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Ist ein alternatives Verständnis von Qigong möglich?

Das Existentielle Qigong

2 Ist ein alternatives Verständnis von Qigong möglich?

Wenn ich mich frage, was im Leben eines Menschen wirklich wesentlich ist und was für ihn bedeutsam wird, dann fallen mir die Begriffe Gesundheit und Krankheit nicht zuallererst ein. Um eine andere Antwort auf die obige Frage pointiert auszudrücken:

Wenn es gelingt, das Leben eines Menschen auf die beiden Begriffe

„Gesundheit“ und Krankheit“ zu zentrieren, dann fällt ein Mensch aus der Fülle des ihm möglichen Lebens heraus.

Er kann nun nämlich verfügbar werden für gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Zwecksetzungen. Für Zwecksetzungen also, in denen in der Regel Macht und Herrschaft angestrebt werden.

Ich gehe zur Begründung meiner Annahme von der folgenden Überlegung aus. Mit dem ersten Atemzug wird ein Mensch unweigerlich in eine Vielzahl von Lebenssituationen „geworfen“, deren Qualität er nicht selbst bestimmt.

Diese Lebenssituationen lassen sich u. a. mit den folgenden Fragen andeuten und umschreiben:

− Bin ich willkommen in dieser Welt?

− Darf ich in dieser Welt da sein?

− Werde ich in dieser Welt genährt?

− Werde ich in dieser Welt geschützt?

− Werde ich in dieser Welt gesehen?

− Werde ich unterstützt, mich aufzurichten zu einer „aufrechten und eigen-ständigen“ Haltung?

− Möchte und kann jemand mit mir in dieser Welt überhaupt eine Bezie-hung aufnehmen?

− Möchte und kann jemand mit mir in dieser Welt eine vertrauensvolle, belastbare, über Zweifel erhabene Beziehung aufbauen?

− Werde ich in dieser Welt mein eigenes, einzigartiges Potenzial leben dürfen?

− Unterstützt mich diese Welt unvoreingenommen in der Entfaltung mei-nes „ureigenen“ Potenzials?

− Gibt es in dieser Welt, in die ich hineingeboren werde, solche Qualitäten wie zum Beispiel Schönheit, Würde, Achtung, Rhythmus, mitfühlende ökologische Verantwortung, kosmologische Einbindung, …?

− Wird solchen Qualitäten (Schönheit, Würde, Achtung, Rhythmus, …) Priorität zugesprochen und diese Priorität auch in den für eine Biografie entscheidenden Lebenssituationen durchgesetzt?

− …..

Dies sind Fragen von existentieller Bedeutung. Und es sind Fragen, die sich auf die Grundsituationen allen Menschseins beziehen. Diese Situationen sind nicht aufhebbar, sie sind nicht zu vermeiden, aus ihnen kann man nicht her-ausgehen. Sondern sie stellen sich ohne Ausnahme jedem Menschen. Die Frage ist nun:

Welche Qualitäten werden dem Menschen (spätestens) ab seiner Geburt in den Beziehungsangeboten der oben aufgelisteten existentiellen Fragen kom-muniziert?

Kann sich ein Mensch als „Nesthocker“ in seiner Angewiesenheit auf Hilfe und Unterstützung als willkommen, geschützt, genährt, etc. erfahren oder bildet sich sein Erfahrungsschatz im Erleben von Gleichgültigkeit, Bezie-hungslosigkeit, der Verweigerung von Achtung, Würde, Schönheit, …?

Die fortgesetzten, pathisch angelegten Erfahrungen des neugeborenen Men-schen werden sich zu Mustern verdichten, die in den späteren Lebensjahren, in denen der Mensch dann schon über die Sprache verfügt, gleichwohl nicht unmittelbar verfügbar sind. Die Muster wurden als vorsprachliche Engramme erworben. Sie können (mühsam und unvollständig) erschlossen werden, indem einem Menschen selbst oder seinen Mitmenschen auffällt, dass es

