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Vom Aufbruch in eine Kultur des humanen Werdens

6 Leitidee 4:

historischen Epoche bestimmen. Dazu gehören zum Beispiel solche Aus-sagen wie:

− Wir können alles auf Dauer fehlerfrei technologisch kontrollieren. Oder:

− Die industrielle Produktivität muss sich fortschreitend globalisiert ausweiten. Oder:

− Jeder ist zu einem unstillbar sich ausweitenden Konsum der produzierten Güter verpflichtet. Oder:

− Die jetzige Generation der Menschen ist zur unbegrenzten und scho-nungslosen Nutzung der ökologischen und humanen Ressourcen be-rechtigt.

Ich nenne diese Sammlung übergreifender Glaubenssätze einer Gesellschaft die „Große Erzählung“.

Zu den zentralen Komponenten der Großen Erzählung gehören auch die bei-den folgenbei-den Glaubenssätze:

− Fortgesetztes, ja sogar unendliches Wachstum ist möglich. Und:

− Wachstum ist unerlässlich und alternativlos (TINA = There is no alter-native).

Das folgende Beispiel mag das veranschaulichen.

Die Lebensspanne der Menschen verlängerte sich in den letzten 50 Jahren in Deutschland kontinuierlich. Zieht man beispielsweise einen Vergleich der Sterbetafeln von 2013 bis 2015 mit den Sterbetafeln von 2014 bis 2016 heran, dann ist die Lebenserwartung nach den Berechnungen des Statisti-schen Bundesamtes für Neugeborene wieder um 2 Monate angestiegen. Neu-geborene Mädchen werden jetzt durchschnittlich 83 Jahre und 2 Monate leben; neugeborene Jungen haben eine Lebenserwartung von durchschnittlich 78 Jahren und 4 Monaten. Dieser Anstieg der Lebensspanne wird – zu Recht – auch auf die wissenschaftlichen, pflegerischen und technologischen Fort-schritte der Medizin zurückgeführt.

Das „Wachsen“ der menschlichen Lebensspanne passt also in dieses An-nahmegefüge der Großen Erzählung. Da die Medizin sich als zuständig und verantwortlich für diesen positiv bewerteten Anstieg wahrnimmt, kann ein Mythos entstehen.

Nämlich in Gestalt eines Versprechens: Die Medizin könne die bisherige Begrenztheit der Lebensspanne erweitern, wenn nicht sogar aufheben. Die

Endlichkeit des menschlichen Lebens wird zu einer unerträglichen, nicht hinnehmbaren Provokation.

Das Versprechen der Medizin kann etwa so formuliert werden:

Wir, die Akteure des Gesundheitssystems, können die Grenze der Lebenser-wartung in Richtung der Unsterblichkeit verschieben. Wenn uns ausreichen-de finanzielle, personelle, institutionelle und gesetzliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, werden wir zudem das vor dem Ende der Lebens-spanne liegende mögliche Leid verringern oder sogar aufheben. Wenn ein Mensch sich uns anvertraut, werden wir ihm mittels der pharmakologischen und technologischen Werkzeuge ein bequemes und konsumorientiertes Leben ermöglichen (vgl. den internationalen Mega-Trend convenience). Er wird all den beglückenden Verheißungen der jetzigen Epoche folgen können. Zu die-sem paradiesischen Leben wird beispielsweise gehören: Er wird die Ange-bote der Reiseindustrie ausschöpfen können und die entlegensten Winkel der Erde auf bequeme Weise kennenlernen können; er wird sich den Angeboten der Bekleidungsindustrie nicht verweigern und mehr modische Bekleidungs-stücke erwerben als er jemals auftragen kann, usw..

Der Mythos der Medizin trägt also dazu bei, dass Menschen glauben, ein Anrecht auf eine hedonistische, kauf- und konsumorientierte Lebensweise zu haben. Und die Medizin wird in ihrem technologischen Selbstverständnis den Menschen als ein Objekt der Reparatur und der Optimierung entdecken und ihn dahingehend fortschreitend sozialisieren. Denn: Die Dienstleistungen der Medizin tragen zum wirtschaftlichen Wachstum bei. Je mehr Anlässe für medizinische Dienstleistungen im Gefolge der hedonistischen Lebensweise als Kollateralschäden entstehen, desto stärker (und gewinnbringender) wird sich der technologisch-pharmakologische Medizin-Komplex entwickeln und ausweiten können.

