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2. TRAUMABELASTUNG UND PSYCHISCHE GESUNDHEIT BEI UNBEGLEITETEN

2.2 HINTERGRUND

Die Flucht vor Verfolgung, Krieg und Armut zwingt Menschen, ihr Heimatland zu verlassen – unter ihnen auch viele Kinder und Jugendliche. Etwa ein Drittel der in Deutschland lebenden Asylantragsteller ist minderjährig (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2015, 2016b). Die Mehrheit dieser Minderjährigen lebt bei ihren Eltern.

Etwa fünf bis zehn Prozent kommen jedoch ohne sorgeberechtigte Person nach Deutschland (Berthold, 2014). Die Zahl der Einreisen von UMF ist seit 2008 kontinuierlich gestiegen (Kemper & Espenhorst, 2014). Während im Jahr 2013 über 5600 UMF von den Jugendämtern in Obhut genommen wurden, waren es 2014 etwa 10400, wobei nur zwischen 40 bis 45 Prozent der Jugendlichen einen Asylantrag stellten (Bundesfachverband UMF, 2015). Laut dem statistischen Amt der Europäischen Union (Eurostat, 2015) erhielt Deutschland in den letzten Jahren nach Schweden die meisten Asylanträge von UMF in Europa. Die überwiegende Mehrheit – 80 bis 90 Prozent – der in Obhut genommenen UMF sind männliche Jugendliche (Kemper & Espenhorst, 2014) mit einem Altersdurchschnitt von 16 Jahren (Bundesfachverband UMF, 2015). Dagegen sind BMF, die mit ihren Eltern in der Bundesrepublik leben und das Asylverfahren durchlaufen, größtenteils im Kindergarten- oder Grundschulalter (Berthold, 2014). Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit der psychischen Gesundheit der stets wachsenden Gruppe der minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge.

Viele der Kinder und Jugendlichen erleben zahlreiche belastende und traumatische Ereignisse. Studien zeigen, dass Kriegserlebnisse und das Erleben familiärer Gewalt mit psychischen Problemen wie Depressivität, Ängstlichkeit und PTBS-Symptomen einhergehen (Bean, Derluyn, Eurelings-Bontekoe, Broekaert, &

Spinhoven, 2007; Catani, Jacob, Schauer, Kohila, & Neuner, 2008; Fazel, Reed, Panter-Brick, & Stein, 2012). Zusätzlich zu den Erlebnissen im Herkunftsland birgt häufig auch die Flucht belastende Erfahrungen wie Verhaftungen, Gewalt, Nahrungsmangel und massive körperliche Anstrengungen. Ein Dosis-Wirkungseffekt zwischen der Anzahl traumatischer Lebenserlebnisse und psychischen Problemen wie PTBS und Depression, konnte in einer Vielzahl von Studien nachgewiesen werden (z.B. Bean et al., 2007; Fazel et al., 2012; Neuner et al., 2004). Weiterhin haben Stressoren im Gastland wie eine unsichere Bleibeperspektive, Diskriminierungserfahrungen, beengte Wohnverhältnisse und Akkulturationsstress einen negativen Einfluss auf die psychischen Gesundheit

(Bean et al., 2007; Berry, Phinney, Sam, & Vedder, 2006; Hodes et al., 2008; Nielsen et al., 2008).

UMF berichten im Mittel von mehr traumatischen Ereignissen als BMF. Dies betrifft vor allem das Erleben von Krieg und Gewalt sowie den Verlust der Eltern (Huemer et al., 2009). Eine Studie aus Großbritannien zeigte, dass das Zusammenleben mit mindestens einem Elternteil - unabhängig von der Anzahl der erlebten Traumata - mit einer geringeren PTBS-Symptomschwere einherging (Hodes et al., 2008). Derluyn und Kollegen stellten bei Flüchtlingskindern fest, dass hauptsächlich der Verlust der Mutter eine Rolle spielt (Derluyn et al., 2009). So hatten Jugendliche, die mit ihrer Mutter lebten, selbst bei einer großen Anzahl an traumatischen Erfahrungen weniger PTBS-Symptome als jene, die ohne ihre Eltern oder nur mit ihren Vätern lebten.

Unabhängig davon kamen Nickerson und Kollegen zu dem Ergebnis, dass der Tod eines Elternteils, insbesondere in frühen Lebensjahren, ein signifikanter Prädiktor für Psychopathologie im Erwachsenenalter darstellt (Nickerson, Bryant, Aderka, Hinton, &

Hofmann, 2011). In Anbetracht der verschiedenen Risikofaktoren verwundert es nicht, dass UMF im Vergleich zu BMF mehr psychische Probleme berichten und häufiger an einer PTBS leiden (Huemer et al., 2009). Untersuchungen zu Verhaltensauffälligkeiten bei jungen Flüchtlingen ergaben, dass externalisierendes Problemverhalten weder bei UMF noch bei BMF stark ausgeprägt waren (Bean et al., 2007; Bronstein, Montgomery, &

Ott, 2013; Derluyn et al., 2009; Oppedal & Idsoe, 2012), wobei eine Studie unserer Arbeitsgruppe auf die wichtige Rolle von familiären Gewalterfahrung in Bezug auf Aggression bei UMF hinweist (Mueller-Bamouh, Ruf-Leuschner, Dohrmann, Schauer, &

Elbert, 2016).

