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Deutschlands Mittelweg zwischen statistischer Negation und exzessiver Ausdifferenzierung

B. Integrationspolitik im internationalen Vergleich

B.6 Bezeichnungs- und Zugehörigkeitspolitiken

B.6.4 Deutschlands Mittelweg zwischen statistischer Negation und exzessiver Ausdifferenzierung

ex-zessiver Ausdifferenzierung

Ein Vergleich der Bezeichnungspolitiken von Deutsch-land und anderen Einwanderungsländern mit anderen soziopolitischen Bedingungen zeigt, dass Deutschland in dieser Hinsicht eine Mittelposition zwischen den Ex-trempolen Frankreich und Großbritannien einnimmt:

Im republikanischen Frankreich wurde auf die Integrati-onskraft der französischen citoyenneté vertraut und die Erfassung ethnischer Vielfalt und Unterschiede tabuisiert;

dementsprechend zeichnet sich das Land durch weitge-hende bezeichnungspolitische Abstinenz aus. Angesichts der normativen Überzeugung, dass es in Frankreich keine Benachteiligung gebe(n könne), die an der ethnischen Zugehörigkeit festzumachen wäre, erscheinen entspre-chende statistische Erhebungen überflüssig oder gar dem Ziel gesellschaftlicher Kohäsion abträglich. Großbritannien

Info-Box 4 Fragebogen des amerikanischen Zensus 2010

Die Einstiegs- und erste Filterfrage im Zensus von 2010 bezog sich auf die Herkunft und lautete: „Ist diese Person hispanischer, Latino- oder spanischer Herkunft?“ Mögliche Antworten waren:

– „Nein, nicht hispanischer, Latino- oder spanischer Herkunft – Ja, mexikanisch, mexikanisch-amerikanisch, Chicano – Ja, puertoricanisch

– Ja, kubanisch

– Ja, andere hispanische, Latino- oder spanische Herkunft (Herkunft in Druckschrift schreiben, z. B. argentinisch, kolumbianisch, dominikanisch, nicaraguanisch, salvadorianisch, spanisch usw.: …)“

Darauf folgte die Frage: „Was ist die Rasse dieser Person?“ Hier sollten eine oder mehrere der folgenden Ant-wortmöglichkeiten angekreuzt werden:

– „weiß

– schwarz, afroamerikanisch oder ‚negro‘

– amerikanisch-indianisch oder Alaska-Ureinwohner (Stamm in Druckschrift schreiben: …) – asiatisch-indisch

– chinesisch – Filipino – japanisch – koreanisch – vietnamesisch

– sonstige asiatische (Rasse in Druckschrift schreiben, z. B. Hmong, Laote, Thai, Pakistani, Kambodschaner usw.: …)

– hawaiianischer Ureinwohner – Guamanianer oder Chamorro – Samoer

– sonstiger pazifischer Insulaner (Rasse in Druckschrift schreiben, z. B. Fidschianer, Tongaer usw.: ….) – irgendeine andere Rasse (Rasse in Druckschrift schreiben: …)“

Quelle: US-Zensus, zitiert nach Humes/Jones/Ramirez 2011: 1, Übers. d. SVR

BEZEICHNUNGS- UND ZUGEHÖRIGKEITSPOLITIKEN

unterscheidet sich davon diametral; gegen Frankreichs zurückhaltende Bezeichnungspolitik erscheint das Land geradezu aktionistisch: Es verfolgt sein Ziel, möglichst ge-naue Informationen über Prozesse der Vermittlung gesell-schaftlicher Teilhabe zu gewinnen, indem es die Zuschrei-bungskategorien stetig erweitert und ausdifferenziert.

Die unterschiedlichen Vorgehensweisen der einzelnen Staaten sind eng mit den jeweils historisch bedingten Strukturen nationalstaatlicher Verfasstheit verknüpft und müssen auch vor diesem Hintergrund betrachtet werden.

Auch darum ist für Deutschland weder der franzö-sische noch der britische oder der US-amerikanische Weg im Sinne des ‚Lernens von anderen‘ eine attrak-tive oder auch nur gangbare Alternaattrak-tive. Im Zentrum der deutschen Bezeichnungspolitik steht das noch vergleichsweise junge statistische Merkmal des Mi-grationshintergrunds. Dieses war bei seiner Einführung 2004/05 zunächst auch von Migrationsforschern begrüßt worden, als überfällige Ergänzung der bis dahin alterna-tivlosen Unterscheidung nach Staatsangehörigkeit. Als statistisches Ordnungskriterium erfüllt es eine wichtige politische Funktion, denn es kann Prozesse der Teilhabe an gesellschaftlichen Bereichen im Einwanderungsland Deutschland weitaus differenzierter transparent machen als die vorherige Unterscheidung allein nach Pass.

