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Besonderheiten und Herausforderungen empirischer Forschung im

4. Empirischer Kontext der Arbeit

4.1. Besonderheiten und Herausforderungen empirischer Forschung im

Forschungsvorhaben mit Menschen mit einer geistigen Behinderung unterlie-gen zweifelsohne Herausforderununterlie-gen und Schwierigkeiten, die jedoch nicht als unüberwindbar gelten. Dies wird in zahlreichen Publikationen diskutiert (vgl. u.a. HAGEN 2001, 2002; BUCHNER 2008; SCHÄFERS 2008, 2009; JANZ &

TERFLOTH 2009).

Als Grundlage für die Partizipation an gesellschaftlichen Lebensbereichen gilt Bildung sowie das Vorhandensein einer stabilen Identität als Voraussetzung zur Verbesserung der individuellen Lebenssituation und der damit verbunde-nen Lebensqualität (vgl. SCHUPPENER 2009, 305). Ausgehend von der Gewiss-heit, dass Menschen mit geistiger Behinderung eine Identität bilden können,

ist ihre Teilnahme als Hauptpersonen an Forschungsprozessen gegenwärtig

„state of the art“ (SCHÄFERS 2009, 213) und darüber hinaus mit förderpädago-gischen Leitideen (u.a. Normalisierung, Partizipation, Empowerment, Selbst-bestimmung, Inklusion) konsequenterweise zu rechtfertigen (vgl. SCHUPPENER

2009, 305ff). SCHUPPENER (2009) diskutiert die Identitätsbildung und die Ent-wicklung eines Selbstkonzepts bei Menschen mit geistiger Behinderung aus-führlich und schlussfolgert, „dass von einer fundamentalen und gut ausgepräg-ten ‚Ich-Kompeausgepräg-tenz‘ und auch ‚Forschungs-Kompeausgepräg-tenz‘ bei Erwachsenen mit so genannter geistiger Behinderung auszugehen ist“ (ebd., 311). Hinsichtlich einer subjektorientierten Forschungsausrichtung auf die Lebenswelt des Per-sonenkreises erscheint der Einbezug der betroffenen Menschen als Grundvo-raussetzung (vgl. SCHÄFERS 2009, 214).

„Eine Erforschung der Lebenswelt – und speziell der Innensicht – von Men-schen mit der Diagnose ‚geistige Behinderung‘ ohne eine Beteiligung der Be-treffenden selbst (ausschließlich über Verhaltensbeobachtungen und Frem-deinschätzungen) erscheint nicht nur paradox, sondern geradezu unzulässig und entmündigend. Es gilt vielmehr, methodische Überlegungen anzustellen, um sich zentralen Forschungsfragen schrittweise und sensibel aus der Sub-jektperspektive der betreffenden Personen zu nähern“ (SCHUPPENER 2009, 313).

Die dargelegten Aspekte bergen methodische Herausforderungen; es stellt sich die Frage, welcher Zugang insbesondere zur Erfassung subjektiver Pspektiven des Personenkreises gewählt werden sollte. Besonders geeignet er-scheint das qualitative Interview (vgl. SCHÄFERS 2009, 214), denn die direkte Zusammenarbeit mit dem fokussierten Personenkreis ermöglicht es, aktuell bedeutende, subjektive Empfindungen authentisch zu erfassen. Durch die in-tensive Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Interviews kann eine gründliche Ergebnissicherung und Interpretation erreicht werden. Die Möglich-keit der ständigen Kontrolle und ÜberprüfbarMöglich-keit der Interpretationen auf Grundlage der gesicherten Interviews ist ein hohes Qualitätsmerkmal dieser Methode (vgl. LAMNEK 2005, 329).

Neben den bereits geschilderten Vorzügen setzt die Form des Interviews je-doch auch kognitive und kommunikative Fähigkeiten voraus, die sowohl die befragte Person als auch der Interviewer erfüllen müssen (vgl. PORST 2011, 17ff). Bei Befragungen von Menschen mit geistiger Behinderung erscheint die Formulierung der Fragen von besonderer Bedeutung. Um Schwierigkeiten im

Verständnis zu minimieren, kann einfache Sprache gewählt und die Verwen-dung nonverbaler Kommunikationskanäle hinzugezogen werden (vgl. S CHUP-PENER 2009, 313). Ebenfalls sollten lange aktive Sprachpassagen, bei denen v.a. lesen und schreiben verlangt werden, vermieden werden (vgl. GROMANN

1998, 258) sowie Bedeutungsgehalte der Fragen und Antworten sich nur auf einem kommunikativen Level bewegen. Nicht nur die befragte Person muss die Inhalte und Intention der Frage verstehen, sondern der Interviewer sollte in der Lage sein, die Äußerungen kontextuell korrekt interpretieren zu können (vgl. SCHÄFERS 2008, 148).

