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Erfahrungen in ausgewählten Ländern: keine ‚Blaupausen‘, aber Lernimpulse

B. Integrationspolitik im internationalen Vergleich

B.1 Ausgewählte bildungspolitische Ansätze

B.1.4 Erfahrungen in ausgewählten Ländern: keine ‚Blaupausen‘, aber Lernimpulse

Lernimpulse

Der Blick in die Niederlande, nach Schweden und nach England hat keine Allheilmittel ergeben. Der dor-tige Umgang mit zunehmend heterogenen Schüler-schaften liefert jedoch interessante Ausgangspunkte für bildungspolitische Diskussionen in den deutschen Bundesländern:

(1) Die große Bedeutung qualitativ hochwertiger früh-kindlicher Bildungsangebote für den späteren Bil-dungserfolg unterstreicht, wie wichtig es ist, Zu-gangsbarrieren zu senken bzw. zu beseitigen sowie

149 Eine kleine Gruppe sog. Trainingsschulen erhält seit 2001 zusätzliche Mittel, um innovative, praxisorientierte Lehrerausbildungsprogramme zu entwickeln (BMBF 2007: 226).

150 Untersuchungen in Deutschland deuten darauf hin, dass Studierende mit dem Berufsziel Lehrer oft schlechtere schulische Vorleistungen vorzuwei-sen haben als Studierende mit anderen Berufszielen (Trautwein et al. 2006; Spinath/Ophuyvorzuwei-sen/Heise 2005).

AUSGEWÄHLTE BILDUNGSPOLITISCHE ANSÄTZE

Elementar- und Primarbildung eng zu verzahnen.

Hier bietet die niederländische Kombination aus spielerischem Lernen und schrittweiser Heranfüh-rung an Bildungsinhalte ein interessantes Modell.

(2) Hervorzuheben ist weiterhin das schwedische Sprachkursangebot für Neuzuwanderer, das bereits seit den 1970er Jahren dafür sorgt, dass zugewan-derte Familien sich in der Gesellschaft und im Bil-dungssystem besser orientieren können.

(3) Angehende und bereits im Dienst stehende Lehr-kräfte benötigen eine gezielte Qualifizierung, um im Rahmen von Schule kompetent mit sprachlicher, sozialer und kultureller Vielfalt umzugehen. Das ist u. a. in England seit vielen Jahren der Fall.

In Deutschland hat die Kultusministerkonferenz 2013 Empfehlungen zur interkulturellen Bildung veröffentlicht (KMK 2013), in denen sie Schulen und die Bildungs-verwaltung auffordert, ihr Handeln an den jeweiligen sozialen, sprachlichen und geistigen Ausgangslagen der Schülergruppen zu orientieren und Lehrkräfte dem-entsprechend aus- und fortzubilden. Schritte in diese Richtung sind heute schon bundesweit zu beobachten (Karakaşoğlu/Gruhn/Wojciechowicz 2011: 19–25); aller-dings steht dieser Prozess erst am Anfang und ist noch längst nicht abgeschlossen. Trotz der zu verzeichnenden

Fortschritte in diesem Bereich fühlen sich zwei von drei Lehrkräften in Deutschland weiterhin nicht ausreichend darauf vorbereitet, sprachlich und kulturell heterogene Klassen zu unterrichten; das zeigt eine Umfrage unter Lehrern des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache (Becker-Mrotzek et al. 2012: 6).

Der Blick in das europäische Ausland verdeutlicht zudem das Problem zunehmender schulischer Segrega-tion, die vor allem die Bildungschancen von Schülern mit Migrationshintergrund beeinträchtigt (vgl. Bau-mert/Stanat/Watermann 2006: 134). Sie ist auch in deut-schen Großstädten zu beobachten: Hier besuchen knapp sechzig Prozent der Schüler mit Migrationshintergrund eine stark segregierte Grundschule mit einem Zuwande-reranteil von mehr als 75 Prozent.151 Wie niederländische Langzeitstudien zeigen, stehen segregierte Schulen oft vor Problemen, die sie aus eigener Kraft und mit den be-stehenden personellen und materiellen Ressourcen nicht lösen können (Luyten/Wolf 2011: 451–456). Um die Lern-möglichkeiten an solchen Schulen zu verbessern, wäre u. a. eine bedarfsgerechte Schulfinanzierung über Sozia-lindizes zu überlegen, wie sie z. B. in England oder hier-zulande in Hamburg und Bremen seit Jahren praktiziert wird. Sie sollte allerdings regelmäßig evaluiert werden.

