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Aushandlungsprozesse und Bezeichnungspolitik in Deutschland

B. Integrationspolitik im internationalen Vergleich

B.6 Bezeichnungs- und Zugehörigkeitspolitiken

B.6.2 Aushandlungsprozesse und Bezeichnungspolitik in Deutschland

Für die Bundesrepublik trifft die Feststellung zu, dass

„[d]ie Kategorien, die für Neuankömmlinge verwendet werden, hauptsächlich etwas über die Gesellschaft aus-sagen, zu der sie hinzukamen“ (Pries 2013a: 55, Übers. d.

SVR; vgl. auch Anderson 2013). Denn die Kategorien und Bezeichnungspolitiken und ihr Wandel über die Zeit brin-gen zum Ausdruck, wie sich die kollektive Selbstwahrneh-mung im Laufe der Jahre verändert hat (Pries 2013a: 62).

Deutschlands Geschichte der Abgrenzungen zwischen dem ‚Wir‘ und ‚den Anderen‘ ist vor dem Hintergrund seiner historischen Sondersituation zugleich von Konti-nuität und von Brüchen geprägt. In der Rolle der jeweils

‚Anderen‘ lösten sich verschiedene Gruppen ungewollt ab – und das zum Teil sogar am gleichen Ort, denn

„[i]n vielen Städten und Dörfern gab es Barackenlager, die nacheinander etwa von Reichsarbeitsdienst-Kolon-nen, dann während des Krieges von ‚Fremdarbeitern‘, später von DPs [Displaced Persons] und anschließend von Vertriebenen bewohnt worden waren, um nicht selten seit den frühen 60er Jahren als ‚Gastarbeiterlager‘ Ver-wendung zu finden“ (Herbert 2003: 197).

Betrachtet man die Grenzen der Zugehörigkeit in der Bundesrepublik und ihre Verschiebungen ab 1945 chrono-logisch, erscheint es sinnvoll, zwei Stränge zu unterschei-den, die zunächst parallel laufen: auf der einen Seite den Zustrom deutscher ‚Volkszugehöriger‘, d. h. Vertriebener und Spät-/Aussiedler, auf der anderen Seite den von Aus-ländern, die als nicht zum deutschen Volk gehörig be-trachtet wurden. Diese Unterscheidung spiegelt die Logik der Zugehörigkeit nach dem ius sanguinis wider, die in Deutschland lange Jahre dominierte: Danach entscheidet nicht der Pass darüber, wer Mitglied der Nation ist, son-dern der Passfrage ist die Frage nach der Blutszugehö-rigkeit vorgeschaltet (s. Kap. B.4). Entsprechend definiert das Bundesvertriebenengesetz von 1953 die Volkszuge-hörigkeit in § 6 wie folgt: „Deutscher Volkszugehöriger im Sinne dieses Gesetzes ist, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekennt-nis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Spra-che, Erziehung, Kultur bestätigt wird.“256 ‚Die Anderen‘

waren in Deutschland also lange Zeit diejenigen, die nicht dem ethnisch definierten deutschen Volk angehörten. Die Geschichte der Abgrenzung gegenüber diesen ‚Anderen‘

ist jedoch äußerst dynamisch und wechselvoll.

B.6.2.1 Vom ‚Fremdarbeiter‘ zum ‚Gastarbeiter‘

zum ‚Ausländer‘

Prägend für das Einwanderungsland Deutschland sind bis heute die Abkommen zur Anwerbung ausländischer Ar-beitnehmer, die zwischen Mitte der 1950er und Anfang der 1970er Jahre geschlossen wurden.257 Das erste Ab-kommen wurde 1955 mit Italien getroffen; dem folgten bis 1968 Verträge mit Griechenland, Spanien, der Tür-kei, Portugal und Jugoslawien (vgl. exemplarisch Bade 1994).258 Damit wurde etwa 15 Jahre nach Kriegsende die

„massenhafte Beschäftigung von Ausländern“ wieder auf-genommen, „ohne daß die Einstellungen und Haltungen gegenüber den ausländischen Zwangsarbeitern während des Krieges in den 50er Jahren eine öffentliche, kritische Bearbeitung erfahren hätten“ (Herbert 2003: 201). Dass

256 Das damit verbundene staatliche Postulat eines einheitlichen deutschen Nationalgefühls kontrastierte allerdings damit, dass die Bevölkerung über viele Jahre die Unterscheidung zwischen den ‚Einheimischen‘ und denen ‚von drüben‘ aufrechterhielt und später die zwischen ‚Wessis‘ und ‚Ossis‘.

