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2. TRAUMABELASTUNG UND PSYCHISCHE GESUNDHEIT BEI UNBEGLEITETEN

2.5. DISKUSSION

2.5.1 Längsschnittstudie

Wie schon Untersuchungen zur Situation der UMF in Belgien, den Niederlanden und Großbritannien (Bean et al., 2007; Derluyn et al., 2009; Hodes et al., 2008; Wiese &

Burhorst, 2007) kommt die vorliegende Studie zu dem Ergebnis, dass auch die in Deutschland lebenden UMF eine besonders vulnerable Gruppe im Hinblick auf PTBS und

Depression sind. Während begleitete jugendliche Flüchtlinge ebenfalls hohe Raten an psychischen Problemen und insbesondere vergleichbare Depressivitätswerte zeigten, erwiesen sich die UMF bezüglich der PTBS-Schwere und psychosomatischer Beschwerden als höher belastet. Zudem berichteten UMF deutlich mehr Erlebnisse organisierter aber auch mehr familiäre Gewalt als die begleiteten Flüchtlinge. In Übereinstimmung mit anderen Untersuchungen (Hodes et al., 2008; Jakobsen et al., 2014; Vervliet, Lammertyn, et al., 2014) wurden auch in dieser Studie sehr häufig der Verlust der Eltern und Kriegserfahrungen berichtet. Dazu kam Gewalterfahrungen innerhalb der Familie, die bei über 40 Prozent der UMF zu körperlichen Verletzungen führten, eine große Bedeutung zu. Auch wenn die BMF möglicherweise aufgrund ihres oft jüngeren Alters beim Verlassen des Heimatlandes und dem Schutz durch die Eltern durchschnittlich weniger traumatische Erlebnisse erfahren haben, sind sie besonderen Belastungen und Postmigrationsstressoren wie engen Wohnverhältnissen in den Gemeinschaftsunterkünften oder familiären Schwierigkeiten ausgesetzt. Wohingegen UMF nicht selten aufgrund familiärer Konflikte ihr Land verlassen, können BMF unter anderem durch die psychische Belastung von Familienmitgliedern und veränderten Familienstrukturen auch im Aufnahmeland mit familiären Schwierigkeiten konfrontiert sein.

Inwiefern die Trennung von den Eltern und somit der Status „unbegleitet“ neben der im Vergleich zu den begleiteten Jugendlichen höheren Traumabelastung als Risikofaktor bedeutsam ist, war Teil der vorliegenden Untersuchung. Mit Hilfe multipler Regressionsanalysen wurde die Relevanz der Gruppenzugehörigkeit im Hinblick auf die PTBS-Schwere und den Gesamtproblemwert psychischer Beschwerden analysiert. Dabei stellte sich heraus, dass die Gruppenzugehörigkeit nach Kontrolle der Traumabelastung weder für die Prädiktion der PTBS-Symptomatik noch des Gesamtproblemwerts eine bedeutsame Rolle spielte. Dahingegen wurde die Relevanz der Anzahl verschiedener traumatischer Erlebnisse für die Schwere der PTBS in Übereinstimmung mit anderen Studien bestätigt (Bean et al., 2007; Hodes et al., 2008; Neuner et al., 2004; Vervliet, Demott, et al., 2014). Die Summe organisierter Gewalterlebnisse war der bedeutsamste Prädiktor, gefolgt von familiären Gewalterfahrungen und der Fluchtdauer. Entgegen der Erwartungen spielte der Verlust einer Bezugsperson keine statistisch bedeutsame Rolle.

Ergebnisse der Studie von Bean et al. (2008) deuten darauf hin, dass der Mutter als häufig engste Bezugsperson eine ganz besondere Schutzfunktion zukommt. Dennoch ist

der Effekt des Verlusts von Eltern für die psychische Gesundheit nicht eindeutig geklärt.

Während Nickerson et al. (2013) bei einer Stichprobe aus den USA besonderes den frühen elterlichen Verlust als Risikofaktor erkennbar machten, fand Vervliet et al.

(2014) bei UMF in Belgien und den Niederlanden keinen Zusammenhang zwischen Verlusterfahrungen und PTBS-Symptomatik. Da die zeitliche Nähe der Verlusterfahrung und das Alter bei der Trennung von Bedeutung sind (Nickerson et al., 2011), sollte in zukünftigen Untersuchungen der Zeitpunkt des Verlustes berücksichtigt werden. Zudem gilt es zu berücksichtigen, dass nicht alle verlorenen Familienmitglieder mit Sicherheit verstorben waren. Demzufolge könnte die Hoffnung auf eine Rückkehr vermisster und die emotionale Unterstützung durch verbleibende Angehörige einen Einfluss haben.

Oppedal und Idsoe (2015) stellen in ihrer Studie fest, dass der Kontakt zu Verwandten im Herkunftsland und die damit verbundene Unterstützung einen positiven Effekt auf das psychische Wohlbefinden hatten.