Doch auch BMF sind besonderen Belastungsfaktoren ausgesetzt. Häufig erlernen junge Flüchtlinge die Sprache des Gastlandes schneller als ihre Eltern (Hjern, Angel, &

Jeppson, 1998) und übernehmen folglich viel Verantwortung in der Familie (Gavranidou et al., 2008). Durch die Umverteilung von Verantwortung kann es zu Spannungen und Konflikten innerhalb der Familien kommen (Kwak, 2003). Stress, Reizbarkeit und Belastung der Eltern – teilweise bedingt durch traumatische Erfahrungen – beeinflusst die Erziehung der Kinder (Catani, 2010; Ruf-Leuschner et al., 2014). Auch die beengten Wohnverhältnisse in Flüchtlingswohnheimen (Ruf-Leuschner et al., 2014) und fehlende soziale Unterstützung beeinträchtigen das psychische Wohlbefinden (Fazel et al., 2012).

Erkenntnisse über den Verlauf der psychischen Gesundheit bei jungen Geflüchteten im Aufnahmeland sind nicht eindeutig, doch weisen Studien darauf hin, dass die psychische Belastung und insbesondere die PTBS-Schwere über die Zeit hinweg hoch bleibt (Derluyn & Broekaert, 2007; Fazel et al., 2012; Montgomery, 2010; Sack et al., 1999). Sack und Kollegen (1999) begleiteten kambodschanische Jugendliche in den USA über einen Zeitraum von zwölf Jahren und stellten dabei fest, dass die Depressionsrate deutlich abnahm, während die PTBS-Rate nur leicht zurückging. Eine dänische Verlaufsstudie bei begleiteten minderjährigen Flüchtlingen stellte nach neun Jahren fest, dass die Gruppe mit chronisch hoher Symptomatik mehr Postmigrationsstressoren erlebt hatte als die Gruppe, die nur nach der Ankunft stark belastet war, wobei sich die Traumabelastung nicht unterschied (Montgomery, 2010).

Dieses Ergebnisse stützen die Annahme, dass Postmigrationsstressoren insbesondere für die Entwicklung der Depressivität, aber auch darüber hinaus eine wichtige Rolle spielen (Heptinstall et al., 2004; Montgomery, 2010; Sack et al., 1999). Zwei Längsschnittstudien, die den Verlauf der psychischen Belastung speziell bei UMF über etwa ein- bis eineinhalb Jahre untersuchten, zeigten keine Veränderung der PTBS-Symptomatik, der Depressivität und des Problemverhaltens (Bean et al., 2007; Vervliet, Lammertyn, Broekaert, & Derluyn, 2014), wobei Vervliet et. al (2014) einen negativen Einfluss von Alltagsstressoren feststellte. Bean und Kollegen (2007) zeigten bei 580 UMF, dass ein sicherer Aufenthaltsstatus mit einer Reduktion der PTBS-Schwere und der internalisierenden Probleme einherging. Auch das Erlernen der Sprache des Gastlandes und neue Freundschaften wirken sich positiv auf das psychische Befinden aus (Montgomery, 2008). Weiterhin gibt es Hinweise, dass eine gute Schulbildung hilfreich sein kann, mit Belastungen umzugehen und Probleme zu lösen (Brewin, Andrews, & Valentine, 2000; Lustig et al., 2004).

Das Ziel dieser Studie ist es, die Situation der UMF im Vergleich zu einer Gruppe etwa gleichaltriger BMF näher zu beleuchten. Es wird untersucht, inwieweit belastende Erlebnisse wie organisierte Gewalt, familiäre Gewalt, die Flucht nach Deutschland und der Verlust von Bezugspersonen aber auch mögliche protektive Faktoren wie die Bildung im Herkunftsland, das Vorhandensein von Freunden oder privatem Wohnraum bedeutsam für die psychische Gesundheit sind. Weiterhin wird bei einem Teil der UMF der Verlauf psychischer Auffälligkeiten und deren Abhängigkeit vom Aufenthaltsstatus

sowie die Inanspruchnahme von professioneller Unterstützung über einen Zeitraum von etwa zwei Jahren untersucht.

2.3 QUERSCHNITTSSTUDIE