151 Zum Vergleich: Bei den Schülern ohne Migrationshintergrund beträgt dieser Anteil nur ca. 8 Prozent (SVR-Forschungsbereich 2013c: 8).

INTEGRATIONSPOLITIK IM INTERNATIONALEN VERGLEICH Kapitel

B.2

Integrationsprogramme für Neuzuwanderer

Bis auf wenige Ausnahmen sind in den letzten Jahrzehn-ten alle westlichen Industrieländer zu Einwanderungslän-dern geworden. Sie betrachten Einwanderung als eine Möglichkeit, den demografischen Wandel abzufedern, also eine junge Bevölkerung und Humankapital für sich zu gewinnen. Einwanderung ist aber gesellschaftspoli-tisch kein konfliktfreier Selbstläufer. Die gesellschaftliche Eingliederung von Neuzuwanderern setzt eine entspre-chende gesellschaftliche Öffnung voraus. Damit die Zu-gewanderten Platz nehmen können, müssen die schon Anwesenden Platz machen. Integration ist in diesem Sinne immer ein zweiseitiger Prozess, und er hat auch etwas mit Verteilung und Umverteilung gesellschaftlicher Statuspositionen zu tun. Dieser Prozess kann und soll poli-tisch unterstützt und geregelt werden. Die zentrale Frage dabei ist, welche politische Strategie angemessen ist, um Zugewanderten die Teilhabe an den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu ermöglichen.

Deutschland gehört integrationspolitisch nicht gerade zu den Vorreitern: Ein bundesweit einheitliches und zen-tral koordiniertes Integrationsprogramm hat es erst mit dem Zuwanderungsgesetz von 2005 geschaffen (das in den Jahresgutachten 2010, 2013 und 2014 des SVR aus-führlich diskutiert wurde). In den meisten Einwanderungs-ländern steht die Integration von Neuzuwanderern schon länger auf der politischen Tagesordnung. Grundsätzlich haben sich in dieser Frage zwei konkurrierende Strategien etabliert, nämlich Multikulturalismus und Republikanis-mus. Sie bilden in mehr oder minder idealisierter Form die strukturelle Basis für politische Interventionen in den Prozess der Eingliederung von Neuzuwanderern und ihren Nachkommen.

Diese beiden grundlegenden integrationspolitischen Strategien, zwischen denen der Staat sich entscheiden muss, basieren auf gegensätzlichen Vorstellungen davon, wie Integration ablaufen soll und wie dieser Prozess be-einflusst werden kann: Die eine Strategie, die hier als Anerkennung von Differenz bezeichnet wird, will Zu-wanderern ermöglichen, sich auf der Basis ihrer eigenen (bzw. ihrer sozial konstruierten) kulturellen und religiösen Zugehörigkeit in die Aufnahmegesellschaft zu integrieren.

Das setzt einen sehr spezifischen Integrationsbegriff vor-aus und bringt unzweifelhaft Bruchstellen und

