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Die leibliche Präsenz in existentiellen Grunderfahrungen

Menschen begegnen in ihrem Leben unabweisbar Situationen, die sich durch eine urtümliche Struktur auszeichnen. Was sind das für Situationen? Zu-nächst: Wir sind seit unserer Geburt in dieser Welt anwesend, ursprünglich eigentlich als ein „ganzer“ Mensch. Oder wenn wir die in unserer Kultur ge-bräuchliche Aufteilung nutzen: Wir sind anwesend mit „Leib“ und „Seele“

und „Geist“.

Es gibt also die Ur-Situation aller existentiellen Grund-Situationen:

Ich bin da in dieser Welt.

Mit dem nicht hintergehbaren Da-Sein in dieser Welt als einem noch hilflo-sen „Nesthocker“ (Adolf Portmann, 1941) beginnt eine Reihe von Fragen zu weiteren existentiellen Grundsituationen. Ich möchte 7 Beispiele hier anfüh-ren.

Nach der ersten existentiellen Grundsituation lässt sich so fragen:

Ist jemand für mich da in dieser Welt? Werde ich als da-seiender Mensch

„ganz“ wahrgenommen? Wird für mich in meiner Hilfsbedürftigkeit als Neu-geborenes (und dann auch im weiteren Verlauf meiner Biografie) in dem Da-Sein eines anderen Menschen und in der Qualität der Beziehung zu einem anderen Menschen leiblich erspürbar, dass es mich als „ganzen Menschen“

gibt?

Dieses Erspüren zeichnet sich durch zwei besondere Merkmale aus:

1. Die Qualitäten des leiblichen Erspürens werden zunächst als vorsprach-liche Konzepte abgebildet und gespeichert.

2. Ich sagte, in der Beziehung zu einem anderen Menschen sollte erspürbar werden, dass es mich als „ganzen Menschen“ gibt. Dies ist eine Formu-lierung im Indikativ. Zutreffender wäre eine FormuFormu-lierung, welche die 5 Modalitäten dieses „gibt“ präzisiert, nämlich dass es mich „geben kann“, „geben darf“, „geben soll“, „geben will“, „geben muss“.

Die Frage zu einer zweiten existentiellen Grundsituation könnte lauten:

Ist für mich als ein zunächst vorsprachliches Konzept leiblich erspürbar, dass ich willkommen bin in dieser Welt als „ganzer Mensch“?

Die Frage nach einer dritten Grundsituation lässt sich so formulieren:

Ist für mich leiblich erspürbar, dass ich in dieser Welt geschützt werde als

„ganzer Mensch“?

Eine vierte Grundsituation:

Ist für mich leiblich erspürbar, dass ich in dieser Welt genährt werde als

„ganzer Mensch“?

Eine fünfte existentielle Grundsituation lässt sich in der Frage abbilden:

Ist für mich leiblich erspürbar, dass ich mich als „ganzer Mensch“ in dieser Welt aufrichten kann?

Nach einer sechsten Grundsituation lässt sich so fragen:

Ist für mich leiblich erspürbar, dass ich mich als „ganzer Mensch“ in dieser Welt „einfach so da-seiend“, naiv und angstfrei öffnen kann und in dieser Welt „einfach so da-seiend“ behaupten kann? (Als anthropologische Grund-kategorie: das Verbundensein und Eingebundensein nach „vorne“ und „hin-ten“, als Verknüpfung und Hochzeit von „Zukunft“ und „Vergangenheit“ im

„Jetzt“.)

Mit der Frage zu einer siebten Grundsituation will diese Beispielsammlung (vorerst) abschließen:

Können sich „reine“ Qualitäten wie Schönheit, Klarheit, Verbundenheit oder

„Liebe“ in diesem da-seiendem Entfaltungs-Geschehen leiblich erspürbar ansiedeln?

