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Wer sind ‚die Anderen‘ in anderen Ländern? Bezeichnungen und Zugehörigkeiten im Vergleich

B. Integrationspolitik im internationalen Vergleich

B.6 Bezeichnungs- und Zugehörigkeitspolitiken

B.6.3 Wer sind ‚die Anderen‘ in anderen Ländern? Bezeichnungen und Zugehörigkeiten im Vergleich

Zugehörigkeiten im Vergleich

Das in Kap. B.6.1 ausführlich dargestellte deutsche Bei-spiel zeigt, dass bei der Ausgestaltung der Bezeichnungs- und Zugehörigkeitspolitik die strukturelle Verfasstheit des Nationalstaats eine große Rolle spielt. Im Folgenden wird Deutschland beispielhaft mit den Niederlanden, Frank-reich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten vergli-chen, bei denen der Prozess der Nationenbildung deutlich anders verlief.

B.6.3.1 Niederlande: Allochthone und Autochthone Für die parlamentarische Monarchie der Niederlande war die Zugehörigkeit der Bürger zu einer konfessionellen bzw. weltanschaulichen Gruppe oder Minderheit gewis-sermaßen staatskonstitutiv. Hier war über viele Jahrzehn-te das Prinzip der ‚Versäulung‘ prägend: Die verschiede-nen konfessionellen bzw. weltanschaulichen Gruppen bildeten die Säulen des Staates, und dessen Dach waren das Königshaus und das Narrativ vom weltoffenen und toleranten Land. Um den staatlichen bzw. gesellschaftli-chen Anspruch zu erfüllen, ihre jeweilige religiöse bzw.

weltanschauliche Identität aufrechtzuerhalten, unterhal-ten die Minderheiunterhal-ten in den Niederlanden ihre eigene soziale Infrastruktur (Schulen, Universitäten, Vereine, Me-dien etc.). Als die Niederlande durch postkoloniale und

‚Gastarbeiter‘-Zuwanderung zu einem Einwanderungsland wurden, lag es entsprechend nahe, den schon ‚erprobten‘

Modus des politischen Umgangs mit Minderheiten auch auf die neuen Zuwanderer anzuwenden. Auf diesem so-ziopolitischen Hintergrund entstand der niederländische Multikulturalismus (s. dazu ausführlich Kap. B.2).

Der Begriff ‚ethnische Minderheiten‘ hat somit im po-litischen wie im öffentlichen Diskurs grundsätzlich eine

262 Die allgemeine Struktur der Disqualifizierung und Abwertung neu Hinzukommender haben Norbert Elias und John Lloyd Scotson (1965) bereits in ihrem Klassiker „The Established and the Outsiders“ beschrieben.

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lange Tradition. Als offizielle politische Kategorie gewann er aber erst im Zusammenhang mit der Einwanderung von Gruppen, die als sozioökonomisch strukturell benach-teiligt angesehen wurden, eine entsprechende spezifi-sche Bedeutung (Jacobs et al. 2009: 77).

1989 wurde in einem Bericht des Wissenschaftlichen Beirats der Regierung der Begriff allochtoon (altgriechisch für ‚fremd, auswärtig‘) in den politischen Diskurs der Nie-derlande eingeführt, der heute sowohl die statistische Erfassung als auch den öffentlichen Diskurs um Migration und Integration beherrscht. Durchgesetzt hat er sich aller-dings erst einige Jahre später, nachdem er vom Nationa-len Statistikbüro Centraal Bureau voor de Statistiek (CBS) 1995 operationalisiert wurde. Das CBS verwendete zu-nächst eine enge und eine weite Definition des Begriffs;

unter dem Druck der Regierung, die ein Interesse daran hatte, die langfristigen Auswirkungen der im Wandel be-griffenen Integrationspolitik zu evaluieren (Doomernik 2013: 98), definiert es aber seit 1999 ‚Allochthone‘ ein-heitlich als „alle in den Niederlanden lebenden Personen, von denen zumindest ein Elternteil im Ausland geboren wurde“ (zitiert nach Jacobs et al. 2009: 78, Übers. d. SVR).