Reibungs-punkte mit sich. Dabei wird die (sozial konstruierte oder tatsächliche) Differenz zwischen Zuwanderern und Bevöl-kerung ohne Migrationshintergrund vom Staat nicht nur anerkannt, sondern auch aufrechterhalten und (finanziell wie ideell) gefördert. Bekannt geworden ist diese Stra-tegie unter dem Label ‚multikulturelle Politik‘, die Wright und Bloemraad (2012: 78, Übers. d. SVR) im kanadischen Kontext definieren als „spezifische Regierungspolitiken, die entwickelt wurden, um Vielfalt positiv anzuerken-nen und Minderheiten zu helfen, kulturelle und religiöse Praktiken beizubehalten und sie gleichzeitig ins öffentli-che Leben zu integrieren“. Ein wichtiger Bestandteil des Multikulturalismus ist somit eine Form von Kulturrelativis-mus: Bestimmte Wertvorstellungen und Lebensentwür-fe gelten als auf kulturelle Kontexte beschränkt, und es wird bestritten oder zumindest in Frage gestellt, dass sie generalisiert oder auf andere Kulturen übertragen wer-den können oder sogar müssen. Die Gesellschaft besteht aus verschiedenen Subgruppen, die nebeneinander und miteinander existieren, solange es einen gemeinsamen rechtlichen, politischen und symbolischen Überbau gibt.

Das Gegenmodell, das hier als Indifferenzstrategie bezeichnet wird, beruht auf dazu diametral entgegen-gesetzten Annahmen. Anstelle von Differenz und ihrer staatlichen Aufrechterhaltung und Förderung fokussiert es auf Förderung von Gleichheit (und damit von Indifferenz im wahrsten Sinne des Wortes). Gerade kultureller und religiöser Differenz, die im Multikulturalismus anerkannt wird, begegnen die betreffenden Staaten mit Indifferenz.

Entsprechend werden Neuzuwanderer vornehmlich als potenzielle Bürger des betreffenden Staates betrachtet, ihre kulturellen oder religiösen Zugehörigkeiten werden dabei nicht berücksichtigt (oder gar gefördert). Stattdes-sen wird von ihnen gefordert, sich anzupasStattdes-sen. Zusam-men mit einer staatlich garantierten Gleichbehandlung aller Bürger, die von bestehenden Unterschieden absieht, soll diese Anpassung die Teilhabe an den zentralen Be-reichen des gesellschaftlichen Lebens sicherstellen. In diesem Modell sind nicht nur die „öffentliche Förderung kollektiver Rechte von Zuwanderern und Minderheiten“

oder „politische Zugeständnisse an kulturelle Traditionen ethnischer Minderheiten“ (Wihtol de Wenden 1999: 70, Übers. d. SVR) unvorstellbar, sondern schon der Gedanke,

INTEGRATIONSPROGRAMME FÜR NEUZUWANDERER

ethnische Minderheiten auch nur separat statistisch zu erfassen (s. Kap. B.6). Im Gegensatz zum ‚kultursensiblen‘

Multikulturalismus agiert diese Strategie also ‚kultur- bzw.

ethnienblind‘. In der wissenschaftlichen Diskussion wird sie allgemein als Republikanismus bezeichnet (s. etwa Hollifield 2010 oder Finotelli/Michalowski 2012). Mit diesem ist also ein Kulturuniversalismus verbunden, der das Ausleben kultureller Unterschiede bzw. daraus resul-tierender unterschiedlicher Bedürfnisse auf den privaten Bereich beschränkt, während der öffentliche Raum als kulturell neutral gilt oder zumindest als universell in dem Sinne, dass dort einheitliche Werte gelten.

Weniger als Alternativmodell diskutiert denn als Anti-modell kritisiert wurde das ethnische Nationalstaatsmo-dell, das auch als ‚Gastarbeiter‘- oder Segregationsmodell bezeichnet wird und u. a. in Deutschland lange Zeit vor-herrschte: Eine Einbürgerung war hier über viele Jahre nur unter sehr strengen Bedingungen möglich (vgl. SVR 2014:

117), es gab keine staatliche Infrastruktur, um ‚Gastar-beitern‘ die Eingliederung zu erleichtern, und vor allem wurde in der offiziellen politischen Kommunikation mit dem Credo von Deutschland als Nicht-Einwanderungsland parteiübergreifend die Einwanderungsrealität geleugnet.

