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3. Konzept Lebensqualität

3.3. Lebensqualität im Kontext einer Behinderung

Im Kontext der Arbeit wird Lebensqualität definiert als „die subjektive Erfah-rung von Wohlbefinden“ (BECK 2000, 364). Objektive Lebensbedingungen, wie Einrichtungs- und Unterstützungsstandards sind eine beeinflussende Kompo-nente dieses Wohlbefindens (vgl. ebd., 364). Aufgrund des gesetzten For-schungsfokus (vgl. Kap. 4.) werden im weiteren Verlauf die Termini subjektive Lebensqualität und subjektives Wohlbefinden parallel verwendet, mit der „Klar-heit darüber, daß Lebensqualität bzw. individuelle Wohlfahrt den Zusammen-hang von objektiven und subjektiven Komponenten beinhaltet“ (ZAPF 1984, 23).

ei-nen gesellschaftlichen Mentalitätswandel zur Folge hat. Die aufkommende Pri-orisierung der Wirtschaftlichkeit und Bezahlbarkeit verunsichert Einrichtungen der Behindertenhilfe, der Sozialarbeit und der gesundheitlichen Versorgung.

„Konkret werden finanzielle Mittel gekürzt, Stellen abgebaut, Gruppen- und Klassenstärken in Heimen und Schulen heraufgesetzt. Einrichtungen müssen schließen, andere sehen sich in ihrer Existenz bedroht. (…) Aus Finanzie-rungsgründen werden organisatorische Umschichtungen erwogen oder be-reits praktiziert, z.B. die Umwandlung von Wohnheimen in Pflegeheime. Dabei ist klar, daß mit Qualitätsminderungen zu rechnen ist“ (SPECK 1999a, 13).

Entscheidungen werden überwiegend aus Kostengründen getroffen, um den Kostendruck zu minimieren. Die Notwendigkeit der Maßnahmen und Hilfen wird hinterfragt und utilitaristisch überprüft. Dabei gerät die individuelle Le-bensqualität oftmals aus dem Blickfeld. Das subjektive Wohlbefinden einer Person sowie deren Belange und Bedürfnisse (z.B. Fördermaßnahmen, The-rapiegeräte und -anwendungen) bleiben unberücksichtigt und werden auf den individuellen Mehrwert hin kaum noch überprüft (vgl. SPECK 1999a, 25). Dem daraus resultierenden Versagen von Hilfen oder deren Einschränkung muss entschieden entgegengetreten werden (vgl. BECK 2006, 378).

Die Lebensqualität von Menschen mit geistiger Behinderung wird durch die oft lebenslange Abhängigkeit maßgeblich von der Qualität professioneller Hilfen bzw. der Qualität der entsprechenden Einrichtungen beeinflusst. Zwar hat sich die Situation von Menschen mit geistiger Behinderung durch die jahrzehnte-lange Konzeptionierung und Durchsetzung verschiedener Leitvorstellungen – in diesem Zusammenhang sind die Leitideen Normalisierung, Selbstbestim-mung und Partizipation sowie Integration/Inklusion anzuführen – gebessert;

der Beurteilung von Lebensqualität dieses Personenkreises kommt jedoch nach wie vor ein besonderer Stellenwert zu. Fachliche Standards, Qualitäts-entwicklung und -beurteilung sozialer Dienste in unbedingter Orientierung an alltäglichen Lebensbedingungen der einzelnen Personen sind dabei zentrale Themen in heil- und sonderpädagogischen Disziplinen (vgl. BECK 2000, 348ff).

Insbesondere in der Geistigbehindertenpädagogik wurde Lebensqualität im Zuge ethischer Fragestellungen und Kontexten thematisiert und kontrovers diskutiert (vgl. DWORSCHAK 2004, 39). Begriffliche Zuschreibungen bzw. Defi-nitionen der Lebensqualität von Menschen mit schweren Behinderungen er-wiesen sich dabei als äußerst heikel. Ethische Überlegungen bezüglich des