Das qualitative Interview stellt kommunikative Anforderungen an die beteilig-ten Personen, was jedoch keine Rechtfertigung bietet, Menschen mit geistiger Behinderung an der Teilnahme dieser Forschungsmethode grundsätzlich aus-zuschließen. Es kann nicht von der generellen Annahme ausgegangen wer-den, dass dieser Personenkreis prinzipiell nicht über notwendige kommunika-tive und kognikommunika-tive Fähigkeiten sowie über ausreichendes Reflexionsniveau verfügt. BUCHNER (2008) weist darauf hin, dass HAGEN (2001) sowie zahlreiche Studien im angloamerikanischen und deutschsprachigen Raum diese Annah-men widerlegten (vgl. BUCHNER 2008, 518f).

4.1.1. Antwortverhalten von Menschen mit geistiger Behinderung Aufgezeigt wurde, dass Menschen mit geistiger Behinderung nicht aus For-schungskontexten auszuschließen und ihnen die dafür notwendigen Kompe-tenzen abzusprechen sind. Dennoch sind Besonderheiten im Antwortverhal-ten dieses Personenkreises zu berücksichtigen. SCHÄFERS (2009) stellte fest, dass die Antwortquoten und das Antwortverhalten erheblich vom Frageformat beeinflusst werden. Offene Frageformate führen zu einer geringeren Antwort-quote als bspw. geschlossene Ja/Nein-Fragen. Interpretativ können als Ursa-che dafür höhere kognitive und kommunikative Anstrengungen gesehen wer-den, die zur Beantwortung offener Fragen notwendig sind. Es wird vermutet, dass Menschen mit geistiger Behinderung aus diesem Grund offene Fragen implizit negieren und nicht beantworten oder aber zu „Weiß-nicht-Antworten“

tendieren. Somit scheinen Ja/Nein-Frageformate, vor allem durch ihre gerin-gere Komplexität, in der Befragung dieses Personenkreises die einfachere und erfolgversprechendere (hinsichtlich einer guten Antwortquote) Variante zu sein (vgl. ebd., 223). Eine Problematik, die dieses Frageformat mit sich bringt,

sind „systematische Antworttendenzen“ (SCHÄFERS 2009, 224). Ein bereits vielfältig festgestellter Sachverhalt in Interviews mit Menschen mit geistiger Behinderungen scheint die häufige Tendenz zur Antwortkategorie ‚ja‘ zu sein.

Als Ursachen für das sozial erwünschte Antwortverhalten können unterschied-liche Gründe angeführt werden. Es ist zwar keine behinderungsspezifische Besonderheit25, jedoch „[neigen] Menschen mit einer geistigen Behinderung offenbar in besonderem Maße dazu (..), ihre Antworten an dem zu orientieren, was sie vermuten, das von ihnen erwartet wird“ (HAGEN 2001, 105). Hinsicht-lich der subjektiven Zufriedenheit sind diese Antworttendenzen immer wieder festzustellen. Unzufriedenheit wird nicht geäußert, weil keine Wahlmöglichkei-ten verfügbar oder ihnen diese nicht bewusst sind (vgl. ebd., 104f). Vor allem in stationären Wohneinrichtungen ist der Hang zu sozial angepasstem Verhal-ten besonders deutlich ausgeprägt. Motive hierfür sind insbesondere darin be-gründet, dass die Personen keine Alternativen in Alltags- und Handlungsrouti-nen kenHandlungsrouti-nen. Sie haben nicht gelernt, Dinge einzufordern oder Vorlieben aus-zudrücken. Durch die teils langjährige Abhängigkeit von institutionellen Struk-turen und Betreuungspersonen sind Lebensstile vorgegeben und Vergleichs-maßstäbe gering bis gar nicht vorhanden (vgl. GROMANN 1998, 259f). HAGEN

prognostizierte bereits 2001, dass „durch die Erweiterung des lebensweltli-chen Erfahrungs- und Kenntnishorizontes“ (ebd. 2001, 105) die geschilderte Problematik des sozial erwünschten Antwortverhaltens zum Teil gelöst werden könnte (vgl. ebd., 105).

Resümierend sind die geschilderten Aspekte zwar nicht zu ignorieren, jedoch ist eine Generalisierung ebenso zu vermeiden. Eine extreme Ausprägung, d.h.

alle Fragen mit ‚Ja‘ zu beantworten, konnte SCHÄFERS (2009) nicht feststellen.