All dies verweist darauf, dass das Ziel der Politik weniger Integration im Sinne der Förderung gleichberechtigter Teilhabe war als vielmehr eine Segregation, die auch unter der Illusion gewählt wurde, dass die Zuwanderer irgendwann in ihre Herkunftsländer zurückkehren wür-den. Besonders deutlich wird die Zielsetzung der Politik daran, wie Deutschland mit den ‚Gastarbeiter‘-Kindern in der Schule umging: In den Beschlüssen der Kultusminis-terkonferenz (KMK) ging es zwar darum, wie die Schüler für die Zeit ihres Aufenthalts in Deutschland in die deut-sche Schule integriert werden können; bis in die 1970er Jahre hinein nahm daneben aber auch die Förderung und der Erhalt der muttersprachlichen Kompetenz breiten Raum ein. So hieß es im Beschluss der KMK vom 8. April 1976 (Fassung vom 26. Oktober 1979) ausdrücklich: „Es geht darum, die ausländischen Schüler zu befähigen, die deutsche Sprache zu erlernen und die deutschen Schulab-schlüsse zu erreichen sowie die Kenntnisse in der Mutter-sprache zu erhalten und zu erweitern. Gleichzeitig sollen die Bildungsmaßnahmen einen Beitrag zur sozialen

Ein-gliederung der ausländischen Schüler für die Dauer des Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland [Herv.

d. SVR] leisten. Außerdem dienen sie der Erhaltung ihrer sprachlichen und kulturellen Identität.“ Letzteres diente vor allem dem „Erhalt der Rückkehrfähigkeit“ der Kin-der (Langenfeld 2001: 35). Diesem Modell werden ne-ben Deutschland auch Österreich und die Schweiz zuge-rechnet. Ihm lag ausdrücklich kein multikulturalistischer Ansatz zugrunde, wie er weiter oben in diesem Kapitel beschrieben ist und etwa in den Niederlanden praktiziert wurde.

Diese Unterteilung in grundlegende Modelle der In-tegration bzw. des Umgangs mit Zuwanderung, die in der Literatur umfassend diskutiert wurde (vgl. dazu zu-sammenfassend Finotelli/Michalowski 2012), ist keines-wegs zu verstehen als eine akkurate Beschreibung der politischen Integrationsrealität in westlichen Einwande-rungsländern.152 Vielmehr gibt es unterschiedliche Aus-prägungen der einzelnen Strategien und Mischformen;

im Übrigen haben sich diese Formen im Zeitverlauf auch nachhaltig verändert. Die Einteilung in Modelle kann aber als analytische Schablone ein- und umgesetzt werden und bildet damit in vergleichenden Untersuchungen eine Heuristik für die Länderauswahl. Gerade für ein Land wie Deutschland erscheint im Sinne des ‚Lernens von ande-ren‘ nicht nur ein länder-, sondern auch ein modellüber-greifender Blick angebracht, denn es hat auf nationaler Ebene erst vor vergleichsweise kurzer Zeit Integration als politische Herausforderung erkannt und anerkannt, ent-sprechend könnte es in seiner Integrationsphilosophie noch wenig festgelegt sein.

Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden die derzeitigen Integrationsprogramme für Neuzuwanderer für vier Länder vergleichend dargestellt: zwei Länder, die dem multikulturalistischen Modell zugerechnet werden oder ehemals wurden (Kanada, Niederlande), ein repu-blikanisches Land (Frankreich) und ein Land, das für sei-ne Segregations- bzw. Rotationsstrategie kritisiert wurde (Schweiz). Um zu vermeiden, dass einfach die integrati-onspolitischen Idealtypen wiedergegeben werden, wird dabei besonders auf den Inhalt der Programme, deren organisatorische Gestaltung und die damit adressierte Gruppe eingegangen.