Vgl. dazu den Film „Der marktgerechte Patient“ von Leslie Franke & Herdolor Lorenz, 2018. www.der-marktgerechte-patient.org

Zur „technologischen“ Auffassung des menschlichen Lebens und zum „technologi-schen“ Umgang mit den Folgen von Mustern der Lebensführung passt auch der jüngste Vorschlag des Bundesgesundheitsministeriums, das Absaugen von Körperfett künftig zu einer verpflichtenden erstattungsfähigen Leistung der Krankenkassen machen zu wollen. Vgl. FAZ, Nr. 9, 11.01.2019, S. 17, Spahn macht Fettabsaugen zur Kassenleistung.

Die Medizin und ihre Organisation im Rahmen des Gesundheitssystems werden somit zu systemimmanenten Akteuren in einer marktwirtschaftlich-kapitalistischen, wachstumsorientierten Wirtschaftsordnung. Sie vermitteln die darin enthaltenen Werte. Und: Durch ihre unmittelbare Nähe zu Leib und Leben kommt ihnen eine geradezu unabweisbare Überzeugungskraft zu. Wer kann sich der medizinischen Expertise widersetzen, wenn die Unterwerfung unter das medizinische Handeln verknüpft wird mit der Möglichkeit zur Fort-setzung des bisherigen „modernen“ Lebensstils und des Lebens überhaupt?

Der Mythos der Medizin trägt also dazu bei, dass die Menschen glauben, in einem außen-geleiteten, rastlos hedonistischen Leben aufgehen zu können.

Wichtig wird es für die Menschen dann sein, über die aktuellen Modetrends in den vielfältigen Lebensbereichen Bescheid zu wissen und durch das eigene Handeln glaubwürdig zu belegen, dass man „dazu gehören“ kann. In einer solchen Lebensweise gibt es keinen Raum für die Begegnung mit den huma-nen Grenzsituatiohuma-nen: – zum Beispiel dem Scheitern des Lebensplans; der Begegnung mit der Gefährdung der Lebensspanne; der Erfahrung, dass es Kräfte gibt, die mächtiger sind als die Wirkmöglichkeiten der eigenen Res-sourcen; der Begegnung mit dem Tod; usw..

Statt die humane diskursive Auseinandersetzung mit Krisen- und Grenzsitua-tionen zu befördern, wird im Sinne des Wachstums-Paradigmas auch von staatlicher Seite dafür geworben, die Endlichkeit des Lebens technologisch aufheben zu können. So entstand in den letzten Jahrzehnten ein neuer Zweig der Medizin: die Organtransplantations-Medizin.

Vgl. dazu den Entwurf zur Reform des Transplantationsrechts des Bundesgesund-heitsministeriums, der auf der Prämisse aufbaut, dass der Spender „tot“ sei. Dabei wird der sog. „Hirntod“ (d. h. das unumkehrbare Hirnversagen) gleichgesetzt mit dem Tod eines Menschen. Das ist eine mehr als fragwürdige Annahme. „Die lapidare Formulierung „nach meinem Tod“ verschleiert (und viele Menschen sind sich denn auch der Tatsache nicht bewusst), dass ein Patient mit irreversiblem Funktionsausfall des Gehirns keine Leiche ist, die der Bestattung überantwortet werden könnte, son-dern ein künstlich beatmeter, intensivmedizinisch behandelter Patient – ein Sterben-der, der zwar nie wieder selbständig atmen können sowie irgendeine Form von Be-wusstsein wieder erlangen wird (und dessen Weiterbehandlung daher nicht sinnvoll und nicht gerechtfertigt wäre, wenn es die Organtransplantation nicht gäbe), dessen Herz aber selbständig schlägt, dessen Blutkreislauf und übrige Organe intakt sind und dessen komplexe Funktionen und Interaktionen des Organismus als Ganzem – von der

lichkeit, eine frühe Schwangerschaft bis zur Geburt auszutragen – erhalten sind. Mit guten Gründen wird deshalb national wie international von zahlreichen Ethikern, Medizinern und Juristen die Gleichsetzung als „hirntot“ diagnostizierter Menschen mit Leiche in Zweifel gezogen.“ Höfling, W. & in der Schmitten, J. (2019). Die Ver-schleierung der letzten Dinge. FAZ 15.1.2019, Nr. 12, S. 11.