Hier wird also das Geburtsland der Eltern herangezogen, um Zuwanderer bis zur zweiten Generation zu erfassen.

1999 führte das CBS eine weitere bezeichnungspo-litische Differenzierung ein: Es ergänzte die primäre Un-terteilung in Allochthone und Autochthone um die Unter-kategorien ‚westliche‘ und ‚nichtwestliche Allochthone‘.

Diese scheinbar harmlose, rein geografisch basierte Unterscheidung veranschaulicht die derzeitige bezeich-nungspolitische Philosophie der Niederlande. Denn sta-tistisch zählen zu den ‚westlichen Allochthonen‘ nicht nur Personen nordamerikanischer oder europäischer Herkunft (mit Ausnahme der Türkei), sondern eben auch Zuwan-derer aus Ozeanien, Indonesien oder Japan, also solche, denen tendenziell geringere Integrationsprobleme zu-geschrieben werden. Zu den ‚nichtwestlichen Allochtho-nen‘ zählen dagegen Personen türkischer, afrikanischer, lateinamerikanischer und asiatischer Herkunft (ausge-nommen Indonesien und Japan) und somit Zuwanderer, die allgemein mit Integrationsproblemen in Verbindung gebracht werden. Damit ist klar, dass der Begriff ‚alloch-thon‘ „mehr als nur eine ethnische Dimension hat“ (Ja-cobs et al. 2009: 80, Übers. d. SVR): Wie das CBS selbst einräumt, berücksichtigt er auch sozioökonomische und kulturelle Faktoren.

Der Begriff der allochtoons, der zunächst als neutra-les statistisches Erfassungsinstrument eingeführt wurde,

entwickelte also – ähnlich wie später in Deutschland der Begriff ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ – ein Eigen-leben im öffentlichen Diskurs, in politischen Dokumenten und wissenschaftlichen Debatten, aber auch in den Me-dien und fand schließlich Eingang in die Alltagssprache.

Es ist „wenig überraschend, dass [er] in diesem Prozess einen Bedeutungswandel erfuhr und zunehmend in einer Art und Weise verwendet wurde, die von seiner ursprüng-lichen administrativen Definition beträchtlich abwich“ (Ja-cobs et al. 2009: 79, Übers. d. SVR). So wurde ‚allochthon‘

bald automatisch mit ‚gescheiterter‘ Integration in Ver-bindung gebracht; teilweise wurde er auch offen pejora-tiv verwendet, um Personen türkischer, marokkanischer, surinamischer oder antillischer Herkunft oder Flüchtlinge aus Afrika, Asien und Lateinamerika auszugrenzen (Doo-mernik 2013: 99). Damit erhielt der Begriff allmählich die „Konnotation des ‚nichtweißen, nichteuropäischen Anderen‘“ (Jacobs et al. 2009: 79, Übers. d. SVR). Auch diese Rolle und Zuschreibung wandelte sich in den letzten Jahren, denn aktuell sind es die Osteuropäer – und damit

‚westliche Allochthone‘ –, die „auf der Anklagebank“ sit-zen (Lucassen/Lucassen 2014: 9).

Zugehörigkeitsdebatten waren und sind in den Nie-derlanden eng verknüpft mit politischen Ereignissen (Pries 2013b: 189), besonders seit der Islam eine pro-minente Rolle als ‚Abgrenzungsobjekt‘ eingenommen hat. Bereits die Rushdie-Affäre263 Ende der 1980er Jahre hatte in der Öffentlichkeit Schockreaktionen ausgelöst, denn auch in den Niederlanden demonstrierten Muslime gegen den britischen Schriftsteller (Lucassen/Lucassen 2014: 19f.). Geert Wilders‘ Freiheitspartei (PVV) hat eine zum Hass mutierte Islamkritik auf die Spitze getrieben mit der Folge, dass ‚Allochthone‘ nun oftmals generell als Muslime beschrieben werden und als Menschen, die zur Kriminalität neigen und ‚nichtniederländischen‘ Werten und Normen folgen (Doomernik 2013: 101). Die Nieder-lande reihen sich damit ein in die Gruppe von Staaten, in denen das Aufeinanderprallen einer zunehmend säkula-risierten Gesellschaft und ‚alter‘ und ‚neuer‘ Zuwanderer muslimischer Herkunft eine zentrale gesellschaftliche Konfliktlinie bildet (vgl. Doomernik 2013: 87, 99f.).