152 Entsprechend kritisch wird die Verwendung von Modellen in der vergleichenden Migrationsforschung gesehen. Bauböck (1998) verweist auf ihren idealtypischen Charakter; er räumt zwar ihren Nutzen für internationale Vergleiche ein, betont aber zugleich, dass länderspezifische Modellkon-zeptionen die gesellschaftliche Realität nur sehr eingeschränkt wiedergeben könnten (eine ähnliche Argumentation findet sich in von Oswald/

Schönwälder/Sonnenberger 2003 und Pettigrew 1998). Kritisiert wird zudem, dass diese Modellkonzeptionen statisch seien und einen Wandel der einzelnen Integrationspolitiken kaum erfassen könnten; die Ablösung eines Modells durch ein anderes – die empirisch möglich sei – werde damit nicht in Betracht gezogen (Thränhardt 1998; Bade/Bommes 2000): Wer einmal Modell x gefolgt sei, sei unausweichlich auf diesem Pfad gefangen.

INTEGRATIONSPROGRAMME FÜR NEUZUWANDERER

INTEGRATIONSPOLITIK IM INTERNATIONALEN VERGLEICH

B.2.1 Niederlande: vom Multikulturalis-mus zum model for Europe?

Zentral für die Strategie der Eingliederung von Neuzu-wanderern, die in den Niederlanden lange Jahre prakti-ziert wurde, war die Anerkennung von Differenz, die den Zuwanderern eine „Integration aus der eigenen Identität heraus“ (Michalowski 2007: 10) ermöglichen sollte. Sie materialisierte sich politisch darin, dass eine intraethni-sche Infrastruktur in Form von „ethnisch konstituierte[n]

Beratungsgremien für die Regierung“ staatlich gefördert wurde, und in der „Finanzierung eigener Radio- und Fern-sehsendungen oder auch [der] Gründung eigener Schu-len“ (Michalowski 2007: 10). Der Staat wollte Gleichheit zwischen Allochthonen und Autochthonen153 (s. umfas-send zu den Begriffen Kap. B.6) herstellen, indem er kul-turelle und religiöse Unterschiede zwischen Zuwanderer- und Mehrheitsbevölkerung explizit anerkannte und die Aufrechterhaltung kultureller Identitäten finanziell förder-te.154 Der in den Niederlanden gewählte Weg erscheint von allen entsprechenden Ländern am besten geeignet, um die Besonderheiten einer multikulturellen Strategie der Eingliederung von Zuwanderern deutlich zu machen.

Denn als „gleichsam […] unüberbrückbare Vermittlungs-instanz […] zwischen Individuum und Gesellschaft“

(Bade/Bommes 2004: 12) und als zentrales Integrati-onsinstrument fungierten in den Niederlanden ethnische und kulturelle Organisationen und Gemeinschaften, die ihrerseits vom Staat finanziell und ideell gefördert wur-den. Die Integration von Zuwanderern folgte damit einem historisch etablierten Modus der Integration von Minder-heiten. Zentrale Metapher dafür ist das Konzept der ‚Ver-säulung‘. Es beschreibt eine politische Strategie der Nie-derlande, für die im Prozess der Nationalstaatsbildung die Zugehörigkeit zu einer religiösen bzw. weltanschaulichen Gruppe gewissermaßen konstitutiv ist: Der Staat stellte eine Infrastruktur bereit, die den einzelnen Minderheiten (für die Niederlande sind das konkret Katholiken, Protes-tanten, Liberale und Sozialisten) ermöglichen sollte, ihre jeweiligen kulturellen Eigen- und Besonderheiten auf-rechtzuerhalten (Doomernik 2013: 86). Es lag nahe, dass die Niederlande auf einen vertrauten und scheinbar

be-währten Integrationsmechanismus zurückgreifen, um die im Zuge von Kolonial- und ‚Gastarbeiter‘-Zuwanderung ins Land gekommenen ‚neuen Minderheiten‘ einzugliedern, und dass sie diesen über die Finanzierung der angespro-chenen ethnischen Infrastruktur die Basis für eine eigene Säule zur Verfügung stellen. Entsprechend materialisierte sich der niederländische Multikulturalismus de facto in einer Strategie der Integration durch Trennung der Le-benswelten.

