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4. DIE LIFELINE–NET – PILOTSTUDIE ZUR WIRKSAMKEIT UND DURCHFÜHRBARKEIT

4.2 EINLEITUNG

Menschen, die aus ihren Herkunftsländern vor Verfolgung, organisierter Gewalt wie Krieg und Folter, vor familiären Konflikten oder wirtschaftlicher Not geflohen sind, haben häufig multiple traumatische Erfahrungen in ihren Heimatländern und auf der Flucht gemacht. Mit der Anzahl der verschiedenen Arten erlebter traumatischer Ereignisse steigt das Risiko, eine Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zu entwickeln sowie deren Schwere und Komplexität. Dieser Bausteineffekt wurde von zahlreichen Studien bei unterschiedlichen Stichproben belegt (z.B. Catani, Jacob, Schauer, Kohila, & Neuner, 2008; Johnson & Thompson, 2008; Neuner et al., 2004; Steel et al., 2009). Während die Symptomremission in den ersten 12 Monaten nach dem traumatischen Erleben am stärksten ist, stagniert der Rückgang posttraumatischer Beschwerden nach dieser Zeit häufig (Breslau et al., 1998). Bei über einem Drittel der Betroffenen verläuft die PTBS-Symptomatik chronisch, so dass viele Menschen ohne Behandlung noch Jahre später unter den psychischen Folgen der Traumatisierung leiden (Breslau et al., 1998; Kessler, Sonnega, Bromet, Hughes, & Nelson, 1995; Sack et al., 1999). Die Wahrscheinlichkeit einer Spontanremission sinkt dabei mit der Anzahl der traumatischen Erfahrungen (Kolassa et al., 2010). Die PTBS-Prävalenzangaben bei Flüchtlingen unterscheiden sich je nach Methode und der Untersuchungspopulation immens (Steel et al., 2009). Eine Metaanalyse von Steel und Kollegen (2009), die über 80.000 Flüchtlinge und von Konflikten betroffene Personen einschließt, kommt zu einer PTBS-Prävalenz von 31 Prozent, wobei dem Erleben von Folter die größte Bedeutung zukam. Eine allgemeine Prävalenzangabe zur PTBS bei Flüchtlingen ist jedoch kaum möglich, da diese stark von der Traumabelastung der untersuchten Population abhängt (Miller, Elbert, & Rockstroh, 2005). In Deutschland wurde die Rate der an einer PTBS leidenden Asylbewerber bislang im Rahmen lediglich einer Studie untersucht. Gäbel, Ruf, Schauer, Odenwald und Neuner (2006) berichteten eine PTBS-Rate von 40 Prozent bei 40 Asylerstantragsstellern. Komorbid zur PTBS leiden viele Betroffene unter weiteren psychischen Störungen. So werden häufig andere Angststörungen, Substanzabhängigkeit und vor allem affektiven Störungen diagnostiziert (Fazel &

Danesh, 2005; Kessler et al., 1995). Steel und Kollegen (2009) schilderten

beispielsweise, dass 31 Prozent der Überlebenden von Folter und organisierter Gewalt an einer Depression litten. Neben komorbiden Störungen spielen weitere Probleme wie Aggression (Marsee, 2008), somatischen Beschwerden (Andreski, Chilcoat, & Breslau, 1998), Dissoziation (Schauer & Elbert, 2010), Scham- und Schuldgefühle (Stotz, Elbert, Müller, & Schauer, 2015) sowie eine eingeschränkte Lebenszufriedenheit und Funktionalität im Alltag (d’Ardenne, Capuzzo, Fakhoury, Jankovic-Gavrilovic, & Priebe, 2005; Sack et al., 1999) eine große Rolle.

Für die Behandlung der PTBS ist die Überlegenheit von Therapien mit Traumafokus gegenüber Methoden, die keine Traumabearbeitung beinhalten, mittlerweile evident (Bisson et al., 2007; Cloitre, 2009; Ehlers et al., 2010).

Traumafokussierte Therapieverfahren gelten daher als die Methode der Wahl (Flatten et al., 2011; NICE, 2005). Crumlish und O’Rourke (2010) kamen in einer Übersichtsarbeit zu dem Ergebnis, dass für die Behandlung traumatisierter Flüchtlinge, die in ihrem Leben meist multiplen traumatischen Erlebnissen ausgesetzt waren, die Narrative Expositionstherapie (NET, Schauer, Neuner, & Elbert, 2011) eine besonders geeignete Methode ist. Die NET wurde vor dem Hintergrund neurowissenschaftlicher Theorien zur Behandlung komplex traumatisierter Menschen wie Überlebender von Krieg und organisierter Gewalt entwickelt (Schauer, Neuner, & Elbert, 2005). Im Rahmen der NET wird nicht nur ein traumatisches Erlebnis betrachtet, sondern ein kohärentes Narrativ des gesamten Lebens erarbeitet. Die häufig fragmentierten traumatischen Erinnerungen werden dadurch chronologisch in die Biografie eingeordnet. Besonders schöne und besonders belastende Lebensereignisse werden zu Beginn der Therapie auf einer durch ein Seil symbolisierten Lebenslinie mit Hilfe von Blumen und Steinen symbolisch festgehalten. Beginnend bei der Geburt werden die Symbole in den darauffolgenden Sitzungen chronologisch bearbeitet, wobei der Schwerpunkt auf der Aufarbeitung der traumatischen Erlebnisse liegt. Der Patient versetzt sich in Begleitung des Therapeuten mit all seinen Sinnen in die traumatische Situation und erzählt Schritt für Schritt die Geschehnisse und die dazugehörenden Gedanken, Gefühle, sensorischen Eindrücke und Körperempfindungen. Die aus einem Netzwerk von Emotionen, Sinneseindrücken, Kognitionen und Körperempfindungen bestehende sensorisch-perzeptuelle Repräsentation eines emotionalen Lebensereignisses wird als „heißes Gedächtnis“