B.6.3.2 Frankreich: Bezeichnungspolitik in der communauté des citoyens

Das französische System gilt als Prototyp des republi-kanischen Assimilationsmodells und damit als Gegen-modell zum niederländischen Multikulturalismus. Der

263 Ausgangspunkt dieser Affäre war die Publikation des Romans „Die satanischen Verse“ des britisch-indischen Schriftstellers Salman Rushdie. Dieses Buch enthält angeblich blasphemische und allgemein islamfeindliche Passagen, darum sprach der iranische Revolutionsführer Chomeini 1989 eine Fatwa aus, die Muslime auffordert, Rushdie zu töten. Diese Fatwa ist bis heute nicht aufgehoben, allerdings haben ihr alle Mitgliedstaaten der Organisation der Islamischen Konferenz widersprochen. Der Schriftsteller selbst lebt seitdem unter Polizeischutz und unter falschem Namen; auf mehrere Übersetzer und einen Verleger des Buches wurden Anschläge verübt, ein Übersetzer starb dabei.

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INTEGRATIONSPOLITIK IM INTERNATIONALEN VERGLEICH Republikanismus versucht Gleichheit dadurch zu

errei-chen, dass er Spezialrechte für bestimmte Gruppen ver-weigert und von Zuwanderern Anpassung fordert (s. dazu ausführlich Kap. B.2).

In den frühen 1980er Jahren rückten in Frankreich die Themen Migration und Integration immer mehr ins Blick-feld der Öffentlichkeit, als im Zuge der postkolonialen Zuwanderung nicht mehr nur Arbeitsmigranten, sondern zunehmend auch deren Familien ins Land kamen. Im Ein-klang mit republikanischen Prinzipien erhielten die Kinder der Arbeitsmigranten schnell die französische Staatsange-hörigkeit. Das schuf allerdings auch einen Resonanzbo-den für Resonanzbo-den Front National: Dieser erzielte seine ersten politischen Erfolge, indem er gegen ein Staatsbürger-schaftsgesetz argumentierte, das zu lax sei, die Loyalität der neu eingebürgerten ‚Papier-Franzosen‘ zum Staat in Zweifel zog und vertrat, ‚Französischsein‘ erfordere mehr als einen französischen Pass (vgl. Bertossi 2012: 431).

Auch in Regierungsdokumenten wurden in den 1980er und 1990er Jahren erstmals die ethnokulturellen Unterschiede zwischen den ‚neuen‘ Zuwanderern und der französischen Gesellschaft betont. So stellte z. B.

der 1989 eingesetzte Haut Conseil d’Intégration (HCI) in seinen Berichten die ‚guten‘, ökonomisch erfolgrei-chen chinesiserfolgrei-chen, koreaniserfolgrei-chen und vietnamesiserfolgrei-chen Zuwanderer denen aus dem Maghreb gegenüber, deren Integration als ‚gescheitert‘ galt (Bertossi 2012: 433).

So entstand im Integrationsdiskurs allmählich eine „De-facto-Hierarchie von Franzosen“ (Wihtol de Wenden/

Salzbrunn/Weber 2013: 40, Übers. d. SVR), der mit den migrationspolitischen Reformen Mitte der 2000er Jahre eine „De-jure-Hierarchie von Ausländern“ an die Seite gestellt wurde: Im Zuge der weltweiten Konkurrenz um

‚die besten Köpfe‘ und der Klagen französischer Arbeitge-ber üArbeitge-ber Fachkräfteengpässe wurde 2006 unter Sarkozy eine neue Zuwanderungspolitik eingeführt, die z. B. eine neue Kategorie ‚Kompetenzen und Talente‘ beinhaltete.