257 ‚Fremdarbeiter‘-Abkommen gab es in Europa schon ab den 1920er Jahren (vgl. Rass 2010).

258 In die DDR zogen ausländische Arbeitskräfte in größerer Zahl deutlich später als in die Bundesrepublik. Erst Ende der 1970er bzw. Anfang der 1980er Jahre kamen sog. Vertragsarbeiter ins Land, nachdem die DDR mit einigen außereuropäischen sozialistischen Staaten bilaterale Abkommen geschlossen hatte (vgl. Dennis 2005; Bade/Oltmer 2004: 95).

BEZEICHNUNGS- UND ZUGEHÖRIGKEITSPOLITIKEN

INTEGRATIONSPOLITIK IM INTERNATIONALEN VERGLEICH die Bevölkerung ihre Haltung zu den Neuankömmlingen

nicht reflektierte, zeigt sich auch im „wie selbstverständ-lichen Weitergebrauch der Bezeichnung ‚Fremdarbeiter‘“

(Herbert 2003: 206). Dieser Begriff gehörte schon ab der Jahrhundertwende zum allgemeinen Sprachgebrauch.

Ab Beginn der 1960er Jahre wurde allgemein der Begriff ‚Gastarbeiter‘ verwendet. Er „sollte freundlicher klingen und den vorübergehenden Aufenthalt der ange-worbenen ausländischen Arbeiter in Deutschland beson-ders betonen“ (Herbert, in FAZ 2005). Dann führte der Anwerbestopp von 1973 unbeabsichtigt dazu, dass die ausländischen Arbeitnehmer, die ursprünglich für eine begrenzte Zeit angeworben worden waren, sich verstärkt in Deutschland niederließen. Das schürte die Sorge, die Zuwanderung könnte die deutsche Gesellschaft überfor-dern. Als etwa Mitte der 1970er Jahre klar wurde, dass der „Trend zum Daueraufenthalt“ (Herbert 2003: 232) unaufhaltsam war, verwandelte sich der ‚Gastarbeiter‘

im politischen und öffentlichen Sprachgebrauch in den

‚Ausländer‘.

B.6.2.2 ‚Die Türken‘ als Referenzpunkt zum ‚Wir‘

Die Besorgnis bezog sich zunächst auf die ‚Ausländer‘ all-gemein. Doch alsbald kristallisierte sich eine Subgruppe heraus, die als besonders ‚problematisch‘ betrachtet wur-de: die Türkeistämmigen (Thränhardt 2000). Im Kontrast etwa zu den (christlichen) italienischen, portugiesischen, spanischen oder griechischen ‚Gastarbeitern‘ wurde nun primär diese Gruppe als ‚nichteuropäisch‘ und damit

‚andersartig‘ angesehen. Die Gründe dafür liegen auch in den weltpolitischen Zusammenhängen jener Zeit; so

„spielte in der Debatte über das ‚Türkenproblem‘ seit den frühen 80er Jahren der Islam, der nach der Revolution im Iran nun verstärkt als politische Bedrohung wahrge-nommen wurde, eine zunehmende Rolle“ (Herbert 2003:

260). Die prominente Rolle ‚der Türken‘ als Referenzpunkt zum ‚Wir‘ verstärkte sich in den 1990er Jahren; parallel dazu wurde politisch wieder stärker proklamiert, Deutsch-land sei kein EinwanderungsDeutsch-land.259

B.6.2.3 Verlagerung der Aufmerksamkeit auf ‚die Asylanten‘

Dass Politik und Öffentlichkeit bei der Abgrenzung des

‚Wir‘ von ‚den Anderen‘ zusammenwirken und sich wech-selseitig aufeinander beziehen, zeigt in der Bundesrepu-blik insbesondere die Asyldebatte in den 1990er Jahren:

Mitte der 1980er Jahre stieg infolge der Umbrüche in Osteuropa und auf dem Balkan die Zahl der Asylbewer-ber deutlich an; dadurch „verlagerte sich das öffentliche

Interesse […] zunehmend auf diese Gruppe von Zuwan-derern“ (Herbert 2003: 263). Unrühmliche Begleiter-scheinung dieses öffentlichen Interesses war „eine der schärfsten, polemischsten und folgenreichsten innenpoli-tischen Auseinandersetzungen der deutschen Nachkriegs-geschichte“ (Herbert 2003: 299). In einigen Medien wur-den Asylbewerber mit Bezeichnungen wie ‚Asylant‘ oder

‚Wirtschaftsasylant‘ generell als Betrüger diffamiert, die nicht schutzbedürftig seien, sondern in Deutschland nur Sozialleistungen beziehen wollten (vgl. Herbert 2003).

