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2. Lebensphase Alter

2.3. Dimensionen des Alterns von Menschen mit und ohne geistige

2.3.3. Soziologische Aspekte des Alterns

2.3.3.1. Aktivitäts- oder Ausgliederungstheorie

Die Aktivitätstheorie begründet altersbedingte Abbauprozesse durch gesell-schaftliche Ausgrenzung der Person (vgl. KROHN 1978, 54) und folgt der An-nahme, dass im hohen Alter nur diejenigen zufrieden und glücklich sein kön-nen, die ein aktives Leben führen13 (vgl. LEHR 2003, 57). Mit dem Ausscheiden aus dem Berufsleben beginnt nicht zwangsläufig eine Phase der Inaktivität und des Rückzuges (vgl. OPASCHOWSKI &REINHARDT 2007, 40).

„Die Aktivitätstheorie geht davon aus, dass auch der alte Mensch nur glücklich und zufrieden sein kann, wenn er aktiv ist, etwas leisten kann und von anderen Menschen gebraucht wird“ (BUCHKA 2003, 135).

MOLLENKOPF & ENGELN (2008) konstatieren (und beziehen sich in ihren Aus-führungen auf OBERLIN (1984)), dass mit dem Eintritt in den Ruhestand eine Suche nach neuen Aufgaben und Verantwortlichkeiten für die betroffenen Per-sonen beginnt. Diese Aufgaben können bspw. individuelle Hilfeleistungen zur Lebens- und Alltagsbewältigung für Freunde und Verwandte sein, aber auch Ehrenämter und nachberufliche Erwerbsarbeit (vgl. MOLLENKOPF & ENGELN

2008, 244). Die Generali Altersstudie 2013 hat ergeben, dass sich derzeit 45 Prozent der 65- bis 85-jährigen bürgerschaftlich in verschiedenen gesellschaft-lichen Bereichen engagieren (bspw. in Kirche, Freizeit und Geselligkeit, Sport und Bewegung, Kultur und Musik, sozialer Bereich) und sich sogar vorstellen können, dieses Engagement noch weiter zu steigern. Sie unterstreichen damit die mehrheitliche Auffassung, noch eine Mitverantwortung für gesellschaftli-che Entwicklungen und Lebensbedingungen zu tragen, die nicht allein auf jün-gere Generationen projiziert werden kann (vgl. KÖCHER & BRUTTEL 2012, 341ff).

13 Gestützt wurde diese Auffassung von verschiedenen Studien, u.a. von MADDOX (1963) so-wie LIPMAN und SMITH (1968), durch die ein nachweisbarer Zusammenhang zwischen Aktivität und Zufriedenheit im Alter festgestellt werden konnte (vgl. SCHNEIDER 1974, 94).

„Durch ihr ehrenamtliches und freiwilliges Engagement leisten ältere Men-schen einen erheblichen Beitrag zum Gelingen von Gesellschaft“ (KRUSE

2012, 372).

Das jeweilige Engagement hängt eng mit dem gesundheitlichen Status der Person zusammen: je gesünder die Senioren sind, desto aktiver ist ihr Enga-gement (vgl. KÖCHER &BRUTTEL 2012, 350). Es zeigt sich somit, dass „die Be-deutung der eigenen gesundheitlichen Konstitution als Schlüsselfaktor für ein aktives Leben und die gesellschaftliche Teilhabe“ (ebd., 350) eine entschei-dende Rolle spielt.