Der Slogan dazu lautete „Ja zu gewählter Einwanderung, nein zu erlittener Einwanderung“ („oui à l’immigration choisie, non à l’immigration subie“) (Wihtol de Wenden/

Salzbrunn/Weber 2013: 36, Übers. d. SVR). Mit dieser neuen Differenzierung nach Kriterien der Nützlichkeit ver-lor die formalrechtliche Unterscheidung zwischen Bürgern und Ausländern, die für die Republik lange Zeit konstitutiv war, an Bedeutung (Pries 2013b: 189).

Dazu trägt in Frankreich auch bei, dass Migration – insbesondere die muslimische Zuwanderung264 – zuneh-mend skeptisch gesehen wird. In der säkularen Republik gilt der Islam in der öffentlichen Debatte als unvereinbar mit dem Laizismus, der wieder verstärkt als Kernelement französischer Identität betrachtet wird (vgl. Bertossi 2012:

436). Zusätzlich wird der Islam als Religion der ‚Armen‘

und ‚Kolonisierten‘ wahrgenommen. So trifft er „in der öf-fentlichen Meinung auf vielfältige Formen islamophober Zurückweisung“ (Wihtol de Wenden/Salzbrunn/Weber 2013: 46, Übers. d. SVR). Diese öffentliche Wahrnehmung ist davon begleitet, dass auch die Politik zunehmend von der Norm staatlicher Indifferenz abweicht, die im uni-versalistischen Frankreich erwartet wird, indem sie sich mit religiös-kulturellen Ansprüchen befasst. So kann die Institutionalisierung eines Dialogs mit islamischen Reprä-sentanten, die 2002 unter dem damaligen Innenminister Sarkozy erfolgte, als Bruch mit der Tradition der ‚farben-blinden‘ Politik gelten (vgl. Bertossi 2012). 2004 wurde muslimischen Schülerinnen verboten, im Schulunterricht das Kopftuch zu tragen.265 Einige Jahre später rückte die Burka, der muslimische Gesichtsschleier, als ‚Gefahr für republikanische Werte‘ ins Zentrum der öffentlichen Zu-gehörigkeitsdebatten (Bertossi 2012). 2011 trat ein Voll-verschleierungsverbot in Kraft, das der Europäische Ge-richtshof für Menschenrechte in einer Entscheidung von 2014 als rechtens anerkannte.

Trotz der beschriebenen ‚Kulturalisierung‘ der Zugehö-rigkeitspolitik werden Begriffe wie ‚Ethnizität‘ „im Land der formal-rechtlichen Gleichheit immer noch als tabu er-achtet“ (Wihtol de Wenden/Salzbrunn/Weber 2013: 42, Übers. d. SVR). In der statistischen Kategorisierung von Zuwanderung wurde aber vor 15 Jahren eine wichtige Neuerung eingeführt: Während der Zensus bis 1999 nur zwischen französischen Staatsangehörigen und Auslän-dern unterschied, wurde 1999 zusätzlich die Kategorie des ‚Einwanderers‘ eingeführt. Als solcher wird unabhän-gig von der aktuellen Staatsangehörigkeit jede Person definiert, die nicht in Frankreich geboren ist. Damit war es erstmals möglich, soziale Ungleichheiten in der com-munauté des citoyens quantitativ zu erfassen: Im Okto-ber 2012 veröffentlichte die nationale Statistikbehörde INSEE umfassende Daten und Auswertungen zur Situation der zugewanderten Bevölkerung (Bildung, Arbeitsmarkt etc.) und ihrer Nachkommen nach Herkunftsgruppen

264 Die etwa fünf Millionen Muslime, die in Frankreich leben, sind eine sehr heterogene Gruppe. Die meisten von ihnen stammen aus Nordafrika;

andere Herkunftsregionen sind die Türkei, der Nahe und Mittlere Osten sowie das subsaharische Afrika (vgl. Wihtol de Wenden/Salzbrunn/Weber 2013: 46).

265 Ein solches Verbot wurde in Deutschland nie erlassen. Allerdings gab es gerade in den 1990er und noch bis in die 2000er Jahre immer wieder Fälle, in denen Schulleitungen den Schülerinnen das Tragen des Kopftuchs ‚in deren eigenem Interesse‘ verbieten wollten, nämlich zur Stärkung ihrer Emanzipation. Daher befassten sich in den 1990er Jahren auch einige Juristen mit diesem Thema; vgl. etwa Spies (1993). Einen Überblick über diese Diskussionen gibt Karakaşoğlu (2000: 27–57).