Der niederländische Weg der Integration von Neuzu-wanderern galt lange Jahre als vorbildlich (Böcker/Thrän-hardt 2003). Doch um die Jahrtausendwende geriet er in eine tiefe Krise, hervorgerufen durch seine unerwarteten und auch ernüchternden Ergebnisse: Entgegen der eige-nen Erwartung führte das niederländische Modell nicht zu Gleichheit und einer schnellen Eingliederung von Zuwan-derern, vielmehr brachte es mehr Ungleichheit und Mar-ginalisierung hervor – selbst im Vergleich zum kritisierten deutschen Antimodell (s. bereits Rath 1996; Entzinger 1998; Koopmans 2002; Böcker/Thränhardt 2003).155 So konnte das Modell auch den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien wie der Liste Pim Fortuyn oder der von Geert Wil-ders gegründeten ‚Freiheitspartei‘ nicht verhindern, ganz im Gegenteil: Das Scheitern der ‚multikulturellen‘ Posi-tion, Zuwanderer durch lebensweltliche Separierung zu integrieren, wurde parteipolitisch zum Thema gemacht.

Vor diesem Hintergrund beschloss die niederländische Regierung, ihre Politik radikal zu ändern, und führte als erstes Land in Europa obligatorische Integrationskurse für Neuzuwanderer ein: Nach langer Diskussion wurde 1998 das Gesetz zur staatsbürgerlichen Integration von Neuankömmlingen (Wet Inburgering Nieuwkomers, WIN) verabschiedet, das Neuzuwanderer verpflichtete, einen Sprach- und Gesellschaftskurs mit ca. 600 Stunden zu absolvieren.156 Bei Nichtkooperation konnten Bußgelder verhängt oder Transferleistungen gekürzt werden, dies war aber nicht zwingend vorgeschrieben. Die Kurskosten von ca. 6.600 Euro pro Teilnehmer wurden vollständig vom niederländischen Staat übernommen. Diese staat-liche Subventionierung endete allerdings bereits im Jahr 2002. Stattdessen wurden die Kurse vollständig privati-siert, und die Kurskosten mussten nun die Teilnehmer

153 Autochtoons (altgriechisch für ‚bodenständig, eingeboren, alteingesessen‘) und allochtoons (altgriechisch für ‚fremd, auswärtig‘) sind die nieder-ländischen Termini zur statistischen Erfassung von Personen mit und ohne Migrationsgeschichte.

154 Als ein besonders plastisches Beispiel für den niederländischen Ansatz der Förderung von Differenz beschreibt Koopmans (2010: 7, Übers. d. SVR) Projekte niederländischer öffentlicher Wohnungsbaugesellschaften: Hier wurde bei Neubauten darauf geachtet, dass der Toilettensitz nicht nach Mekka ausgerichtet ist; außerdem war eine „Trennung privater und ‚öffentlicher‘ Bereiche im Apartment mit der Küche in der Mitte“ vorgesehen,

„was es den Frauen ermöglichte, die Männer im ‚öffentlichen‘ Teil des Hauses zu bedienen, ohne von ihnen gesehen zu werden“.

155 Dabei spielt auch eine Rolle, dass die religiöse Komponente der Identität (der Zuwanderer) unter Umständen erst in der Migration auffällig oder bedeutsam wird; durch Verstärkung dieses Aspekts werden möglicherweise Unterschiede zwischen Allochthonen und Autochthonen vergrößert und zementiert. Darüber hinaus ist die Religion der Zuwanderer im niederländischen Kontext zwar relevant (Muslime aus Marokko und der Türkei), aber kein allgemeines Orientierungskriterium für die Berücksichtigung kultureller Differenzen.

156 Von der Teilnahmepflicht ausgenommen sind lediglich Studierende und Zeitarbeitskräfte. Bürger der Europäischen Union, des EWR, der Schweiz und der USA, die aus anderen Gründen als zur Familiengründung oder -zusammenführung ins Land kommen, sind ebenfalls nicht verpflichtet, an einem Kurs teilzunehmen.

INTEGRATIONSPROGRAMME FÜR NEUZUWANDERER

allein tragen; im Gegenzug wurde die Teilnahme freige-stellt (Doomernik 2013: 91; Strik 2014: 263). Verpflich-tend blieb allerdings der Integrationstest, der aus einer Sprach- und einer Gesellschaftskomponente besteht und den bestimmte Gruppen bereits im Herkunftsland able-gen müssen.