Jeder Art von Engagement kann eine elementare Bedeutung beigemessen werden: durch das Hervorrufen eines Gefühls des Dazugehörens und des noch-gebraucht-werdens wird das eigene Wohlbefinden positiv beeinflusst (vgl. MOLLENKOPF &ENGELN 2008, 244). Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit, den Tag sinnvoll und sinnerfüllt zu planen und zu gestalten – alte Gewohnhei-ten ablegen zu können, um sich neue anzueignen. Dabei ist es wichtig, sich auf das Wesentliche zu fokussieren und Prioritäten zu definieren, um einer alltäglichen, erstarrten Routine zu entgehen. Die wichtigste Lebensaufgabe in der Phase des Ruhestands ist es, die kommende Lebensphase mit zu gestal-ten, um das bestmögliche für die neu gewonnene Zeit zu erreichen (vgl. K REI-MER 2010, 14ff). Zunehmende Inaktivität ist bedingt durch Rollen- und Funkti-onsverluste, die mit dem Ausscheiden aus dem Berufsleben und dem damit verbundenem Wegfall der Sozialkontakte ausgelöst werden kann. Um der Ge-fahr der Vereinsamung entgegenzuwirken, müssen neue Funktionen und Rol-len übernommen werden, die als Kompensation dienen. Somit stellt Aktivität eine Art Kompensationsmöglichkeit dar. Vom mittleren Erwachsenenalter aus-gehend sollte das Aktivitätsniveau bis ins hohe Alter aufrechterhalten werden (vgl. KROHN 1978, 55f;LEHR 2003, 57); denn es wird angenommen, dass die Werte und Bedürfnisse von Menschen ab dem mittleren Erwachsenenalter kei-nen Änderungen mehr unterliegen, womit Vertreter dieser Theorie die starke Fokussierung bzw. Orientierung an dieser Lebensphase rechtfertigen. Des Weiteren geht die Theorie davon aus, dass im Alter die Personen zwangsläufig einem Rückzug aus gesellschaftlichen Konventionen (Disengagement14)

14 Diese Auffassung lässt die Abgrenzung zur Disengagementtheorie immer undeutlicher wer-den (vgl. BACKES &CLEMENS 2013, 128).

terworfen sind, weshalb Altersprobleme auf eine damit einhergehende Funkti-onslosigkeit zurückzuführen sind. Das Ausscheiden aus dem sozialen Bezugs-system der Arbeitswelt ist hierbei von zentraler Bedeutung. Ausgangspunkt ist eine, von der betroffenen Person ungewollte Berentung, die mit der vermeint-lichen, mit dem Alter sinkenden Leistungsstärke und Handlungsfähigkeit be-gründet wird (vgl. BACKES &CLEMENS 2013, 128ff).

„Das Aktivitätskonzept unterliegt zumindest in seinen Annahmen nicht den Stereotypisierungen von Alter als einem Abbau von Fähigkeiten und reduzier-tem Bedürfnis nach Betätigungen, sondern weist darauf hin, dass solche re-duzierten Aktivitäten und Interessen oft erst durch gesellschaftlich herabge-setzte Möglichkeiten entstehen“ (BACKES &CLEMENS 2013, 130).

Die damit verbundene neue, ungewohnte Lebenssituation muss die einzelne Person auf individueller Ebene kompensieren, da sich gesellschaftliche Struk-turen hierbei nicht in der Pflicht sehen. Dementsprechend sollten nach Auffas-sung dieser Theorie alternde und alte Menschen eigenständig Kompensati-onsmöglichkeiten entwickeln, um der Gefahr der Vereinsamung entgegenzu-wirken. Die Kompensationen sollten dem o.g. Aktivitätsniveau des mittleren Erwachsenenalters entsprechen und vorteilhafterweise durch kulturelle Aktivi-tät, Selbstbestimmung und Kreativität definiert sein (vgl. KROHN 1978, 55ff).

Die starke Fokussierung auf das mittlere Erwachsenenalter lässt durchaus kri-tische Diskussionen zu, denn

„[o]b die idealisierten Aktivitäten der mittleren Lebensjahre überhaupt, insbe-sondere für das Alter, erstrebenswert sind, bleibt dahingestellt; der damit ver-bundene Mangel an Entwicklung im Lebenslauf wird nicht problematisiert. Al-lerdings kann das Aktivitätskonzept bei Bedarf dazu benutzt werden, verstärk-tes (Wieder-)Einsetzen alter Menschen, z.B. auf dem Erwerbsarbeitsmarkt o-der in unbezahlter sozialer oo-der sonstiger gesellschaftlich notwendiger Arbeit, zu begründen und mit scheinbar „wissenschaftlichen Argumenten“ zu legiti-mieren“ (BACKES &CLEMENS 2013, 131f).

