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Die Vorteile des semantischen Raums „Experiment“

„solidarisch“ werden?

4 Die Vorteile des semantischen Raums „Experiment“

Die Formulierung „Ich befinde mich gerade in einem Experiment“ verweist zunächst auf einen Prozess in einer Lebenssituation. In dem Satz ist eine zeitliche Dimension enthalten. Die Dauer des Experiments ist nicht ausge-sprochen, sondern bleibt offen. Das Experiment hat bereits begonnen – auch hinsichtlich des Starts wird keine chronologisch festlegende Aussage vorge-nommen. Es wird also eine Situation eingeführt, die vor allem durch das Merkmal der Offenheit gekennzeichnet ist.

In der vorgeschlagenen Formulierung wird auch nicht ausgesagt, wer alles in das Experiment einbezogen ist. Der Kreis der Personen und Institutionen bedarf noch der näheren Bestimmung. Ebenso bleibt offen, welche (physi-schen, psychi(physi-schen, sozialen, materiellen, „spirituellen“, institutionellen) Ressourcen für die Organisation der Lebenssituation unter der Perspektive

„Experiment“ angesprochen werden (Ressourcen- vs Defizit-Orientierung).

Es werden auch noch keine Hypothesen formuliert, welche Bedingungen („Kräfte“) in der Situation wirksam sind.

All dies verweist auf einen psychischen Prozess der Öffnung anstelle der durch die Diagnose einer „Krankheit“ vorgenommenen Festschreibung und der Verwandlung eines psychischen, physischen, „energetischen“, „bewusst-seinspsychologischen“, sozialen und strukturell beschreibbaren Phänomens in ein festgelegtes vereinfachtes Etwas der Dingwelt. Eine solche Festlegung („Diagnose“) wird zwar vielfach zu einer psychischen Entlastung führen, da der Mensch nun „endlich“ glauben kann zu wissen, „was mit ihm los ist“.

Mit der Beseitigung der Ungewissheit kann der laufende Prozess der fort-schreitenden Demoraliserung aufgehoben werden und es kann die Hoffnung wieder auftauchen, nun könne es auch sofort verfügbare Mittel und Wege geben, um dieses objektivierte, „plausibel“ gewordene Etwas der Dingwelt wirkungsvoll und dauerhaft zu „bekämpfen“, zu beseitigen und in seiner aversiven Bedeutung einzugrenzen. Wir haben es hier also mit dem klassi-schen Vorgang der hilfreichen Komplexitätsreduktion zu tun.

Die Formulierung „Ich befinde mich gerade in einem Experiment“ erfordert dem gegenüber von allen, die in dieses Experiment involviert werden, die Fähigkeit, Offenheit, Ungewissheit, Hypothesengenerierung und Hypothe-senverwerfung zu ertragen. Es wird (zunächst) eher der Modus der Komple-xitätserweiterung denn der Komplexitätsreduktion angefordert.

Zur Komplexitätserweiterung gehört auch die Fähigkeit, über ein breites Spektrum von Modellen zur Beschreibung von Lebensprozessen zu verfügen, unterschiedliche Modellebenen zu kennen und zwischen ihnen navigieren zu können. So wird es nützlich sein, nicht nur das herkömmliche somatomedi-zinische Modell der Pathogenese zu kennen, sondern auch das biopsychoso-ziale Modell, das salutogenetische Modell und das Modell der impliziten Bewusstseinsstrukturen. Ebenso werden „energetische“ Modelle der Be-schreibung von Lebensprozessen oder das Modell des Werdens unverzicht-bar für eine hinreichende Analyse der akut gewordenen experimentellen Lebenssituation gehören. Solche und weitere Modelle werden Aussagen und Annahmen bereitstellen, die von dem Menschen selbst oder einer professio-nellen Werdens-Begleitung an die experimentelle Lebenssituation probe-weise herangetragen werden können.

Wer führt das „Experiment“ durch? Zuständig für das Experiment des Lebens ist zunächst und unaufhebbar jeder Mensch selbst. Es wird jedoch Lebens-situationen geben, in denen ein kundiger Mensch das Experiment eines anderen Menschen begleiten kann oder sogar sollte oder muss.

Es ist noch auszuloten, wo die Grenzen des Vorschlags („Ich befinde mich gerade in einem Experiment“) zu finden sind: Auf welche Phänomene und Lebensereignisse ist er nicht (mehr) anwendbar? Welche alternativen Be-griffe/Konstrukte wären dann zutreffender und zweckmäßiger?

