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Der Aufbruch in die Kultur des humanen Werdens

Vom Aufbruch in eine Kultur des humanen Werdens

7 Der Aufbruch in die Kultur des humanen Werdens

− Es gilt ein soziales Klima der Achtung und Wertschätzung zu erzeugen;

in ihm wird die Ausbeutung anderer Menschen weder geduldet noch akzeptiert oder sogar systemimmanent als „clever“ und „normal“

angesehen.

− In einer Kultur des Werdens werden die Menschen sich als zuständig für die Suffizienz und Subsistenz ihrer Lebenspraxis begreifen. Insofern werden sie sich nicht durch eine zunehmende Expansion von Dienstleistungen in alle Lebensbereiche hinein entmündigen lassen.

Siehe die Tabelle mit einem Vergleich der Beschäftigungsstruktur von 1970 mit dem Jahr 2012: Beachte den Anstieg des Bereiches „Dienstleistung“

von 45 % auf 74 %.

In einem Zeitalter der zunehmenden Digitalisierung wird die Expansion von Dienstleistungen einerseits zur totalen Überwachung und Gängelung des Menschen führen und andererseits zu seiner zunehmenden Verblödung und In-fantilisierung. Die im Gewand der „bequemen Erleichterung“ oder der „ge-währleisteten Sicherheit“ daherkommenden Dienstleistungsangebote werden dazu führen, dass die Menschen immer abhängiger werden vom Einkauf von Waren und Dienstleistungen. Die Freude am Selbst-Tun und an der Selbstwirk-samkeit wird unterlaufen und ausgehöhlt. Schließlich investieren die Menschen ihr Einkommen in den Erwerb von fremdgesteuerten Angeboten, – sie werden von sich selbst entfremdet, – sie leben das Leben der anderen.

Vgl. Helen und Scott Nearing. Ein gutes Leben leben. Band I: 1970, Band II: 1979.

Darin die 4-4-4-Regel: „Wir beginnen unsere Liste der Eigenarten des guten Lebens mit unserer vier-vier-vier-Regel: vier Stunden Brotarbeit, vier Stunden beruflicher

Aktivität und vier Stunden, die der Erfüllung unserer Verpflichtungen und Verantwor-tungen als Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft gewidmet sind und der Teil-nahme an verschiedenen lokalen, regionalen, nationalen und weltbürgerlichen Akti-vitäten.“ Bd. II, S. 136.

Der Werdens-Begriff, wie wir ihn hier verwenden wollen, ist jedoch noch wei-ter. Er enthält ein Paradoxon. Das Werden eines Menschen bezieht sich nicht nur auf die Entfaltung seines individuellen Potenzials. Sondern es geht um seine Einbettung in ein kosmisches Geschehen. Jeder Mensch ist ein Ex-periment des Kosmos. Der Kosmos erfährt sich in dem jeweils einzigartigen Leben eines Menschen. Jeder Mensch ist immer auch Ausdruck des Kosmos.

Es gibt somit nicht die Aufteilung von „ich hier“ und „dort draußen“ die

„Umwelt“. Wir sind untrennbar mit allem verbunden. Das Paradoxon „unter-wegs angekommen“ kann also ergänzt werden durch das Paradoxon „irdisch kosmisch“: Mein irdisches Leben ist zugleich in ein übergreifendes kosmisches Geschehen eingebettet. Wenn wir jetzt das Sterben der Insekten beklagen, das durch landwirtschaftliche Monokulturen und die extensive Verwendung von Gift in der Agrarindustrie bedingt ist, dann sind es nicht die Insekten „da draußen“, die sterben, sondern es ist ein integraler Teil unseres Lebens.

Die Kultur des Werdens baut also auf der Gemeinschaft mit allem Lebendi-gen auf, nicht nur auf dem Gemeinwohl für den Menschen. Wir müssen uns verabschieden von der Auffassung, dass um uns herum „Dinge“ sind, die mit uns nicht verbunden sind, – die wir nach Belieben nutzen und ausbeuten kön-nen, denn es seien ja nur „Dinge“. Es gibt nur diese eine Welt, in der alles gegenseitig aufeinander angewiesen ist. Wir leben in symbiotischer Gegen-seitigkeit.