Diese öffentliche Stimmung gipfelte schließlich in bren-nenden Asylbewerberheimen und anderen Mordanschlä-gen auf Asylbewerber und andere Zuwanderer.

Die außergewöhnlich hohe Zuwanderung nach Deutschland, aber auch der öffentliche und mediale Dis-kurs, der zu einer stärkeren Abschottung tendierte, beein-flussten auch die deutsche Migrationspolitik, die in den 1990er Jahren in einigen Punkten rigider wurde (Pries/

Pauls 2013: 6). Die wechselseitige Beeinflussung von Politik und Öffentlichkeit führte schließlich zu dem ‚Asyl-kompromiss‘ von 1993. Dieser löste das vormals ‚ultrali-berale‘ deutsche Asylrecht ab, das zu verstehen war als eine „historische Antwort auf die Aufnahme, aber auch Nichtaufnahme von im Nationalsozialismus Verfolgten im Ausland“ (SVR 2010: 75); je nach Sichtweise hat er dieses außergewöhnlich weit gefasste Asylrecht unnötig zerstört (so etwa Bade 1993: 21) oder mit den europäischen Vor-gaben kompatibel gemacht (tendenziell in diesem Sinne Joppke 1998).

B.6.2.4 ‚Ausländischer Mitbürger‘, ‚Einwanderer‘

und ‚Zuwanderer‘

Ende der 1970er Jahre waren die Arbeitsaufenthalte der

‚Gastarbeiter‘ schon zu großen Teilen in echte Einwan-derung übergegangen (SVR 2010). Mit zunehmender Verweildauer verfestigte sich ihr Aufenthaltsstatus, und schließlich wurde 1990 im Rahmen des Ausländergeset-zes (AuslG) ein Rechtsanspruch auf Einbürgerung einge-führt. Im öffentlichen Diskurs differenzierte sich dadurch die Begrifflichkeit für zugewanderte Bevölkerungsgrup-pen weiter aus; neue Bezeichnungen kamen auf, z. B.

‚ausländische Mitbürger‘ oder auch (bezogen auf die Eingebürgerten) ‚Einwanderer‘. Dabei verschob sich das Kriterium der Grenzsetzungen in der öffentlichen Diskus-sion allmählich von der Staatsbürgerschaft auf andere Merkmale wie die Herkunftsregion (Bauder 2006).

Etwa zeitgleich wurde der Begriff ‚Zuwanderer‘ ge-prägt und insbesondere im politischen Diskurs verwendet.

Er sollte u. a. darauf hinweisen, dass der Wanderungspro-zess auch umkehrbar ist, und damit möglicherweise auch

259 In der Koalitionsvereinbarung von CDU/CSU und FDP von 1982 heißt es dazu: „Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland. Es sind daher alle humanitär vertretbaren Maßnahmen zu ergreifen, um den Zuzug von Ausländern zu unterbinden.“

BEZEICHNUNGS- UND ZUGEHÖRIGKEITSPOLITIKEN

das Diktum des Nichteinwanderungslandes aufrechterhal-ten (Pries 2013a: 65). Die Inaufrechterhal-tention, die zu jener Zeit hin-ter der Verwendung dieses Begriffs stand, unhin-terscheidet sich maßgeblich von den Gründen, die den SVR veranlasst haben, in seinen Gutachten ebenfalls von Zuwanderung und Zuwanderern zu sprechen: Grundsätzlich spiegelt dieser Begriff den transnationalen Charakter und die Vor-läufigkeit von Migrationsprozessen besser wider als die Konkurrenzbegriffe ‚Einwanderung‘ oder ‚Einwanderer‘.

B.6.2.5 Wechselnde Bezeichnung der ‚Spät-/Aus-siedler‘: vom ‚Volkszugehörigen‘ zur ‚Person mit Migrationshintergrund‘

Die Zuwanderer, die Bade und Oltmer (1999) zutreffend als „[d]eutsche Einwanderer aus Osteuropa“ beschreiben und die als deutsche Volkszugehörige neu ins Land ka-men, wurden in den politischen Diskussionen der späten 1970er und frühen 1980er Jahre weder von der Öffent-lichkeit noch von politischen Entscheidungsträgern in migrations- und integrationspolitische ‚Problembeschrei-bungen‘ einbezogen. Das vorherrschende politische Ziel war, Heimat für ‚deutsche Volkszugehörige‘ zu sein, und dieses Ziel hatte bis kurz nach der Wiedervereinigung Deutschlands Bestand. Entsprechend konstant war die soziokulturelle wie staatsrechtliche Grenzziehung gegen-über anderen Zuwanderergruppen.260 Doch schon einige Jahre vor der Wiedervereinigung, gegen Ende der 1980er Jahre, veränderte sich auch die Haltung der Öffentlichkeit zu den Aussiedlern, die in immer größerer Zahl ins Land kamen.