„anscheinend unbegründete“ Gewohnheiten des Fühlens, Denkens und Han-delns gibt. Sie zu verändern, fällt so schwer, dass man zu der Annahme ge-langen könnte, sie würden „zur biologisch verankerten Natur“ dieses Men-schen gehören. Und vielleicht fällt in der Betrachtung der Lebenspraxis eines Menschen auf, dass sie auch in den späteren Jahren „immer noch“ um Fragen kreist, von denen man „eigentlich“ annehmen würde, sie seien „in diesem Alter“ schon längst „erledigt“ („Fixierung“). Solche Menschen zweifeln beispielsweise hartnäckig und abgrundtief, ob sie in diese Welt passen oder ob sie an dem sozialen Ort, an dem sie sich gerade befinden, willkommen sind – auch wenn es dazu an diesem sozialen Ort keine/nicht die geringsten

Die existentiellen Grundsituationen müssen also durchlaufen und gemeistert werden, damit der Mensch offen und frei werden kann für die Entfaltung der Vielfalt der Optionen seines Potenzials. Gelingt eine solche Meisterung nicht, wird das vorsprachliche Muster immer einengend und die Vielfalt der Optio-nen reduzierend in die weitere Entwicklung seines Werdens eingreifen und die Meisterung sowohl in dafür geeigneten wie auch dafür ungeeigneten Lebenssituationen einfordern.

Die intensive Auseinandersetzung mit den existentiellen Grundsituationen hat also absoluten Vorrang im Leben eines Menschen. Sie ist unverzichtbar und sie ist entscheidend für den weiteren Verlauf der Biografie. Der Mensch ist also nicht befasst mit der Frage „Wie kann ich meine Gesundheit verbes-sern?“ oder der Frage „Wie kann ich die Krankheit X überwinden?“, sondern er sucht in seiner leiblichen Präsenz nach zureichenden Antworten zu den existentiellen Grundsituationen. Denn über seine leibliche Präsenz gestaltet sich seine Lebenswirklichkeit:

− Mit ihr ist er in der Welt,

− mit ihr gestaltet er das Bewusstseins-Feld, in dem sich sein Leben voll-zieht,

− in ihr repräsentieren sich die Fülle und Weite seines Fühlens und Den-kens,

− in ihr repräsentiert sich seine kosmische Einbindung,

− mit ihr handelt er im Prozess der Gestaltung seiner Lebenswirklichkeit.

Fazit: Der Gang unserer Argumentation verweist auf zwei Komponenten:

1. Im Leben eines Menschen steht vorrangig die Auseinandersetzung mit den existentiellen Grundsituationen an. Diese Auseinandersetzung kann – verkürzend gesprochen – gelingen oder scheitern. Das Kriterium für ein Gelingen kann in dem Erwerb/dem Erhalt der Offenheit für die Viel-falt der Optionen seines Potenzials gesehen werden. Der Mensch kann sich frei erleben in seinen Wahlmöglichkeiten. Dies kann durchaus eine Erschwernis für die Lebenspraxis bedeuten. Aber ein „freier“ Mensch wird eher die ihm verfügbare vielfältige, in jedem Augenblick erspürbare Optionalität genießen als darunter leiden. Eine Lebensführung, die – von außen betrachtet – wie auf Schienen verläuft, wird von ihm als unpas-send und ihm nicht gemäß erlebt werden. Er will in seiner „Freiheit“

seine sozial und kosmisch eingebundene Authentizität und seine Über-einstimmung mit seinem Werdens-Potenzial entwickeln. Dies klingt wie

ein Paradox – aber es ist gerade diese Komplexität, die das Leben anre-gend und reizvoll werden lässt.

2. Die Meisterung und das Scheitern der Auseinandersetzung mit den exis-tentiellen Grundsituationen geschieht als leibliche Gestalt. In seinem Leib, mit seinem Leib und über seinen Leib erfährt sich ein Mensch in seiner vieldimensionalen und komplexen Lebenswirklichkeit.

Die oben in der Überschrift für diesen Abschnitt gestellte Frage, ob ein alter-natives Verständnis von Qigong möglich sei, kann jetzt bejaht werden. Die beiden eben genannten Komponenten sind integral im Qigong (auch) anwe-send – können jedoch leicht übersehen werden. Wir schlagen deshalb vor, die Interpretation und Rezeption von Qigong als „Medizinisches Qigong“ zu erweitern durch die Einführung einer weiteren Interpretations- und Rezepti-onsperspektive, die wir mit dem Begriff „das Existentielle Qigong“ um-schreiben wollen.