Aktuell besteht das niederländische Integrations-programm somit aus zwei Teilen: einem bereits im Her-kunftsland abzulegenden Test und einer Komponente, die bei einem Statuswechsel oder der Aufenthaltsverfes-tigung in den Niederlanden zu absolvieren ist. Den Test im Herkunftsland müssen grundsätzlich alle Zuwanderer aus visapflichtigen Herkunftsländern ablegen, deren Al-ter zwischen Volljährigkeit und Rentenantritt liegt. Aller-dings gibt es zahlreiche Ausnahmen, etwa für türkische Staatsbürger, Universitätsabsolventen, Personen, die als Arbeitnehmer oder Au-pair oder über Austauschpro-gramme einreisen etc. De facto ist der Sprachtest somit eine Maßnahme, um die Familienmigration zu steuern.

Während die Integrationsvoraussetzungen für den Fami-liennachzug, die 2007 in Deutschland eingeführt wurden, sich für den Nachziehenden darauf beschränken, einfa-che Sprachkenntnisse auf dem Niveau A1 nachzuweisen (s. dazu ausführlich Kap. A.3), sind in den Niederlanden drei Testkomponenten vorgesehen, die im Folgenden nä-her erläutert werden: ein Wissenstest über die niederlän-dische Gesellschaft (Kennis van de Nederlandse Samen-leving, KNS) und ein Niederländischtest, der aus den zwei Komponenten Sprechen – Gesproken Nederlands (TGN) – und Lesen/Leseverständnis – Geletterdheid en Begrij-pend Lezen (GBL) – besteht.

(1) Die Fragen zum KNS beziehen sich auf einen Film (Naar Nederland), der in vielen Sprachen157 vfügbar ist und den die Testabsolventen als DVD er-halten. Sie werden von einem Sprachcomputer, der in der Botschaft im entsprechenden Herkunftsland aufgestellt ist, auf Niederländisch gestellt und sind auf Niederländisch zu beantworten. Die Teilnehmer müssen aus einer Liste von 100 Fragen, die ihnen vorliegt, 30 Fragen beantworten. Der Film ist umstrit-ten, u. a. weil er Szenen wie barbusige Frauen oder sich küssende Homosexuelle zeigt, die von offizieller Seite und von den Machern des Films als typisch für die Niederlande eingeschätzt werden (Doomernik 2013: 97).158 Kritiker der niederländischen Entwick-lung sehen darin – durchaus mit einiger Berechti-gung – einen Versuch kultureller Assimilierung oder gar Überwältigung, der in einer liberalen Gesellschaft unzulässig ist, bzw. einen platten Versuch, die

‚nie-derländische Kultur‘ auf solche vorgeblich ‚typischen‘

Elemente zu reduzieren.

(2) Der Sprachtest TGN ist ebenfalls per Sprachcompu-ter zu absolvieren. Hier müssen die Teilnehmer ihre Fähigkeit nachweisen, sich im Niederländischen auf dem Niveau A1 des gemeinsamen europäischen Re-ferenzrahmens für Sprachen mündlich auszudrücken.

(3) A1 ist auch das Referenzniveau für den GBL, der das Lese- und Textverständnis misst. Die Teilneh-mer müssen dabei wiederum vor einem Computer Sätze auf Niederländisch vervollständigen bzw. er-gänzen sowie eine auf einen Text bezogene Frage beantworten.

Alle Teile des Kurses können beliebig oft wiederholt wer-den, allerdings wird dann eine Gebühr von 350 Euro fäl-lig. Darüber hinaus fallen für das Vorbereitungsmaterial Kosten von etwas über 100 Euro an.

Alle Teile des Kurses können beliebig oft wiederholt wer-den, allerdings wird dann eine Gebühr von 350 Euro fäl-lig. Darüber hinaus fallen für das Vorbereitungsmaterial Kosten von etwas über 100 Euro an.