Aussiedler waren ab 1957 deutschen Vertriebenen rechtlich gleichgestellt, damit erhielten sie automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit und umfangreiche staatlich finanzierte Eingliederungsmaßnahmen. Dass Flüchtlinge und Vertriebene besondere wohlfahrtsstaat-liche Leistungen genossen, galt als eine „Frage der soli-darischen nationalen ‚Schicksalsgemeinschaft‘ im Gefolge der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs“ (Bommes 2004:

16). Diese Solidaritätssemantik verlor aber nach dem Ende des Kalten Krieges zunehmend ihre Überzeugungs-kraft, und die Sonderbehandlung von Flüchtlingen und Vertriebenen wurde in der Öffentlichkeit immer weniger akzeptiert. Dadurch wurde auch „[d]ie rechtliche und po-litische Begründung für den Status als ‚Aussiedler‘ […]

zum innenpolitischen Streitpunkt“ (Herbert 2003: 276).

Ende der 1980er Jahre versuchte der damalige Aussied-lerbeauftragte des Bundes, die Debatten über die Legiti-mität dieser Sonderbehandlung durch eine bundesweite PR-Kampagne mit dem Slogan „Aussiedler sind keine

Ausländer“ (Bade 2007) zu beeinflussen. Dieses Motto illustriert plakativ, dass die Gräben in der deutschen Zuge-hörigkeitspolitik seinerzeit zwischen ‚Volkszugehörigen‘

und ‚Ausländern‘ verliefen.261

B.6.2.6 ‚Personen mit Migrationshintergrund‘ als statistische Hilfskategorie

Mit der Wiedervereinigung Deutschlands kann der Pro-zess der Nationalstaatsbildung als abgeschlossen be-trachtet werden. Zudem eröffnete sie grundsätzlich die Option, dass Deutschlands Status als Einwanderungsland allgemein akzeptiert würde (Joppke 1998; SVR 2010: 76).

Der Diskurs zu dieser Frage war jedoch so emotional und negativ aufgeladen, dass es noch zehn Jahre dauerte, bis sich dies in rechtlichen Maßnahmen niederschlug. Erst ab den späten 1990er Jahren wurde das Staatsangehö-rigkeitsgesetz geändert (s. Kap. B.4) und die Green Card eingeführt. Daran schloss sich ein Umbau des Zuwande-rungsrechts an, der anderthalb Jahrzehnte dauerte und in die Richtung ging, hoch qualifizierte bzw. allgemein für den deutschen Arbeitsmarkt als ‚geeignet‘ befundene Zuwanderer stärker zu privilegieren (SVR 2014: 72–77;

s. auch Kap. A.1). Durch all dies entstanden neue Kate-gorisierungen und Differenzierungsformen. Unabhängig von zugeschriebenen Merkmalen wie Ethnizität oder Re-ligion trat nun das Kriterium der Qualifikation in den Vor-dergrund (dazu allgemein Joppke 2005): Der Gegensatz zwischen ‚Hochqualifizierten‘ und ‚Niedrigqualifizierten‘

wurde politisch bedeutsam, denn daran wird der Nut-zen – und damit die Erwünschtheit – von Zuwanderern festgemacht.

Mit dem 2005 in Kraft getretenen Mikrozensusgesetz von 2004 wurde die Kategorie ‚Personen mit Migrati-onshintergrund‘ eingeführt, um Integrationsfortschritte und bestehende sozioökonomische Ungleichheiten bei bestimmten Zuwanderergruppen statistisch zu erfassen (vgl. Pries 2013a: 75). Der Zuwandererstatus wird in der offiziellen Statistik nun also – entsprechend dem interna-tionalen Trend – nicht mehr allein über die Staatsangehö-rigkeit definiert, sondern zusätzlich über das Geburtsland der Person selbst und das der Eltern. So werden nun auch deutsche Spätaussiedler und Eingebürgerte statistisch weiterhin als Personen mit Migrationshintergrund erfasst.

Der ‚Migrationshintergrund‘ als Merkmal für die sta-tistische Erfassung hat zwei Seiten. Unbestritten ist, dass dies eine echte Innovation gegenüber vorher ist, als le-diglich nach dem Pass zwischen Staatsbürgern und Aus-ländern unterschieden werden konnte. Die Erfassung des Migrationshintergrunds ist eine notwendige (wenn auch

260 Den Normalisierungsprozess, der nach der Wiedervereinigung einsetzte, hat u. a. der SVR (2010) ausführlich beschrieben.

