• Keine Ergebnisse gefunden

5. ABSCHLIESSENDE DISKUSSION

5.2 Die besondere Relevanz familiärer Gewalterfahrungen

Belastende Lebenserfahrungen in Kindheit und Jugend haben einen starken Einfluss auf die Entwicklung des noch sehr plastischen Gehirns und somit auch auf seelisches Wohlbefinden und Verhalten (Elbert et al., 2006; Teicher et al., 2003). Im Rahmen der vorgestellten Untersuchungen der psychischen Gesundheit minderjähriger Flüchtlinge wurde zwischen organisierten und familiären Belastungsfaktoren unterschieden, wobei sich die besondere Relevanz innerfamiliärer Gewalterlebnisse nicht nur für die PTBS-Schwere, sondern auch für das psychische Allgemeinbefinden und die Aggressivität herausstellte. Erfahrungen organisierter Gewalt waren lediglich in Bezug auf die PTBS-Symptomatik von Bedeutung - hier allerdings als der gewichtigste Prädiktor – wohingegen sie in keinem bedeutsamen Zusammenhang zur Aggressivität oder dem allgemeinen psychischen Wohlbefindens standen.

Bei Flüchtlingen, die aus Krisenregionen geflohen sind besteht die Gefahr, neben all den Erfahrungen der Flucht und des Krieges, die Bedeutung innerfamiliärer Konflikte zu übersehen. Sowohl bei Familien in Krisengebieten wie auch bei Geflüchteten spielen diese nicht zuletzt aufgrund der Belastung von Eltern und der damit verbundenen Reizbarkeit häufig eine Rolle (Catani, Schauer, & Neuner, 2008; Haj-Yahia & Abdo-Kaloti,

2007; Preacher & Hayes, 2004; Ruf-Leuschner et al., 2014). Ein innerfamiliärer Zusammenhalt scheint insbesondere bei einer äußeren Bedrohung und unsicheren Lebenssituation äußerst wichtig zu sein (Qouta, Punamaki, & El Sarraj, 2008).

Familiäre Belastungen sind häufig lang andauernd und können verschiedene Erlebnisse, wie bezeugte und selbsterlebte körperliche oder sexuelle Gewalt, emotionale und körperliche Vernachlässigung beinhalten. Die Wahrscheinlichkeit mehrere dieser Erfahrungstypen zu erleben ist hoch (Dong et al., 2004). Während Kinder bis zur Pubertät hauptsächlich von ihren Eltern abhängig sind, gewinnen in der Adoleszenz Freunde und andere Umweltfaktoren zunehmend an Einfluss (Brown, 2004).

Körperlicher und emotionale Gewalterfahrungen, im Kreis der Personen von denen ein Kind abhängig ist, gehen mit dem Verlust von Vertrauen und einer großen Hilflosigkeit einher. Es verwundert nicht, dass besonders familiäre Gewalterfahrungen in der Kindheit einen starken Einfluss auf die Entwicklung haben und den Organismus grundlegend umbauen. In der Literatur wurden unterschiedliche Konsequenzen in Abhängigkeit der Erfahrungstypen sowie des Alters und der entsprechenden sensitiven Phasen verschiedener Hirnstrukturen diskutiert (Andersen, 2003; Teicher & Samson, 2014). Weder der Zeitpunkt noch die Dauer organisierter und familiärer Gewalterfahrungen wurden in der vorliegenden Studie berücksichtigt, es ist jedoch anzunehmen, dass beide Faktoren insbesondere im Hinblick auf organisierte Gewalterfahrungen sehr variabel sind.