Der Begriff ist aber nicht unproblematisch, denn er greift zum Teil über mehrere Generationen in die Ver-gangenheit zurück und verleiht das Label ‚Migrations-hintergrund‘ auch Menschen, für deren soziale Realität es keine Bedeutung mehr besitzt. Personen, die mit diesem Etikett versehen werden, könnten dies als dis-kriminierend wahrnehmen, vor allem wenn das Merkmal im öffentlichen Diskurs vorwiegend oder ausschließlich mit Problemen oder Defiziten assoziiert wird. Qualitative Studien zeigen, wie Fremd- und Selbstzuschreibung zu-sammenhängen und wie z. B. bei Jugendlichen die fort-gesetzte Konfrontation mit der Positionierung als ‚Ande-re‘ den Identitätsbildungsprozess beeinträchtigt (Riegel/

Geisen 2007). Auch andere Autoren erheben Einwände gegen den Terminus ‚Migrationshintergrund‘, weil er zu neuen Unterscheidungen führe (vgl. die Beiträge in Me-cheril et al. 2013). Entsprechend zeichnet sich im offiziel-len Regierungskontext aktuell ein Paradigmenwechsel in

der Bezeichnungspolitik ab: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge etwa wirbt in seiner aktuellen Selbstdar-stellung im Social Web mit dem Slogan „‚Die Anderen‘

gibt es nicht. Es gibt nur uns“.267

Der SVR nimmt diese Einwände gegen die Grund-lage der deutschen Bezeichnungspolitik ernst, plädiert allerdings dennoch dafür, Merkmale wie den ‚Migrati-onshintergrund‘ in der amtlichen Statistik (weiterhin) zu erheben. Denn sie sind notwendig, um systematische Benachteiligungen zu identifizieren, die im Zusammen-spiel von Migration und gesellschaftlicher Teilhabe be-stehen können. Wenn Politik und Zivilgesellschaft sich mit den tatsächlichen Strukturen und Dynamiken von Teilhabechancen und von Zugehörigkeitserfahrungen be-schäftigen wollen, kommen sie ohne solide Daten nicht aus. Wenn bestimmte soziale Gruppen gesellschaftlich diskriminiert werden, allein aufgrund von Merkmalen, die auf die Herkunft aus anderen Ländern, auf die Zugehörig-keit zu bestimmten Kulturen, Ethnien oder Religionsge-meinschaften verweisen, kann dies ohne entsprechende evidenzbasierte Studien nicht wissenschaftlich analysiert und gesellschaftspolitisch bearbeitet werden. Alle in-ternationalen Erfahrungen, die in den vorausgehenden Abschnitten herangezogen wurden, zeigen, dass Etiket-tierung und Diskriminierung auch – oder gerade – dann stattfinden können, wenn es keine wissenschaftlich ab-gesicherte Datengrundlage gibt, denn dadurch wird Spe-kulationen über bestimmte Gruppen und ihre (angebli-chen) sozial relevanten Merkmale Tür und Tor geöffnet.268 Dabei teilt der SVR die Position von Hollinger (2005: 236), dass amtliche und auch wissenschaftliche Merkmalsdefi-nitionen und Datenerhebungen nur dazu dienen (sollten),

„historisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen vor den Effekten vergangener und gegenwärtiger Diskriminierung zu schützen“ und die unterschiedlichen Kulturen inner-halb eines Landes – und oft sogar innerinner-halb der einzelnen Personen – wahrzunehmen und anzuerkennen. Dieses Plädoyer für den Erhalt des statistischen Merkmals geht einher mit dem Bekenntnis, dass es notwendig ist, jen-seits dieser Bezeichnungen eine Sprache oder eine Be-grifflichkeit für die Gesellschaft im Einwanderungsland Deutschland zu finden, die Bundespräsident Joachim Gauck 2014 als „neues deutsches Wir“ bezeichnet hat.

267 https://de-de.facebook.com/bamf.socialmedia, 23.01.2015

268 So zeigt beispielsweise eine jüngst vom SVR-Forschungsbereich vorgelegte Kurzinformation, dass die Zahl der in Deutschland lebenden Muslime abhängig vom Bildungsniveau der Befragten teilweise deutlich überschätzt wird (SVR-Forschungsbereich 2014b).