261 Vor diesem Hintergrund ist es kaum überraschend, dass die Gruppe der Spät-/Aussiedler es nicht einhellig begrüßte, dass sie mit der Einführung der Kategorie ‚Migrationshintergrund‘ nachträglich als Zugewanderte klassifiziert wurde (Pries 2013a: 72).

BEZEICHNUNGS- UND ZUGEHÖRIGKEITSPOLITIKEN

INTEGRATIONSPOLITIK IM INTERNATIONALEN VERGLEICH keine hinreichende) Bedingung, um Ungleichheit und

Dis-kriminierung sichtbar zu machen, aber auch um Integra-tionserfolge zu dokumentieren. Es kann gezeigt werden, dass aus der sog. Ausländerstatistik die sozioökonomisch erfolgreichen Zugewanderten überdurchschnittlich oft

‚verschwinden‘, denn sie haben zugleich eine höhere Einbürgerungswahrscheinlichkeit und werden daher in Statistiken, die auf der Staatsbürgerschaft basieren, in ei-ner anderen Kategorie verrechnet. Durch diese nicht in-tendierte Selektivität wird das Diktum der gescheiterten Integration statistisch legitimiert.

Der Begriff hat aber auch eine Schattenseite, die ge-rade in den letzten Jahren zunehmend diskutiert wird: Er schreibt einer heterogenen Gruppe von Menschen eine gemeinsame Identität zu (vgl. z. B. Foroutan 2012; 2013;

Mecheril 2013; Elrick/Schwartzman 2015). Im Zentrum dieser Kritik steht, dass dieses Labeling die so bezeichnete Gruppe vom ‚Wir‘ abgrenzt, obwohl sie qua Staatsangehö-rigkeit zumindest teilweise ‚dazugehört‘. Dabei wird aus-drücklich anerkannt, dass dieses Kriterium Möglichkeiten für die Politik geschaffen hat, Teilhabe in den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens besser und ge-zielter zu fördern. Der Begriff, der eigentlich der neutralen statistischen Erfassung dienen sollte, hat sich nach Ansicht mancher Autoren aber mittlerweile verselbständigt und im politischen, öffentlichen und medialen Diskurs seine Wertneutralität verloren. Wie Scarvaglieri und Zech (2013) über eine linguistische Analyse zeigen, hat er im öffent-lichen Diskurs inzwischen eine negative Konnotation als Beschreibung einer Problem- bzw. Defizitgruppe.

B.6.2.7 Neue Bezugspunkte des ‚Wir‘: ‚Muslime‘

und ‚Armutszuwanderer‘

In den vielschichtigen Aushandlungsprozessen zur (Re-) Konstruktion von Zugehörigkeiten zeigt sich ein deutlicher Hang zur Wiederholung: „Migration und Integration wer-den von Generation zu Generation immer wieder pessi-mistisch betrachtet […]. Kennzeichnend ist dabei jeweils die Idee, daß frühere Einwanderungsbewegungen gut integrierbar und weniger problematisch waren und die aktuellen Migrationen im Gegensatz dazu gefährlich und schwer integrierbar seien“ (Thränhardt 2000: 8).

Wurde in den 1980er Jahren ein ‚Türkenproblem‘

wahrgenommen, entwickelte sich im neuen Jahrtau-send – parallel zu den Debatten in anderen europäischen Einwanderungsländern – eine Grenzziehung zwischen ei-nem ‚Wir‘ und ‚den Muslimen‘. Deren Religion wird in der säkularen westlichen Welt besonders seit dem 11. Sep-tember 2001 in der harmloseren Variante skeptisch als

‚unzeitgemäß‘, in der radikaleren Variante als

‚zivilisati-onsfremd‘ und ‚gefährlich‘ wahrgenommen. So wird der Migrant zum Muslim und der Muslim zum Sinnbild des problematischen Migranten (Spielhaus 2013).262

Der bisher Letzte in der Reihe der ‚Anderen‘ ist schließlich der osteuropäische ‚Armutszuwanderer‘ – die-ser Begriff musste 2013 dem verwandten Wort ‚Sozialtou-rismus‘ den Vortritt als ‚Unwort des Jahres‘ lassen. Insge-samt ist aber festzustellen, dass die Sensibilität für solche Bezeichnungen in der Bevölkerung zugenommen hat. Auf die Risiken, die mit der Beibehaltung oder Ersetzung des Begriffs ‚Migrationshintergrund‘ verbunden sind, wird am Ende des Kapitels detaillierter eingegangen.

B.6.3 Wer sind ‚die Anderen‘ in