Lebensrechtes bzw. Lebenswertes von Menschen mit schweren Behinderun-gen kamen erneut zur Diskussion (v.a. durch die 1994 von Peter Singer pro-pagierte „Praktische Ethik“). In diesem Zusammenhang stellen die in der Lite-ratur befindlichen Begrifflichkeiten ‚Lebensqualität‘ (‚quality of life‘) und ‚Quali-tät eines Lebens‘ (‚quality of a life‘) eine verhängnisvolle Verknüpfung dar. Eine Vermeidung dieser Begriffe und eine begriffliche Neudefinition wurden an ver-schiedenen Stellen bereits gefordert (vgl. SEIFERT 1997, 79; DWORSCHAK 2004, 39). SPECK (1993, zit. n. DWORSCHAK 2004, 39) plädiert in diesem Zusammen-hang für ein umfassendes und ganzheitliches ethisches Verständnis in der Be-wertung von Lebensqualität. Entscheidend sei dabei „die Gültigkeit des Sub-jektiven, d.h. die Orientierung an den individuellen Bedürfnissen des Einzel-nen“ (DWORSCHAK 2004, 39). In diesem Zusammenhang sei eine Fokussie-rung der Beeinträchtigung des Menschen unbedingt zu vermeiden. Diese darf zwar nicht völlig unberücksichtigt bleiben, eine generelle Einschätzung als le-bensqualitätsmindernd und eine Reduzierung auf diese darf jedoch unter kei-nen Umständen festgesetzt werden (vgl. BECK 2006, 378).

„Ein zentrales und historisch relativ stabiles Motiv bei der Wahrnehmung von Menschen mit geistiger Behinderung ist deren Deutung als Zustand des Lei-dens, der mit einer Minderung der Lebensqualität und einer Zuschreibung von

‚lebensunwert‘ oder ‚nicht lebenswert‘ einhergehen kann“ (DEDERICH 2014, 39f).

Daher ist die Orientierung am Menschen mit geistiger Behinderung unabding-bar und notwendig (vgl. DWORSCHAK 2004, 40). Hilfen und Unterstützungsleis-tungen können im Zuge qualitätssichernden Maßnahmen identifiziert werden, müssen jedoch immer individuell auf die Bedürfnis- und Interessenslage der Person angepasst sein, an die sie sich richten. Eine Übereinstimmung der Wünsche und Erwartungen jedes Einzelnen sollte in diesem Zusammenhang unbedingte Berücksichtigung finden (vgl. SCHWARTE & OBERSTE-UFER 2001, 14).

In sonderpädagogischen Handlungsfeldern stellt insbesondere die Lebens-qualität von Menschen mit geistiger Behinderung einen bedeutenden und wichtigen Faktor dar. Dabei rücken entsprechende Lebensqualitätskonzepte und Auffassungen über ein gutes Leben von Menschen mit erhöhtem Hilfebe-darf in den Fokus diverser Forschungsbemühungen, wobei eine konkrete

son-derpädagogische Ausrichtung hinsichtlich der subjektiven Lebenszufrieden-heit desiderat zu sein scheint (vgl. HOYNINGEN-SÜESS/OBERHOLZER &STALDER

2007, 88ff).

„So vielfältig das Verständnis dessen ist, was ein ‚gutes Leben‘ ausmacht, so unterschiedlich sind auch die entwickelten Ansätze zur konzeptuellen Präzi-sierung und OperationaliPräzi-sierung von Lebensqualität“ (SCHÄFERS 2008, 26).

Durch die starke interdisziplinäre Ausrichtung der Lebensqualitätsforschung existieren viele unterschiedliche Modelle zur Messung von Lebensqualität, die grundsätzlich aus zwei forschungsmethodologischen Bereichen resultieren.