Mit solchen Fragen sind anthropologische „Grund-Situationen“ im Leben eines Menschen verbunden. Man könnte auch von archetypischen Situationen sprechen. Die Erfahrungen, die wir in solchen grundsätzlichen Situationen machen, sind von existentieller Bedeutung. Ich nenne solche Erfahrungen deshalb „existentielle Grund-Erfahrungen“. Diese Situationen gehören „ein-fach“ zum Leben. Man kann sie nicht auslassen. Man kann nicht auf sie ver-zichten wollen oder sich ihnen entziehen. Oder sagen: „Diese Situation will ich nicht!“ Oder: „Diese Situation gefällt mir nicht.“

Die Erfahrungen in solchen Grund-Situationen sind immer auch kulturell geprägt und ausgestaltet. Sie sind somit nicht nur individuell geformt, son-dern sie sind – den individuellen Erfahrungsraum übersteigend – eingebettet in übergreifende historische, epochale, „strukturelle“ Gegebenheiten (z. B.

Frieden vs Krieg, Überfluss vs Kargheit, Strenge vs Laissez faire, Gleichheit vs Ungleichheit, Willkür vs Diskurs, Liebe vs Gleichgültigkeit, Gier vs Em-pathie, Patriarchat vs Matriarchat, eine Zeit beschleunigten kulturellen und gesellschaftlichen Wandels vs eine Zeit der Konsolidierung und der „Ruhe“, eine Zeit der technologischen Umbrüche und „Revolutionen“ vs eine Zeit der gewohnten und tradierten Techniken, eine Zeit globaler Veränderungen vs eine Zeit des „lokalen Horizonts“, eine Zeit der gefühlten Ruhe und Sicher-heit vs eine Zeit der gefühlten Bedrohung, eine Zeit des Lebens in einer ge-fühlten „heimatlichen“ Geborgenheit vs eine Zeit des gege-fühlten Verlustes von

„Heimat“ in relevanten Lebensfacetten, usw.). Diese werden somit zu – möglichweise prägenden – Voraussetzungen für den individuellen Gestal-tungsraum. Die Anwesenheit, die Einflussstärke und die Wirksamkeit dieser strukturellen Gegebenheiten unterliegen also nicht der – meist gewünschten – vollständigen individuellen Kontrolle.

Die existentiellen Grund-Erfahrungen machen wir jedoch nicht nur sozusa-gen im Kopf, sondern immer in und mit unserem Leib. Wir sind in all diesen Situationen mit unserem Leib präsent. Im „Normalfall“ können wir unseren Leib nicht aus diesen Situationen entfernen.

Wir können also sagen:

Die „leibliche Präsenz existentieller Grunderfahrungen“

ist ein unaufhebbares Faktum.

In der professionellen Begleitung eines Menschen sind all die angeführten existentiellen Grund-Situationen und die zugehörigen vorsprachlichen, leib-lichen Erfahrungsmuster aus diesen Grund-Situationen immer anwesend. Sie bilden die Basis für alle weitergehenden Entwicklungen eines Menschen.

Deswegen ist es unverzichtbar, solche Grund-Situationen und die zugehöri-gen Grund-Erfahrunzugehöri-gen bei sich selbst als professionellem Begleiter aufzuru-fen und zu versuchen, sie in ihrer „urtümlichen“ Leiblichkeit zu erspüren.

Es gibt eine Reihe von Programmen der Selbsterfahrung, die mit dem Merk-mal „achtsam“ beschrieben und damit von anderen Programmen abgehoben werden. Im Amerikanischen hat sich dafür der Begriff „mindfulness“

einge-bürgert. So gibt es die „Mindfulness based stress reduction“ (MBSR) oder die

„Mindfulness based cognitive therapy“ (MBCT).

Siehe zur MBSR die Publikationen von Jon Kabat-Zinn ab 1982: An out-patient program in Behavioral Medicine for chronic pain patients based on the practice of mindfulness based meditation. Theoretical considerations and preliminary results.

General Hospital Psychiatry, 4, 33–47. Zur MBCT: Segal, Z.V., Williams, J.M.G. &

Teasdale, J.D., 2002. Mindfulness-based cognitive therapy for depression: a new approach to preventing relapse. New York: Guilford Press.

Die hier vorgeschlagenen „Übungen“ zur Erfahrung der „leiblichen Präsenz existentieller Grunderfahrungen“ sollen eher als „achtsame Leiberfahrung“

bezeichnet werden. Sie sollten also eher mit dem Begriff der „bodyfulness“

belegt werden.

Ferrer, Jorge (2007). Verleiblichte Spiritualität – Embodied sprituality. In Belschner, W., Büssing, A., Piron, H. & Wienand-Kranz, D. (Hrsg.), Acht-samkeit als Lebensform. Münster: LIT. 85–104.