Die Hypothese, dass eine gute Bildung ein Schutzfaktor gegenüber posttraumatischem Stress darstellt (Brewin et al., 2000), wurde durch die vorliegenden Ergebnisse nicht unterstützt. Befunde zum Effekt von Bildung sind in der Literatur sehr widersprüchlich. Während Smid et al. (2011) Zusammenhänge zwischen einer niedrigen Bildung und dem Vorliegen einer PTBS bei UMF feststellten, konnten Jensen, Skårdalsmo und Fjermestad (2014) sowie Bean und Kollegen (2007) dies nicht bestätigen.

Einige Studien zur psychischen Gesundheit junger Flüchtlinge berichten, dass belastende, traumatische Lebensereignisse im Allgemeinen sowohl mit internalisierenden wie auch mit externalisierenden Symptomen einhergehen (Bean et al., 2007; Bronstein et al., 2013). Bei der vorliegenden Studie zeigte sich jedoch ein differenzierteres Bild. So hatten organisierte Gewalterlebnisse zwar eine große Relevanz für die PTBS-Schwere, für den Gesamtproblemwert jedoch, welcher internalisierende wie auch externalisierende Verhaltensprobleme beinhaltet und somit ein weites Spektrum psychischer Probleme abbildet, waren vor allem Gewalterlebnisse innerhalb der Familie bedeutsame. Der Zusammenhang zwischen familiären Gewalterfahrungen in der Kindheit und Jugend und einer höheren Vulnerabilität für psychische Beschwerden sowie für eine komplexerer Symptomatik wurde bereits in verschiedenen Studien aufgezeigt (Catani, Jacob, et al., 2008; Nickerson et al., 2011;

Teicher & Samson, 2014). Dennoch wird es in künftigen Studien von Interesse sein, den

Zeitpunkt und die Dauer der Erfahrungen detaillierter und differenzierter zu erheben.

Während familiäre Belastungen häufig lang anhalten und in einer Phase und Umgebung auftreten, die für die körperliche und geistige Entwicklung von immenser Bedeutsamkeit sind, ist die Dauer, Häufigkeit und Intensität erfahrener organisierter Gewalt je nach Herkunftsland und individuellem Schicksal sehr variabel.

Doch nicht nur vergangene Erlebnisse sind für das psychische Wohlbefinden bedeutsam. So stellte sich heraus, dass Privatsphäre und das Vorhandensein von mindestens einem guten Freund bedeutsame Faktoren waren und mit weniger psychischen Problemen einhergingen. Ein soziales Netzwerk kann bei der Bewältigung von Schwierigkeiten und Belastungen unterstützend sein. Andere Studien stellten bereits die Wichtigkeit von Freundschaften sowie von soziokultureller Kompetenz heraus (Montgomery, 2008; Oppedal & Idsoe, 2012, 2015). Die Verbundenheit sowohl mit dem Gastland wie auch mit Werten und Personen des Herkunftsland erwies sich als positiv für die psychische Gesundheit (Berry et al., 2006). Während sowohl UMF wie auch BMF keinerlei Auffälligkeiten hinsichtlich des prosozialen Verhaltens zeigten, gaben vielen UMF Probleme mit Gleichaltrigen an und hatten Schwierigkeiten, Freundschaften zu schließen. Neben möglichen sprachlichen Schwierigkeiten gilt es dabei zu berücksichtigen, dass psychische Belastungen zu sozialem Rückzug führen können und somit das Aufrechterhalten und Aufnehmen von Freundschaften erschweren. Daneben zeigte sich, dass wenig privater Wohnraum, operationalisiert durch die Anzahl der in einem Zimmer lebenden Personen, mit einem schlechteren psychischen Befinden im Zusammenhang stand. Die Wichtigkeit der Privatsphäre für das psychische Wohlergehen wurde bereits in verschiedenen Untersuchungen deutlich (Bean et al., 2007; Fazel et al., 2012; Ruf-Leuschner et al., 2014).

Die auch hier gezeigte hohe Komorbidität von Depression und PTBS findet sich in einer Vielzahl von Studien (Fazel et al., 2012; Huemer et al., 2011). Während beide Störungsbilder eine hohe Symptomüberlappung haben und eine Differenzierung der Störungskonzepte zu diskutieren ist (Thabet, Abed, & Vostanis, 2004), besteht die Annahme, dass den Postmigrationsfaktoren insbesondere für die Depressionsausprägung sowie deren Verlauf Bedeutung zukommt (Heptinstall et al., 2004; Sack et al., 1999; Vervliet, Lammertyn, et al., 2014). Da sowohl Depressions- wie auch PTBS-Symptomatik mit psychosomatischen Beschwerden assoziiert waren, können diese als wichtiger Hinweis für eine mögliche psychische Belastung gesehen

werden. Anders als somatische Probleme waren Hyperaktivität und aggressives Verhalten bei den jungen Flüchtlingen nicht stark ausgeprägt.