Die gesundheitsbezogene Lebensqualitätsforschung fokussiert Gesundheit als lebensqualitätssichernden Zustand. In diesem Verständnis ist Lebensqua-lität multidimensional und umfasst körperliche, emotionale, mentale, soziale, spirituelle und verhaltensbezogene Aspekte. Ausgerichtet im Bezugsrahmen der klinischen Medizin bis hin zur Gesundheitsökonomie entstanden seit den 1980er-Jahren hoch differenzierte und validierte Messinstrumente22. Der zweite Bereich, die Wohlfahrtsforschung, orientiert sich an der Sozialbericht-erstattung. Zu Beginn der Wohlfahrtsbewegung war die Ausrichtung aus-schließlich auf das wirtschaftliche Wachstum fokussiert, das als entscheiden-der Faktor für Lebensqualität galt (vgl. Kap. 3.1.). Der rein ökonomische Be-trachtungsrahmen wurde im Laufe der Jahre durch gesellschaftliche Rahmen-bedingungen ergänzt und „es entstanden differenzierte, mehrdimensionale Konzepte von Wohlfahrt, die individuelles Wohlbefinden, Lebensqualität und Verteilungsgerechtigkeit mit einem neuen Ansatz des so genannten ‚qualitati-ven Wachstums‘ zu verbinden und die Benachteiligung verschiedener Grup-pen, Regionen und Lebensbereiche auszugleichen suchten“ (HOYNINGEN-S

Ü-ESS/OBERHOLZER &STALDER 2007, 89). Immaterielle, kognitive und emotionale Aspekte fanden in diesen Modellen Berücksichtigung; die notwendige

22 Die populärsten sind die Instrumente zur Erfassung der Lebensqualität der WHO (WHOQOL-100/-BREF) oder der European Quality of Life Questionnaire-Gruppe (EuroQOL), um nur diese zu nennen. WHOQOL-100 und WHOQOL-BREF wurden zur Messung der Le-bensqualität von erwachsenen Menschen mit und ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen entwickelt. Die Erhebung erfolgt über das Ausfüllen eines Fragebogens (vgl. KILIAN 2003, 324). EuroQOL oder EQ-5D wurde ebenfalls für den Erwachsenenbereich konzipiert. Bisher wurde er v.a. in gesundheitsökonomischen Studien, aber auch in klinischen und pharmakolo-gischen Untersuchungen eingesetzt (vgl. SCHUMACHER 2003, 86).

heit objektiver Lebensbedingungen und deren subjektive Bewertung wurde er-kannt. Daraus entstand ein differenziertes Indikatorensystem, das analytisch zuverlässig ist und sich statistisch bewährt hat.

Erhebungsinstrumente zu sonderpädagogischen Lebensqualitätserfassungen orientieren sich an den beiden genannten forschungsmethodologischen Be-reichen (gesundheitsbezogene Lebensqualitätsforschung sowie Wohlfahrts-forschung) (vgl. ebd., 88ff). Verdeutlicht wird das besonders durch die von S

EI-FERT (2006) weiterentwickelten Lebensqualitätsindikatoren (Tab. 9), die so-wohl gesundheitliche Aspekte als auch wirtschaftliche und materielle Stan-dards umfassen. Es werden objektive Lebensbedingungen, subjektives Wohl-befinden und persönliche Werte und Ziele integriert (vgl. SEIFERT 2002, 203).

Physisches Wohlbefinden

Soziales Wohlbefin-den

Materiell bedingtes Wohl-befinden

Entwicklung und Aktivität

Emotionales Wohlbefinden

Gesundheit Körperpflege Ernährung Bewegung Entspannung Persönliche Si-cherheit

Persönliche Beziehungen Interaktion Anerkennung Kommunika-tion Wertschät-zung Soziale In-tegration

Umgebung Räumlichkeiten Ausstattung Eigentum Bevorzugte Ge-genstände Individuelle Nut-zung des Raums

Tagesstruktur Aktivitäten Partizipation Vorliebe, Gewohn-heiten, Interessen Mitwirkung bei All-tagstätigkeiten Selbstbestimmung

Ausdruck von Gefühlen Achtung durch andere Psychische Be-findlichkeit Sicherheit Stress Sexualität

Tab. 8: Lebensqualitätsindikatoren (nach SEIFERT 2006, o.S.)

Die aufgelisteten Indikatoren dienten in der Kölner Lebensqualität-Studie (vgl.