Einen noch mutigeren Ansatz finden wir in der Kryonik. Auch in diesem Bereich wird der Traum vom ewigen Leben als eine lediglich technologisch zu bearbeitende Fragestellung angesehen.

Die Kryonik-Protagonisten bieten gegen ein entsprechendes Entgelt an, dass ein Mensch seinen Leichnam bei minus 196 Grad Celsius einfrieren lässt. Er soll dann, wenn entsprechende Heilmethoden zur Verfügung stehen, aus seiner kühlen Lagerung wieder aufgeweckt werden, um sein „ewiges Leben“ fortzusetzen und die Lebens-spanne wachsen zu lassen.

Auf welcher Leitidee könnte nun die Grundlegung des neuen gesellschaft-lichen Subsystems erfolgen? Es könnte sich „postwachstums-ökonomisch“

orientieren.

Zur Verdeutlichung der bisherigen Argumentation formuliere ich die folgende Aussage:

In der marktwirtschaftlich-kapitalistischen Wirtschaftsordnung gilt das Wachstums-Paradigma als gesetzt und wird als nicht veränderbar oder gar aufgebbar dargestellt. Als systemimmanenter Bereich dieser Wirtschaftsord-nung akzeptiert und unterstützt der technologisch-pharmakologisch domi-nierte Medizin-Komplex das Wachstums-Paradigma. Er wirkt als größter und umsatzstärkster Wirtschaftssektor affirmativ für die bestehende Wirtschafts- und Werteordnung. Kritische Lebensphänomene werden zu „Krankheiten“

uminterpretiert und können dann als Ding-Objekte technologisch-pharmako-logisch bearbeitet werden. Die so erfundenen „Krankheiten“ werden als „Wa-ren“ zum Anlass für „medizinische“ Dienstleistungen. Und als solche werden sie systemimmanent unweigerlich dem Wachstums-Paradigma unterstellt.

Eine postwachstumsökonomische Orientierung eines neuen gesellschaft-lichen Werdens-Systems wird anstelle von „Wachstum“ u. a. die Themen Endlichkeit und Grenzen, Subsistenz und Suffizienz in den Vordergrund des Diskurses stellen.

Mit Subsistenz wird eine Haltung bezeichnet, die sich auf alle Lebensberei-che beziehen kann: Die MensLebensberei-chen versuLebensberei-chen, dazu beizutragen, sich

selbst-ständig zu versorgen und unabhängig zu werden von den Dienstleistungen anderer. Sie eignen sich Wissen und Fertigkeiten an, um sich in ihrer Selbst-wirksamkeit erfahren zu können.

Mit Suffizienz wird eine Haltung bezeichnet, die ebenfalls auf alle Lebensbe-reiche bezogen werden kann: Menschen fragen nach dem richtigen Maß.

Wenn jemand etwas wünscht, braucht, glaubt zu benötigen, dann kann die Frage nach dem „genügend“ gestellt werden. Gibt es Grenzen der Ressour-cen, die eingesetzt werden sollen? Grenzen der sozialen, psychischen, zeit-lichen, materiellen, medialen Ressourcen? Kann und will ich mich selbst begrenzen, um nachhaltig mit mir, meinen Mitmenschen, den sozialen Ein-richtungen meiner Daseinsfürsorge und den ökologischen Grundlagen meiner Lebenspraxis umzugehen?

Welche Auswirkungen hätte eine solche postwachstumsökonomische Neu-orientierung für die Organisation eines neuen gesellschaftlichen Systems?