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(Engler 2012). Mit der Einführung dieser Kategorie ver-sucht Frankreich also, „den demografischen Beitrag der Einwanderung zu seiner Bevölkerung etwas sichtbarer zu gestalten, ohne jedoch ethnische Gruppen zu unterschei-den“ (Jacobs et al. 2009: 71, Übers. d. SVR).

Ethnische Zugehörigkeit wird in Frankreich weiterhin nicht statistisch erfasst. Dabei wurde diese Möglichkeit wiederholt diskutiert; konservative politische Kräfte schlugen zuletzt 2007 vor, in staatlichen Statistiken eth-nische Kategorien einzuführen. Der Verfassungsrat ent-schied jedoch dagegen mit dem Hinweis, dies verstoße gegen das in der französischen Verfassung geschützte Prinzip der Gleichheit. Die offizielle Begründung lautete:

„[O]bwohl die Auswertung von Daten, die notwendig ist, um Studien zur Vielfalt der Herkunft von Personen, zu Diskriminierung und Integration durchzuführen, in objek-tiver Art und Weise möglich ist, kann diese Auswertung nicht auf Ethnizität und ‚Rasse‘ basiert sein, ohne die in Artikel 1 der Verfassung festgeschriebenen Prinzipien zu verletzen“ (zitiert nach Wihtol de Wenden/Salzbrunn/

Weber 2013: 52, Übers. d. SVR).

B.6.3.3 Großbritannien: Superdiversität und das Wachstum von Zuschreibungsmerkmalen

Großbritannien beschreitet einen diametral entgegenge-setzten Weg in der statistischen Erfassung von Minder-heiten und zum Teil auch in der damit einhergehenden informellen Aushandlung des ‚Wir‘. In der ehemaligen Kolonialmacht wurden schon in der Zeit unmittelbar nach dem Krieg durch Zu- und Rückwanderung aus den Gebie-ten des Commonwealth, dem Nachfolger des British Em-pire, neue Bevölkerungsgruppen sesshaft, die phänoty-pisch als ‚anders‘ erkennbar waren (Green/Skeldon 2013:

110). Eine Antidiskriminierungspolitik wurde bereits 1965 mit dem Race Relations Act gesetzlich verankert (s. dazu auch Kap. B.5). Großbritannien folgte damit einer Tra-dition des politischen Liberalismus, der die Rechte des Individuums über die von Gruppen stellte. Das Individu-um durfte ‚anders‘ sein; der Turban der Sikh oder das muslimische Kopftuch wurden im öffentlichen Raum zur Normalität (Sales 2012: 38).

Etwa ab Ende der 1990er Jahre wurde das Migrations-geschehen in Großbritannien zusehends differenzierter.

Der von Vertovec (2007) geprägte Begriff der ‚Superdi-versität‘, der empirisch auf viele Einwanderungsländer zutrifft, bezog sich ursprünglich auf die multiethnische, multireligiöse und multikulturelle britische Gesellschaft des neuen Jahrtausends. Das Bild des ‚Migranten‘ ver-schiebt sich in der öffentlichen Wahrnehmung laufend;

das zeigt sich auch daran, dass im allgemeinen Sprach-gebrauch Begriffe wie migrant, foreigner und immigrant willkürlich und synonym verwendet und manchmal auch mit anderen Kategorien wie ethnic minorities und asy-lum-seekers vermischt werden (Anderson/Blinder 2014).

Seit etwa zwei Jahrzehnten wird in Großbritannien zur Kategorisierung von Zuwanderergruppen offiziell der Begriff ‚ethnische Minderheiten‘ gebraucht. Green und Skeldon (2013: 116) führen dies darauf zurück, dass bei den immer zahlreicheren Zuwanderern der zweiten und dritten Generation die Herkunft nicht mehr über das Merkmal des Geburtslandes bestimmt werden kann, das vom Nationalen Statistikbüro (ONS) ehedem vorgezogen wurde.