Zwar stellt das ein methodisches Problem in der Befragung von Menschen mit geistiger Behinderung, jedoch stellt es kein Spezifikum des Personenkreises dar. Die Validität der Ergebnisse wird nicht derart beeinflusst, dass entspre-chende Studien oder der generelle Einbezug von Menschen mit geistiger

25 Sozial erwünschtes Antwortverhalten kommt auch bei Befragungen anderer Personengrup-pen vor. Es wird vermutet, dass diese Antwortstrategien eingesetzt werden, um Unwissenheit zu überdecken, längeres Nachdenken über die Frage zu vermeiden sowie soziale Anerken-nung und Zuspruch für die Antwort zu erhalten (vgl. HAGEN 2001, 104).

hinderung in Forschungskontexte zweifelhaft erscheinen. Besonders in der Er-hebung subjektiver Perspektiven des Personenkreises ist und bleibt das Inter-view das gewissenhafteste methodische Vorgehen (vgl. ebd., 224ff).

Durch die oft jahrelangen Abhängigkeitsbedingungen und Benachteiligungen, die Einfluss auf das Wohlbefinden und die Lebensbedingungen von Menschen mit geistiger Behinderung nehmen, sollte eine Befragung dieses Personen-kreises jedoch von hoher Sensibilität, Empathie und großem Einfühlungsver-mögen geprägt sein (vgl. HENSEL 2001, 35).

4.1.2. Zusammenarbeit mit Institutionen

Stationäre Wohnformen in Einrichtungen der Behindertenhilfe sind aktuell die primären Unterbringungs- und Betreuungsbereiche für Menschen mit geistiger Behinderung. Dabei werden sie, in unterschiedlicher Ausprägung, von institu-tionellen Strukturen fremdbestimmt und unterliegen den Weisungen des Be-treuungspersonals (vgl. ROHRMANN 2012, 278f). Einrichtungsleitungen und An-gestellte in Wohnheimen nehmen demnach in sozialwissenschaftlichen For-schungskontexten eine wichtige Rolle ein. Da der Erstkontakt meist über die Einrichtungsleitung erfolgt, übernimmt diese automatisch die Rolle eines „Ga-tekeepers“ (BUCHNER 2008, 518), da sie die Interessen ihrer Einrichtung und die Wahrung des Schutzes vor negativer Publicity verfolgen.

„Gerade bei Forschungsprojekten, die eventuell ein problematisches Licht auf die Institution werfen könnten, wie z.B. Befragungen zu Lebensqualität, Selbstbestimmung und Empowerment, ist mit einem starken Eingreifen der Gatekeeper zu rechnen“ (ebd., 518).

Die Gatekeeper entscheiden direkt, ob ihre Einrichtung als Kooperations-partner am Forschungsvorhaben teilnimmt, und welche ihrer Bewohner als Teilnehmer in Frage kommen (vgl. BUCHNER 2008, 518). Insbesondere bei der geplanten Durchführung von Interviews werden die Bewohner nicht aus-schließlich aufgrund ihrer kommunikativen Kompetenzen eingeschätzt. Die Betreuungspersonen entscheiden zusätzlich darüber, ob der Bewohner die Einrichtung positiv präsentiert (vgl.KELLE &NIGGEMANN 2003,8). KELLE &N

IG-GEMANN (2003) wurde dieser Tatbestand in ihrer Studie zur Zufriedenheit von Leistungsempfängern in stationären und ambulanten Altenpflegeeinrichtun-gen konkret von einem Heimleiter kommuniziert:

„Man weiß ja schließlich als Einrichtungsleiter, welche Bewohner eher kritisch eingestellt sind, und welche Bewohner das Haus ausschließlich positiv sehen und darstellen“ (ebd., 8).

Der Erstkontakt über die Einrichtungsleitungen ist ein unausweichliches und auch gängiges Vorgehen.

Darüber hinaus kommt dem Einrichtungspersonal eine weitere wichtige Rolle zu: sie nehmen eine schützende Funktion gegenüber ihren Bewohnern ein.

Nach dem Kontakt mit der Einrichtungsleitung und Betreuungspersonen klärt der Forscher zunächst über das Vorhaben und die Vorgehensweise auf. Die Heimmitarbeiter geben dieses Wissen an mögliche Interviewpartner weiter und bereiten sie somit auf den bevorstehenden Besuch des (fremden) For-schers vor. Erste Ängste und Unsicherheiten vor der Befragungsdurchführung können den Bewohnern infolgedessen genommen werden (vgl.KELLE &N IG-GEMANN 2003,8).