Schauen wir zunächst auf den Mythos der Medizin. Wir hatten hervorgeho-ben, dass dieser Mythos eingewoben ist in die Möglichkeit und das Verspre-chen, die Endlichkeit der Lebensspanne aufzuheben. Dazu ist es erforderlich, dass ein Mensch sich der Expertise und der sozialen Macht der Krankheits-Fachleute und der Expertise und der sozialen Macht des Gesundheitssystems – möglichst bedingungslos – unterordnet. Er soll darüber hinaus nicht selbst zur Behebung seines kritischen Lebensphänomens tätig werden, sondern die Dienstleistungen des Medizin-Komplexes in Anspruch nehmen. Die Umin-terpretation eines kritischen Lebensphänomens in eine „vereinzelbare Krank-heit“, der die Qualität einer „Ware“ zukommt, erfordert, dass an „seiner Krankheit“ und somit an dem Menschen möglichst viele Dienstleistungen des Gesundheitssystems erbracht und finanziell abgegolten werden können.

Eine postwachstumsökonomische Neuausrichtung würde nun vielmehr auf dem Respekt vor der Endlichkeit der Lebensspanne aufbauen. Dies erfordert einen tiefgreifenden Wandel der heute gültigen Mentalität: nämlich, die End-lichkeit des eigenen Lebens und das Sterben und den Tod bewusst zu akzep-tieren. Die Neuausrichtung erfordert einen öffentlichen Diskurs hierzu, in den von jedem Menschen eine verbindliche Abklärung seiner Auffassungen zu diesen Themen eingebettet ist. Mittels dieser Abklärungen könnte ein Mensch widerständig und weniger willfährig hinsichtlich der – scheinbar selbstverständlich gewordenen – Vereinnahmungen des derzeitigen Gesund-heitssystems mit seiner Wachstums-Logik und seiner Waren-Logik werden.

Bei einer Neuausrichtung stellen sich dann u. a. die folgenden Fragen:

− Unter welchen Umständen bin ich bereit, die Endlichkeit meines Lebens hinzunehmen?

− In welchen Lebenssituationen will ich um den Fortbestand meines Le-bens kämpfen?

− Welche Veränderungen meines Lebensstils will ich einleiten und beharr-lich durchhalten, wenn die längerfristige Fortsetzung meines Lebens ge-fährdet ist?

− Was will ich – im Sinne der Subsistenz – lernen, um mich – in welchen Lebenssituationen – aus der „Entmündigung durch Experten“ (Ivan Illich) zu befreien?

− Welche (sozialen, finanziellen, institutionellen) Ressourcen der sozialen Gemeinschaft, die mich trägt, will ich in welchem Umfang für die Meisterung meiner kritischen Lebensphänomene in Anspruch nehmen?

(Kriterium der Suffizienz)

Ein postwachstumsökonomisches Werdens-System ist also nicht mehr im herkömmlichen Sinne „wachstums-orientiert“. Die Begleitung eines Men-schen in den biografiMen-schen Zeiten des Auftauchens kritischer Lebensphäno-mene wird nicht mehr vorrangig auf eine technologische und pharmakologi-sche Intervention reduziert werden. In der Beziehung dieses Menpharmakologi-schen zum neuen Werdens-System wird er nicht länger als „Kunde/Kundin“ interpretiert werden, dem ein Höchstmaß an Dienstleistungen „verkauft“ werden soll.

Sondern die Begleitung des Menschen wird ausgerichtet auf die Klärung der Beziehungen dieses Menschen zu sich selbst, zu seiner sozialen Mitwelt, zu den sozialen Gemeinschaften, denen er angehört, zu seiner ökologischen Mitwelt. – Hier schließt sich also der Kreis zu der kleinen Übung am Anfang dieses Abschnitts, als ich Sie fragte: Womit identifizieren Sie sich?

Vgl.: Dieser Text wird im Dezember 2018 geschrieben – einer Zeit, in der vom Han-del versucht wird, die Menschen in die Verpflichtung zu einem Kaufrausch zu verset-zen. In der Zeitungsausgabe der NWZ vom 18.12.2018 ist zu lesen, dass eine For-schungsstudie darauf hinweist, dass eine „minimalistische Lebensart“ an Zuspruch gewinnt (Klaus-Peter Wiedmann, Univ. Hannover). Bis zu 15 Prozent der Bevölke-rung seien offen für eine minimalistische Lebensart, um sich auf das Nötigste zu konzentrieren und darüber freier und zufriedener zu werden.

Mit einer solchen anderen Ausrichtung des alten „Gesundheitssystems“ ste-hen wir an der Schwelle eines Aufbruchs in eine andere Kultur.