Auch für das Erlernen von Normen, sozialen Kompetenzen und Lösungsstrategien ist der familiäre Kontext extrem wichtig, wodurch er letztendlich einen Einfluss auf die Einstellung gegenüber und den Umgang mit Gewalt hat (Bandura, 1973; Elbert & Schauer, 2014; Gottfredson & Hirschi, 1990). Schon Kinder im Vorschulalter zeigen aggressives Verhalten bei Frustration, doch lernen sie durch entsprechende Rückmeldung der Bezugspersonen, mit Frust umzugehen und ihr Verhalten zu kontrollieren (Tremblay, 2010). Dazu passend, zeigte sich bei den UMF ein positiver Zusammenhang zwischen familiären Gewalterfahrungen und aggressiven Verhalten sowie zur Ausprägung der appetitiven Aggression, wobei die Kausalität nicht geklärt ist. Auch für den Umgang mit Emotionen, die Zuversicht Unterstützung zu erhalten und Probleme lösen zu können (Cloitre, Stovall-McClough, et al., 2010), sowie für die Interpretation und Verarbeitung sozialer Stimuli (Dodge, Bates, & Pettit, 1990) sind Lernerfahrungen in der Familie bedeutsam. Ist das Vertrauen in sich selbst und in

die Mitmenschen erschüttert, ist die Alltagsfunktionalität auch im späteren Leben eingeschränkt. Durch die erhöhte Sensibilität Stressreizen gegenüber, sind Personen mit familiären Belastungen auch im späteren Leben mit mehr Stress konfrontiert, beziehungsweise nehmen diese Stressoren stärker wahr (Heim et al., 2000; Holt, Buckley, & Whelan, 2008; Matz et al., 2010). All diese Faktoren legen nahe, dass Flüchtlinge, die familiäre Gewalt erleben oder erlebt haben, mit einer schlechteren Resilienz gegenüber Stressoren auf der Flucht und im Aufnahmeland ausgestattet sind.

Die Querschnittsstudie verdeutlicht, dass besonders unbegleitete Jugendliche in der Vergangenheit häufig innerfamiliären Gewalterfahrungen ausgesetzt waren, die bei 42 Prozent zu körperlichen Verletzungen führte (Kapitel 2). Während bei immerhin 20 Prozent der UMF familiäre Konflikte der entscheidende Grund für die Flucht waren, können BMF auch aufgrund einer psychischen Belastung der Eltern zudem im Aufnahmeland mit familiärer Gewalt konfrontiert sein (Ruf-Leuschner et al., 2014). In zahlreichen Studien wurden belastende innerfamiliäre Erfahrungen während der Kindheit als unspezifischer Risikofaktor für verschiedenste psychische Störungen identifiziert (z.B. Carr et al., 2013; Qouta et al., 2008; Teicher & Samson, 2014), wobei eine Assoziation mit einem früheren Einsetzen der Symptomatik, einem komplexeren Verlauf und einer größeren Anzahl komorbider Störungen sowie einem höheren Suizidrisiko bestehen. Mediierende Faktoren wie Schamgefühle und dissoziative Symptome, die vor allem mit elterlicher Zurückweisung und emotionaler Vernachlässigung assoziiert sind (Fiess et al., 2013; Schalinski & Teicher, 2015; Stuewig

& McCloskey, 2005) können eine Psychotherapie zudem erschweren.

Gewalterfahrungen werden darüber hinaus mit erhöhter Wahrscheinlichkeit nicht nur aufgrund einer stärkeren Stressreagibilität und eines dadurch geprägten Erziehungsverhaltens, sondern möglicherweise auch durch epigenetische Mechanismen an die nächste Generation weitergegeben, die folglich ebenfalls mit erhöhter Wahrscheinlichkeit Gewalt ausüben wird (Catani, 2010; Pears & Capaldi, 2001; Radtke, Serpeloni, Elbert, Schauer, angenommen). Vor diesem Hintergrund wird deutlich wie wichtig es ist, familiäre Gewalterfahrungen zu erfassen, und im Kontext psychotherapeutischer Interventionen mit zu beachten, wofür narrative Methoden besonders geeignet sind (Cloitre, Stovall-McClough, et al., 2010), sowie durch soziale Unterstützung positive Beziehungserfahrungen zu ermöglichen, um einen Zyklus der Gewalt rechtzeitig zu durchbrechen.