Die Priorisierung der Lebenssituation des mittleren Erwachsenenalters ver-nachlässigt zum einen die gegenwärtigen Lebensumstände von alten Menschen; zum anderen findet die generelle individuelle Lebenssituation und -weise kaum Berücksichtigung. Es wird gänzlich ausgeblendet, ob die einzelne Person überhaupt die wegfallende berufliche Identität (gleich welcher Bedeu-tung diese für die einzelne Person hatte) mit einem entsprechenden

Freizeit-verhalten oder Engagement adäquat kompensieren kann oder die Möglichkei-ten dazu hat (vgl. KROHN 1978, 57). Die Berentung wird als das zentrale Er-eignis konstatiert, ohne die restlichen lebensweltlichen Bereiche des Individu-ums zu berücksichtigen. Vorangegangene gesellschaftliche, ökonomische, politische oder biografische Erfahrungen oder Ereignisse werden weitestge-hend ausgeblendet und menschliche sowie gesellschaftliche Veränderungen bleiben völlig unberücksichtigt. Des Weiteren fehlt der Theorie ein konkreter Gesellschaftsbezug und eine sozialstrukturelle Differenzierung: es wird pau-schal von der Annahme ausgegangen, dass die Lebensphase Alter gesell-schaftlich abgelehnt wird und es deswegen zu den bereits beschriebenen in-dividuellen Schwierigkeiten kommt. Als Lösung wird einzig eine konstant blei-bende Aktivität im Alter zugelassen, die als einzige Möglichkeit akzeptiert wird, ein zufriedenstellendes Wohlbefinden zu erreichen (vgl. BACKES & CLEMENS

2013, 130f).

Insbesondere jedoch im Hinblick auf den Personenkreis der alten Menschen mit geistiger Behinderung sollte diese Theorie sehr kritisch reflektiert werden.

Dieser Personenkreis ist nicht nur aufgrund ihrer individuellen Behinderungs-biografie eine sehr heterogene Gruppe. Der Grundgedanke der Theorie – Ak-tivität bis ins hohe Alter – ist im Kontext der Geistigbehindertenpädagogik po-sitiv zu bewerten. Im Hinblick auf mangelnde Möglichkeiten der Selbstbestim-mung und bestehende Abhängigkeitsverhältnisse entspricht es jedoch nur sel-ten der Lebenswirklichkeit von alsel-ten Menschen mit geistiger Behinderung.

Durch die meist lebenslangen Behinderungserfahrungen und dem damit ver-bundenen Unterstützungsbedarf, aber auch aufgrund der kognitiven Beein-trächtigung, sind die heute älteren bzw. alten Menschen mit geistiger Behin-derung oftmals kaum in der Lage, ihren Lebensalltag selbstständig aktiv zu gestalten oder streben dies an (vgl. HAVEMAN &STÖPPLER 2010, 46). Vor allem in der o.g. Forderung nach Aktivität in kulturellen Bereichen und bei der Selbst-bestimmung ist ein bedeutender Kritikpunkt anzuführen. Gesellschaftliche Barrieren – ob baulicher oder organisatorischer Natur – und/oder mangelnde Mobilität verhindern auch heute noch soziale Integration und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung am gesellschaftlichen

Le-ben (vgl. STÖPPLER 2002, 31). Nicht unberücksichtigt zu lassen ist die dama-lige defizitäre Sichtweise auf den Personenkreis, unter dessen Einfluss die heute älteren und alten Menschen aufgewachsen sind. Im Vordergrund in der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung standen vor allem das Nicht-Können und die mangelnde Entscheidungskompetenz dieses Personenkrei-ses. Sie haben nicht gelernt, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen.

Ihnen heute unreflektiert Entscheidungen zu überlassen, würde zu Hilflosigkeit und Überforderungstendenzen führen (vgl. THEUNISSEN &PLAUTE 1995, 59f).

Darüber hinaus sollte ebenfalls eruiert werden, ob die einzelne Person über-haupt aktiv sein möchte. Ein institutionelles ‚Aufzwingen‘ im Sinne einer gut gemeinten Wohltat sollte diesbezüglich vermieden werden (vgl. BUCHKA 2003, 135).