellt werden, seien unzureichend (Gross 2000). Die von Brinkmann et al. im Jahr 1997 veröffentlichte Studie über die Fehlleistungen bei der Leichenschau hat gezeigt, dass in der Bundesrepublik Deutschland jährlich mindestens 1.200 Tötungsdelikte und 11.000 nicht natürliche Todesfälle unerkannt bleiben (Brinkmann et al. 1997). Zwar schließen sich manche Experten dieser Meinung nicht an, jedoch gibt es in Fachkreisen keinen Zweifel daran, dass die Qualität der ärztlichen Leichenschau große Mängel aufweist.

Es gibt fast keine andere ärztliche Tätigkeit, die von allen Fachrichtungen ausgeübt werden darf. Damit wird sie auch von Ärzten vorgenommen, die oft sehr große Schwierigkeiten haben, einen natürlichen von einem nicht natürlichen Tod zu unterscheiden (Meringer 1977). Diese Realität steht im extremen Widerspruch zu den erheblichen Anforderungen an eine hohe Qualität der Leichenschau (Birkholz 2003).

Die Unzulänglichkeiten der Leichenschau und der ausgestellten Todesbescheinigungen hängen auch beachtlich mit den Unsicherheiten und Defiziten der Todesermittlungen auf Seiten der Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft zusammen (Geerds 1997).

Die Behörden und Gesetzgeber gehen jedoch davon aus, dass alle approbierten Ärzte über die erforderlichen Kenntnisse und Erfahrungen verfügen, um den eingetretenen Tod eines Menschen, die Todesart sowie die Todesursache sicher feststellen zu können. Da viele Ärzte, v.a. Haus- und Krankenhausärzte, trotz langjähriger Berufserfahrung selten oder niemals eine Todesfeststellung eigenverantwortlich durchgeführt haben, treten bei diesen häufig Unsicherheiten im Umgang mit dem Leichnam, dem Fundort, den Hinterbliebenen und staatlichen Untersuchungsorganen auf (Janssen 1979).

Die Angabe einer Todesursache eines Patienten, welcher bis zu seinem Tode ärztlich behandelt wurde oder mit dessen Ableben zu rechnen war, fällt den meisten Ärzten nicht schwer. Auch wenn sich ein gewaltsamer Tod aus den Umständen, der Auffindesituation oder dem Verletzungsbild ergibt, kann die Todesursache oder –art sicher auf der Todesbescheinigung eingetragen werden. Schwierigkeiten stehen dem leichenschauhaltenden Arzt bevor, wenn der Patient nie in ärztlicher Behandlung war, keine Vorerkrankungen bekannt waren oder der Tod sehr plötzlich und unerwartet eintrat (Oehmichen und Saternus 1985). Außerdem können Probleme auftreten, wenn die Krankenvorgeschichte des Verstorbenen nicht eruierbar ist oder fortgeschrittene Fäulnisveränderungen die Leichenschau erschweren. In solchen Fällen werden oft funktionelle Endzustände (z.B. Herzversagen), die Bestandteil jedes Sterbeprozesses sind, und nicht die zum Tode führende Ursache in die Todesbescheinigung eingetragen (Madea et al. 2006). Der Arzt kann zwar den Leichnam gründlich inspizieren und dokumentieren, ob er Veränderungen gefunden hat, welche auf einen nicht natürlichen Tod hinweisen könnten, das Formulieren von Differentialdiagnosen an der Leiche sollte aber ohne konkrete Hinweise unterlassen werden.

Die forensische Definition des nicht natürlichen Todes bei Überlebenden von Unfällen, Suiziden oder Intoxikationen ist vielen Ärzten nicht bewusst. Tritt der Tod nach einem solchen Geschehen erst mehrere Tage, Wochen oder sogar Jahre später ein, wird vom leichenschauhaltenden Arzt oft der Kausalzusammenhang nicht berücksichtigt und

folglich ein natürlicher Tod bescheinigt (Leopold und Hunger 1987). Es gibt jedoch kein zeitliches Intervall, das die Kausalität zwischen dem von außen verschuldeten oder beeinflussten Geschehen und dem Todeseintritt unterbricht. So handelt es sich beispielsweise bei einer Lungenembolie mehrere Wochen nach einer Unterschenkelfraktur mit Ausbildung einer tiefen Beinvenenthrombose als Folge eines Verkehrsunfalls um einen nicht natürlichen Tod.

Die Klassifizierung der Todesart sollte frei von Einflüssen durch Behörden und Hinterbliebenen sein (Merten 2003). Viele Ärzte wollen den Hinterbliebenen die Ermittlungen der Polizei ersparen und attestieren einen natürlichen Tod. Bescheinigt der Arzt einen ungeklärten oder nicht natürlichen Tod, muss er gegebenenfalls mit einem Sympathieverlust der Angehörigen des Toten sowie der Ermittlungsbeamten rechnen (Helbing 2004).

Hinzu kommt, dass der Hausarzt nicht adäquat für die Leichenschau honoriert wird und seine Sprechstunde verlassen muss. Deshalb neigen viele dazu, den Leichnam nur flüchtig oder gar nicht zu begutachten, auch wenn der eingeforderte und gesetzlich vorgeschriebene Sorgfaltsmaßstab nicht mit der Vergütungshöhe korrelieren sollte (Madea und Dettmeyer 2004).

Diese Gründe führen dazu, dass fälschlicherweise mehr natürliche Todesfälle erfasst werden als in Wirklichkeit vorliegen. Damit wird die Qualität der Leichenschau häufig weder ihrer allgemeinen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedeutung, noch der Bedeutung für die Angehörigen gerecht (Gaidzik und Eikert 2001).

Studien haben gezeigt, dass man eine vollständige oder weitgehende Übereinstimmung zwischen klinischer und autoptisch festgestellter Todesursache nur in 50 bis 60 Prozent der Fälle findet. Ähnliche Ergebnisse fanden sich auch 1987 in der Görlitzer Studie. Dort lag die teilweise Übereinstimmung bei 15 % und in 37 % der Fälle kam es zu einer kompletten Fehleinschätzung (Modelmog et al. 1989). Ursache für diesen Zustand ist die unterschiedliche Gesetzgebung der einzelnen Bundesländer, welche die Regeln der Leichenschau und Obduktionen allein bestimmen und damit einer bundeseinheitlichen Todesbescheinigung im Wege stehen (Zylka-Menhorn 2004). Die Todesursachenstatistiken werden dadurch so verfälscht, dass sie wissenschaftlich kaum noch auswertbar sind (Birkholz 2003). Es sollte daher nicht überraschen, dass sich die Eintragungen auf der Todesbescheinigung nach einer Obduktion oft als falsch erweisen, da sie von Ärzten ausgefüllt wird, welche nicht ausreichend mit Hinweisen auf einen nicht natürlichen Tod und seiner strafrechtlichen Konsequenzen vertraut sind (Geerds 1997).

Trotz der Ergebnisse dieser Studien sind die Sektionszahlen in den letzten Jahren rückläufig. So verringerte sich laut Madea et al. (2006) in der Zeit von 1994 bis 1999

die Gesamtzahl der Obduktionen von 6,3 auf 5,3 Prozent. Dieser Rückgang ist sehr alarmierend, da durch Obduktionen und weiterführende Untersuchungen, wie Histologie oder Toxikologie, ungefähr 95 bis 97 Prozent aller Todesfälle geklärt werden könnten (Madea et al. 2006). Bundeseinheitliche Regelungen sind nach gescheiterten Reformbestrebungen der letzten zwei Jahrzehnte auch in Zukunft nicht zu erwarten.