Aufschluss über Prozesse der Aushandlung von ‚Zuge-hörigkeit‘ in Großbritannien gibt insbesondere der Zensus, der alle zehn Jahre stattfindet. Die darin enthaltenen Fra-gen werden in Abstimmung mit zahlreichen Instanzen wie Ministerien, gemeinnützigen Organisationen und den betroffenen Gruppen selbst entwickelt und festgelegt, darum wird der Aushandlungscharakter der Grenzen von Selbst- und Fremdzuschreibungen hier besonders deutlich (Green/Skeldon 2013: 108, 117). Der Aspekt der Ethni-zität floss erstmals im Jahr 1991 ein mit der Frage „Was ist Ihre ethnische Gruppe?“ (zitiert nach Green/Skeldon 2013: 121, Übers. d. SVR). Die möglichen Antworten ba-sierten auf verschiedenen Arten von Unterscheidungs- und Abgrenzungsmerkmalen: Darunter waren sowohl die Hautfarbe (‚weiß‘, ‚schwarz‘) als auch geografische Ele-mente (‚indisch‘, ‚pakistanisch‘ etc.) und Kombinationen dieser beiden Kategorien (‚Schwarze (Afrika)‘, ‚Schwarze (Karibik)‘) (Tab. B.9).

In den folgenden zwei Jahrzehnten wurden die Kate-gorien erweitert, was „klar die Tatsache widerspiegelt, dass die Einführung einer Frage zur Ethnizität eine stei-gende Nachfrage nach solchen Daten geschaffen hat“

(Green/Skeldon 2013: 121, Übers. d. SVR). 2001 kam die Kategorie ‚gemischt/mehrere ethnische Gruppen‘ neu hinzu; sie reflektiert die zunehmende Diversität der bri-tischen Gesellschaft. Im Zensus von 2011 setzte sich der Trend zur Aufschlüsselung weiter fort: Neu hinzu kamen die Kategorien ‚gipsy/irische Fahrende‘ und ‚Araber‘. Ers-tere gelten als marginalisierte ethnische Minderheit, die statistisch bis dahin nicht systematisch erfasst werden konnte (Office for National Statistics 2014); die Aufnahme der Letzteren dürfte sich daraus ergeben haben, dass die Öffentlichkeit sich zunehmend mit Muslimen beschäftigte (Sales 2012). Zusätzlich wurde eine Frage zur nationalen Identität eingeführt (mit sechs möglichen Antworten:

englisch, walisisch, schottisch, nordirisch, britisch und andere, nämlich …); dies zeigt das zunehmende politi-sche Interesse in den Teilregionen an der Frage, wo sich Menschen innerhalb des Königreichs zugehörig fühlen (Green/Skeldon 2013: 125).

Vergleicht man die Bezeichnungen für ethnische Zuge-hörigkeit bzw. Ethnizität, die in den drei Zensus 1991 bis 2011 verwendet wurden, fällt nicht nur auf, dass die An-kreuzmöglichkeiten sich erweitert haben, sondern auch, dass die Benennungen der einzelnen Kategorien relativ konstant bleiben. Die Farbterminologie beispielsweise,

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INTEGRATIONSPOLITIK IM INTERNATIONALEN VERGLEICH die für mitteleuropäische Leser durchaus irritierend ist,

stieß zwar in den Konsultationen zum 2011er Zensus auf eine gewisse Kritik, „scheint aber mittlerweile gut etab-liert zu sein“ (Green/Skeldon 2013: 128, Übers. d. SVR).

Systeme, die auf der Selbstzuordnung der Befragten basieren, stoßen in den meisten europäischen Staaten auf Skepsis. Das Klassifizierungssystem in Großbritanni-en, das sich auf die subjektive ethnische Zugehörigkeit stützt, ist jedoch weitgehend unumstritten (Green/Skel-don 2013); debattiert wird lediglich über die Auswahl und die jeweilige Bezeichnung der Gruppen. Als Problem wer-den in Großbritannien also nicht die im Zensus erfragten Kategorien und darüber vermittelte Zuschreibungen ge-sehen, sondern die Kategorien, die dort nicht berücksich-tigt werden. So haben etwa in Großbritannien lebende lateinamerikanischstämmige Zuwanderer moniert, dass eine entsprechende Kategorie (‚lateinamerikanisch‘) im Zensus fehlt; sie werteten dies als Ausgrenzung und als Signal, dass sie nicht dazugehören (BBC 2011).