bezeichnet und dem impliziten, nicht-deklarativen Gedächtnis zugeordnet. Im autobiografischen Gedächtnis sind heiße Gedächtnisinhalte normalerweise mit dem

deklarativen, faktischen Wissen zu Lebensabschnitten und spezifischen Lebensereignissen verknüpft, welches auch als „kaltes Gedächtnis“ bezeichnet wird. Bei PTBS-Patienten ist die Verknüpfung zwischen dem heißen und kalten Gedächtnis gestört, wodurch Empfindungen durch eine Aktivierung heißer Gedächtnisinhalte, biografisch nicht eingeordnet werden können und im Hier und Jetzt wiedererlebt werden. Durch die Aktivierung des „heißen“ Gedächtnisses in der Therapie und der gleichzeitigen Versprachlichung sowie zeitlich/örtlichen biografischen Einbettung von Wahrnehmungen werden die „heißen“ Gedächtnisinhalte mit den Kontextinformationen des „kalten“ episodischen Gedächtnisses verknüpft. Wiederaufkommende Bilder, Emotionen, Kognitionen und Wahrnehmungen werden dadurch in der Biografie verankert und können der Vergangenheit zugeordnet werden. Das Benennen aktueller Empfindungen hilft dabei, den Kontakt zur Gegenwart zu halten und immer wiederkehrende emotionale und körperliche Intrusionen einzuordnen. Zudem tritt durch die Exposition mit den traumatischen Erinnerungen eine Habituation der Angstreaktion ein. Die Narration wird nach jeder Sitzung vom Therapeuten verschriftlicht und beim nächsten Termin vorgelesen und gegebenenfalls vervollständigt. Zum letzten Termin bekommt der Klient seine von allen Beteiligten zum Zeichen der Anerkennung unterschriebene Lebensgeschichte überreicht.

Zahlreiche Studien zeigen die Effektivität dieser Therapie in verschiedenen Kontexten (McPherson, 2012; Robjant & Fazel, 2010). Die NET wurde bei Flüchtlingen (Hensel-Dittmann et al., 2011; Neuner, Schauer, Klaschik, Karunakara, & Elbert, 2004;

Neuner et al., 2010; Stenmark, Catani, Neuner, Elbert, & Holen, 2013), bei ehemals politischen Gefangenen (Bichescu, Neuner, Schauer, & Elbert, 2007), bei Erdbebenüberlebenden (Zang, Hunt, & Cox, 2013) und in Postkonfliktregionen (Ertl, Pfeiffer, Schauer, Elbert, & Neuner, 2011; Schaal, Elbert, & Neuner, 2009) erfolgreich eingesetzt. Auch Flüchtlingskinder und -jugendliche im Alter von sechs bis 17 Jahren profitierten von der Methode (Catani et al., 2009; Onyut et al., 2005; Ruf et al., 2010).

Trotz der guten Erfolge in der Behandlung von Traumafolgestörungen bei Flüchtlingen ist der Weg in die psychotherapeutische Versorgung für Asylsuchende in der Praxis sehr schwierig, denn Therapiegebote sind rar und die bürokratischen Hürden hoch (Bundespsychotherapeutenkammer, 2015). Die Versorgung wird dabei hauptsächlich von spezialisierten Einrichtungen übernommen. Um die Realisierbarkeit von Traumatherapie für Flüchtlinge auch durch niedergelassene Psychotherapeuten

oder andere Institutionen zu verbessern, wurde durch eine Modifikation und Verschlankung der NET die Effizienz der Methode gesteigert und das Vorgehen klarer strukturiert. Durch eine Verringerung der Anzahl der Expositionssitzungen und die Übertragung von therapeutischen Hausaufgaben an den Patienten wird bei der sogenannten Lifeline-NET (LL-NET) der zeitliche Aufwand und die schriftliche Dokumentationsarbeit für den Therapeuten reduziert. Dennoch soll es dem Klienten durch die schriftliche Bearbeitung von einigen vorgegeben Fragen im Rahmen von Hausaufgaben ermöglicht werden, sich mit vielen seiner traumatischen Erlebnisse auseinanderzusetzen. Durch die Aufteilung der Lebenslinie in drei Lebensabschnitte wird der Therapieablauf stärker strukturiert und auf acht Sitzungen begrenzt, wobei die Arbeit mit der Lebenslinie stärker in den Vordergrund rückt als bei der herkömmlichen NET.

In der vorliegenden randomisiert kontrollierten Studie wurde überprüft, ob die LL-NET als verkürzte, modifizierte Version der NET durchführbar ist und zu vergleichbaren Effekten wie die herkömmliche NET führt. Es wurde dabei angenommen, dass die LL-NET einer Standardbehandlung in der Reduktion von PTBS-Symptomen überlegen ist und zu einer stärkeren Verbesserung der Lebenszufriedenheit und Funktionalität führt. Darüberhinaus wurde untersucht, inwiefern sich Depressivität, Dissoziation, Schamerleben, Aggression und körperliche Beschwerden durch die LL-NET beeinflussen lassen.