Damit eine Kultur des Werdens entstehen kann, muss das Paradoxon „ich bin irdisch und zugleich kosmisch“ nicht nur kognitiv gewusst werden. Sondern es muss aus der Erfahrung heraus gelebt werden können. Es braucht unabdingbar die Erfahrung des Paradoxons „irdisch kosmisch“. Das wiederum setzt voraus, dass die Menschen in den gesellschaftlichen Bildungseinrichtungen lernen könnten, sowohl ihre Ichhaftigkeit zu entwickeln als auch – wie dies in den meditativen Wegen geschieht – die Relativität dieses „alltäglichen“ Bewusst-seinszustandes zu erleben. Der Bewusstseinszustand der engen und einge-grenzten Ichhaftigkeit (i. e. des Alltags-Wach-Bewusstseins) ist nur ein kleiner und spezifischer Bereich aus dem Spektrum der möglichen Bewusstseinszu-stände. Je mehr ein Mensch lernt, seine Ichhaftigkeit zu weiten, desto mehr wird er intensiv erfahren, wie verbunden er mit anderen Menschen, Tieren und Pflanzen ist: „Sich verbunden erfahren“ nicht als eine Schwärmerei, sondern

der Verbundenheit steht in völligem Kontrast zur kapitalistischen Erlaubnis der dinghaften Ausbeutung von Mensch und Natur, wie sie derzeit rücksichtslos und grenzenlos praktiziert wird. Für eine Kultur des Werdens ist also die Be-wusstseinsbildung als fünfte Leitidee unverzichtbar.

Eine Kultur des humanen Werdens zu entwickeln, ist somit kein privatistisches Projekt, das moralische Appelle an den einzelnen Menschen sendet oder in einem Beratungszimmer stattfindet. Es ist ein politisches Projekt, das die Grundannahmen des derzeitigen Gesellschaftsvertrags in Frage stellt und den bestehenden destruktiven Konsens stört. Die Konversion des derzeitigen

„Gesundheitssystems“ und der derzeitigen „Gesundheitswirtschaft“ in ein Organisationsmodell, das einer Kultur des humanen Werdens entspricht, wird deshalb auch wesentliche Kriterien der Postwachstumsökonomie aufgreifen müssen. Für dieses neu zu schaffende gesellschaftliche Subsystem schlagen wir die Bezeichnungen WERDENS-WESEN oder WERDENS-SYSTEM vor.

Vgl. dazu aus naturwisswissenschaftlicher Perspektive den Nachweis der „kosmi-schen Einbindung und Verwobenheit“ des Men„kosmi-schen, der u. a. mit der ersten direkten Messung der Gravitationswellen im September 2015 gelang – so wie sie Albert Ein-stein in der Allgemeinen Relativitätstheorie vorhergesagt hatte. Die Menschen

neh-men diese kosmische Einbindung im Alltag nicht wahr: sie ist im alltäglichen Be-wusstseinszustand nicht spürbar. – Mitteilung der LIGO-Kollaboration vom 11.02.2016, Rainer Weiss, Barry Barish & Kip Thorne

Vgl. zum Thema der „kosmischen Einbindung und Verwobenheit“ des Menschen, ebenfalls aus naturwissenschaftlicher Sicht: Vor etwa 18.000 Jahren wurden im Stern-bild Schwan die äußeren Schichten eines Neutronensterns („Schwarzes Loch“) als Supernova in den Weltraum gesprengt. Die Trümmerwolke wabert wie der abge-bildete „Schleier-Nebel“ in einer Entfernung von 2.000 Lichtjahren durch den Welt-raum und bringt dort vorhandenes Gas zum Aufleuchten. Bei einer solchen Explosion wird die „kosmische Evolution“ vorangetrieben: Es entstehen die schwereren Ele-mente wie Sauerstoff, Stickstoff, Kohlenstoff und Eisen. Sie sind nicht mit dem Ur-knall entstanden, sondern wurden erst in den Sternen erbrütet. Der Mensch ist deshalb mit den in seinem Organismus enthaltenen Elementen „lebender Sternenstaub“ und insofern „himmlischen“ Ursprungs.