SEIFERT/FORNEFELD &KOENIG 2001) als Leitfaden zur Beobachtung zentraler Aspekte des Alltags der Bewohner stationärer Wohn- und Pflegeheime mit der primären Ausrichtung auf die subjektive Lebensqualität des Personenkreises von Menschen mit schwerer geistiger Behinderung (vgl. SEIFERT 2006). Die Probanden der Studie hatten zudem erhebliche Mehrfachbehinderungen und waren in ihren kommunikativen Fähigkeiten stark eingeschränkt; die meisten kommunizierten auf nonverbaler Ebene. Um eine möglichst mehrperspektivi-sche Darstellung der Alltagswirklichkeit gewährleisten zu können, wurden ver-schiedene (quantitative und qualitative) methodische Verfahren angewandt:

Fragebögen zur Erfassung von Strukturdaten der Einrichtungen, teilnehmende

Beobachtungen im Gruppenalltag, problemzentrierte Interviews und informelle Gespräche, Auswertung relevanter Dokumente (u.a. Konzeptionen, Bewoh-nerakten, Entwicklungsberichte) (vgl. SEIFERT 2002, 206f; SEIFERT/FORNEFELD

&KOENIG 2001, 119).

SCHÄFERS (2008) nimmt in seiner Studie eine umfangreiche und systematische Analyse englisch- und deutschsprachiger Erhebungsinstrumente vor, die sich explizit auf die Lebensqualität von Menschen mit geistiger Behinderung aus subjektiver Perspektive konzentrieren. In der Analyse der Vor- und Nachteile unterschiedlicher Instrumente hinsichtlich der Kriterien: „inhaltliche Aspekte (Lebensqualitätsdimensionen und -indikatoren), sprachliche Gesichtspunkte (verständliche Sprache, einfacher Satzbau etc.), formale Struktur der Instru-mente (benutzte Frage- und Antwortformate, Skalierung der Items, Skalen-struktur), Reliabilität, Validität und Sensitivität“ (ebd., 103) resümiert er, dass die Konzeption und Entwicklung adäquater Instrumente ein diffiziles Unterfan-gen ist. Die dem Personenkreis entsprechenden AnforderunUnterfan-gen machen eine ständige Überarbeitung und Weiterentwicklung bestehender Konzepte unab-dingbar und notwendig. Darüber hinaus ist primär ausschlaggebend für die Wahl oder Konstruktion eines Erhebungsinstrumentes, welche Hintergründe, Fragestellungen und Zielsetzungen das Forschungsvorhaben verfolgt (vgl.

ebd., 101ff). Unter Berücksichtigung der gewonnenen Erkenntnisse konzipiert er ein eigenes Instrument auf der Basis sieben verschiedener, bereits erprob-ter Instrumente zur Erhebung von Lebensqualität (vgl. ebd., 197) und überprüft es anhand einer Stichprobenauswahl auf interne und externe Validität, was als die Hauptzielsetzung seiner Studie gilt (vgl. ebd., 188). Einschlusskriterien für die Teilnehmer definiert er wie folgt:

„1. mindestens 20 Jahre alt sein,

2. seit mindestens einem Jahr in der jeweiligen stationären Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung wohnen,

3. sich freiwillig zur Teilnahme an der Befragung bereit erklärt haben,

4. über ein Mindestmaß an passiver und aktiver Sprachkompetenz verfügen“

(ebd., 189).

Beide vorgestellten Konzepte von SEIFERT/FORNEFELD &KOENIG sowie S

CHÄ-FERS zeigen einen umfassenden Zugang zu lebensqualitätsfokussierten For-schungsvorhaben. Sie erfassen sowohl objektive als auch subjektive Kriterien

der Lebensqualität von Menschen mit geistiger Behinderung bzw. schwerer geistiger Behinderung und fokussieren die Abhängigkeit des entsprechenden Personenkreises von institutionellen Strukturen. Eine bestimmte Alterskohorte bleibt in beiden Studien unberücksichtigt, dabei ist die Lebensphase Alter von Menschen mit geistiger Behinderung hinsichtlich ihrer Lebensqualität noch we-nig erforscht. WACKER (2005) konstatiert, dass die Lebenssituationen und -be-dingungen der alten Menschen oft nicht förderlich für ein erfolgreiches Altern und institutionelle Konzepte unzureichend auf deren Bedürfnisse ausgerichtet sind. Es fehlen Konzepte, um den Bedürfnissen von Menschen mit geistiger Behinderung im Alter gerecht zu werden und ihnen damit eine gute (subjek-tive) Lebensqualität sicherzustellen (vgl. ebd., 340).

3.4. Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit geistiger