Es darf hier abschließend auch an die Überlegungen von Hans-Georg Gada-mer erinnert werden. Seine zentrale Aussage besteht darin, dass „Gesund-heit“ als eine eigenständige Kategorie in der Lebenspraxis nicht auftaucht, solange Menschen die ihnen „eigentlich“ wesentlichen Lebensziele verfol-gen. Gesundheit ist und bleibt in diesem Tun „verborgen“. Sie kann nur indi-rekt erschlossen werden. „Trotz aller Verborgenheit kommt (die Gesundheit) aber in einer Art Wohlgefühl zutage, und mehr noch darin, dass wir vor lau-ter Wohlgefühl unlau-ternehmungsfreudig, erkenntnisoffen und selbstvergessen sind und selbst Strapazen und Anstrengungen kaum spüren …“ (Gadamer, 1993,138) Auch Gadamer springt damit aus dem semantischen Gefängnis heraus. Es fragt sich dann, unter welchen Bedingungen es dazu kommt, die Kategorie „Gesundheit“ einzuführen: Welche Interessen sind mit einer sol-chen Etablierung der Kategorie „Gesundheit“ verbunden?

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Es ist die Absicht dieses Textes, es zu wagen, andere Perspektiven und an-dere Suchräume zu erkunden. Wir wollen ermutigen, aus den bekannten, uns destruktiv erscheinenden Wegen herauszutreten, sich zuzugestehen, in ein Neuland aufzubrechen und die Freude des Entdeckens zu genießen. Es gilt, tiefe Erdspalten, rauchende Geysire, Gegenwind, Abdrift, Tiefenströmungen und Kontinentalverschiebungen fasziniert zu betrachten. Und behutsam, gelassen und lächelnd einen Schritt vor den anderen zu setzen.

Anmerkungen

1 Wir verzichten in diesem Kapitel auf die vielfältigen Hinweise anderer Autor*in-nen, die den vorgeführten Argumentationsfaden stützen und belegen, ergänzen und erweitern, ihn in historische und ideengeschichtliche Zusammenhänge ein-betten könnten, ihn aber auch kritisieren oder ablehnen könnten.

2 Die EU-Grundrechtecharta formuliert eine analoge Position. Die Union „gründet sich auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität. Sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit.“

3 Die Bedeutung des Solidar-Konzeptes lässt sich in berührender Weise im Film

„Wie im Himmel“ („Sa som i himmelen“, 2004) des schwedischen Regisseurs Kay Pollack erleben. In der Schlussszene stimmt Tore, ein geistig behindertes Mitglied des Kirchenchores, seinen, den ihm eigenen urtümlichen Klang an. Es ist Richard Wagners Beginn der Oper „Rheingold“ – der Es-Dur-Akkord, der Klang, mit dem alles beginnt, aus dem alles entspringt, der Klang, in dem alles noch ungeschieden ist.

„Was ohne Namen, /Ist Anfang von Himmel und Erde; /Was Namen hat, /Ist Mutter den zehntausend Wesen.“ (Lao-tse, Tao-Te-King, Kapitel 1, § 2)

Tores Tönen des Es-Dur-Akkords ergreift zunächst die eigenen Chormitglieder nach und nach. Er „rettet“ damit die Situation, die durch das unerklärliche Fern-bleiben ihres Chorleiters Daniel ausgelöst wird. Von diesem Tönen werden suk-zessive auch alle im Saal anwesenden Mitglieder anderer Chöre, die zu dem weltweiten Gesangswettbewerb „Let the Peoples Sing“ nach Innsbruck gekom-men waren, berührt. Indem die Anwesenden, Mensch für Mensch, sich von ihren Sitzen erheben und in den Es-Dur-Akkord einstimmen, wird offenbar, wie die Situation, die ursprünglich gemäß der Idee eines „Wettstreits“ auf Konkurrenz und Trennung angelegt war, sich wandelt: die Menschen werden von dem Er-leben der Verbundenheit ergriffen und erfüllt und das Trennende zwischen den Chören und Menschen kann verschwinden zugunsten des Klanges eines schließ-lich einstimmigen, all-einigen, in Solidarität innig verbundenen Chores.

Vgl. Konfuzius: „Von Natur sind die Menschen eins. Getrennt werden sie durch ihre Gewohnheiten.“

4 Supiot, A., Mückenberger, U., Allamprese, A. et al. (2018). Die EU muss neu gegründet werden. Ökonomische Freiheiten bedrohen inzwischen alles, auch die Solidarität. Was kann man dagegen tun. Ein französisch-deutsches Manifest.

FAZ, Nr. 221, 22.09.2018, S. 16.

5 Vergleiche dazu den Artikel von Veronika Hackenbroich & Marcel Pauly,

„Hokuspokus – Geld weg! Heiler, Gurus, Scharlatane: Der Boom der Alternativ-medizin“ in DER SPIEGEL, Nr. 34, 18.8.2018, 92–101.

Quellennachweis

Hirschhausen, Eckart von (2018). „Wir sind nicht machtlos gegen das Alter“. FAS, Nr. 39, 30.09.2018.