Die statistische Erfassung auf der Basis von Selbst-identifikation birgt allerdings auch andere Probleme, sowohl technischer als auch politischer Natur. So stellt sie es auch Personen, die sichtbar einer Minderheit an-gehören, frei, sich der Mehrheitskategorie zuzuordnen.266 Dies wäre unbestritten eine „legitime Entscheidung, wür-de aber zugleich die korrekte Analyse diskriminierenwür-der Praktiken […] vereiteln“ (Jacobs et al. 2009: 74, Übers. d.

SVR). Abgesehen davon stellt sich auch die Frage, ob die inflationäre Zunahme der Zensuskategorien nicht einer zunehmenden Fragmentierung von Kultur und Gesell-schaft Vorschub leistet und dies den Anschein erwecken könnte, dass der Staat eine solche als legitim oder sogar wünschenswert erachtet (Green/Skeldon 2013: 131). Da-mit ist das zentrale Risiko des britischen Wegs angespro-chen: Die bisherige ständige Erweiterung der Kategorien im Zensus betont vor allem die Unterschiede. Es ist zu-mindest nicht auszuschließen, dass dies dem allgemein anerkannten Ziel abträglich ist, willkürliche und nicht meritokratisch zu rechtfertigende Ungleichheiten sichtbar zu machen, und damit den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft eher gefährdet.

B.6.3.4 USA: Abkehr vom ethno-racial pentagon In den USA ist das entscheidende Kriterium für die Frage von Zugehörigkeit weiterhin die ‚Rasse‘, obwohl dieses Konzept wissenschaftlich mittlerweile in Verruf geraten ist (Hollinger 2005; Cobas/Duany/Feagin 2009). Im

aka-demischen wie im politischen Sprachgebrauch wird es seit einigen Jahren zunehmend durch ‚ethnicity‘ ersetzt (Hattam 2007), im amerikanischen Zensus ist ‚race‘ al-lerdings seit 200 Jahren fest etabliert (Rodríguez 2009).

Der erste Zensus von 1790 differenzierte lediglich nach den drei Kategorien ‚freie Weiße‘, ‚Sklaven‘ und ‚alle an-deren freien Menschen‘; später kamen neue Kategorien hinzu, „sobald eine Bevölkerungsgruppe groß oder sicht-bar genug geworden war“ (Rodríguez 2009: 39, Übers. d.

SVR). Radikal verändert hat sich das System der Klassifi-zierung im Zensus erst 1980, als zum einen das Prinzip der Selbstidentifikation eingeführt wurde, zum anderen neben die verschiedenen ‚races‘ als neue Option der Identitätsmarker ‚hispanic‘ trat. Diese beschreibungspoli-tische Differenzierung nach Ethnie und ‚Rasse‘ war haupt-sächlich dadurch motiviert, dass man in der Lage sein wollte, die Vielfalt in der amerikanischen Bevölkerung zu beschreiben, um auf dieser Grundlage die anhaltende Benachteiligung und Diskriminierung einzelner Gruppen effektiv politisch bekämpfen zu können.

In seinem 1995 erschienenen Werk „Postethnic Ame-rica“ führt der amerikanische Historiker David Hollinger das „unverwechselbare System der Klassifizierung“ in den USA zurück auf ein hier vorherrschendes „Gefühl, das Ziel der Gleichheit verlange von Amerika eine Zukunft, die sogar noch ‚ethnischer‘ wäre als seine Vergangen-heit“ (Hollinger 2005: 23, Übers. d. SVR). Daraus habe sich bezeichnungspolitisch schließlich das „ethno-racial pentagon“ (‚ethno-rassisches Fünfeck‘) (Hollinger 2005:

23, Übers. d. SVR) ergeben, das die USA insgesamt und

23, Übers. d. SVR) ergeben, das die USA insgesamt und